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3. Älterwerden

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Auch in den nächsten Tagen geht man nicht gut mit Johanna um, wie er beobachten kann. Man gafft sie an wie ein wildes Tier. Wie allen der Geifer aus den Mündern schwappt! So befingert man die Jungfrau, wieder und wieder. Vor allem Jeannotin Simon, dem Schneider, scheint es große Freude zu bereiten, mit seinen Händen an ihr herumzuwerken. Johanna ist empört, schreit laut auf, knackt mit dem Kiefer. Eine Bestie ist sie, die schnaubt und um sich stößt. Das hören auch die Soldaten und treiben daraufhin umso mehr ihre Scherze mit ihr.

»Eine Ohrfeige hast du dem Schneider gegeben, Kleines?«, hänseln sie sie. »Na, dann versuch’s mal mit uns!«

So tönt es im Kellergewölbe. Und er, Loyseleur, ist Zuschauer, ist Beobachter, der auslotet. Die Soldaten also. Vor ihnen scheint Johanna, im Gegensatz zum Schneider, Angst zu haben. Er kann es genau sehen. Wie ihre Augen rollen, wie sie innerlich aufzuckt, wenn sie vor der Kammer stehen. Durch ein Loch in der Wand, das der Bischof für ihn angefertigt hat, kann er stets einen Blick in die Zelle der Jungfrau werfen. Nun sieht er sie zittern. Denn sie weiß: Stets könnten die Soldaten eindringen, Johanna verletzen, ihr wehtun. Er betrachtet die Jungfrau. Müde scheint sie zu werden, zerrt jeden Tag weniger an den Ketten, ja, eine Art Lähmung scheint sich in ihr breitzumachen. In den nächsten Verhandlungen befragt man sie wiederholt zu den Erzengeln.

»Wie sieht der heilige Michael aus?«, will der Earl von Warwick, ein hagerer Mann mit scharfem, stechendem Blick und einer grob hervortretenden Hakennase, wissen.

»Hell«, entgegnet Johanna.

Doch das reicht Warwick und Cauchon, Bischof von Beauvais, freilich nicht als Antwort.

»Und die Haare?«

»Engel und Haare?«, entgegnet die Jungfrau zweifelnd.

Da beginnt das Priesterpack sofort, sich darüber zu empören.

»Sollte ein Engel nicht Haare haben?«, tönt es und in dem Gerichtssaal werden die Stühle und Tische verrückt, wühlt das Denken in den Gesichtern. Alles Idioten, denkt Loyseleur. Die Jungfrau ist eingeschüchtert. Seltsam, aber es ist, als gehe ihr diese Frage wirklich zu Herzen, überlegt er.

»Ich weiß nicht!«, murmelt die Jungfrau da.

Langsam scheint sie an Kraft und Stärke zu verlieren, es fällt ihm auf. Ja, Johanna beginnt zu stammeln, zu stottern. Ihre Stimme strauchelt.

»Und andere Körperteile?«, fragt man sie.

Müde flackert ihr Gesicht auf. Loyseleur will nach ihren Handgelenken greifen, mit einem Mal tut ihm die tierische Jungfrau leid.

»Was?«, fragt etwas blass aus Johanna heraus.

»Hast du andere Körperteile gesehen?«, will Cauchon wissen.

Johanna blinzelt.

»Von wem?«

»Na, von den Heiligen!«, entgegnet Warwick und lacht schallend.

Er merkt, wie der Jungfrau nach und nach rötliche Farbe ins Gesicht schießt. Zornig bricht es da wieder aus ihr hervor, als wäre ihre Kraft zurückgekehrt:

»Ich habe euch alles gesagt, was ich weiß. Anstatt das zu tun, hätte ich aber eigentlich lieber, dass ihr mir den Kopf abschlagt!«

Cauchon schweigt mit offenem Mund. Diese Aussage ist sogar einem Priester zu viel.

»Und hast du sie gesehen?«, will Warwick nun wissen.

Die Magd nickt, und das Haar fällt ihr schmutzig und strähnig ins Gesicht.

»Ja, mit Augen. Und es roch süß!«, sagt sie trotzig.

»So wie jetzt meine Hand?«, meint hänselnd einer der Soldaten und beginnt, während er sich die Lippen leckt, über ihren Mund zu streichen. Johanna spuckt aus. Ein Hieb vom Wärter reicht jedoch, dass sie den Kopf einzieht.

»Gewiss doch!«, sagt Johanna, mit einem Mal leise und sanft, »und als Ihr mich verließt, weinte ich, denn ich sehnte mich danach, dass Ihr mich zu euch nehmen würdet!«

Cauchon nickt, sein Doppelkinn wabbelt.

»Sie sind kein Engel!«, sagt Johanna, aus der nun eine Stärke und Helligkeit dringt, die nichts mehr mit ihrer eben noch tierischen Gebärde gemein hat. »Denn ich kenne die Engel. Ich habe sie gesehen, ja, mit meinen eigenen Augen. Und ich glaube so fest daran, dass es Engel waren, wie ich daran glaube, dass Gott lebt.«

Dass die Großmutter eine besondere Frau, ja gleichsam eine gute Hexe, ist, lernt Johanna mit den Jahren. Für die Heilung hat sie stets Kräuter bereit, die sie im Wald sammelt.

»Warum lässt du dich nicht von einem Arzt behandeln?«, fragt Johanna einmal, als die Großmutter an hartnäckigem Keuchhusten leidet. Eisuhren scheinen in ihr zu wandern, wenn es in ihrer Brust rasselt. Johanna hat Angst um die Großmutter.

»Weil der Körper sich selbst heilt. Der weiß schon, wie!«, sagt die Großmutter.

»Bist du sicher?«, fragt Johanna.

»Gott hat mir einen klugen Kopf gegeben«, entgegnet die Großmutter, »und dir auch!«

Und so ist es – die Großmutter wird wieder gesund und die Zeiten verstreichen. Hin und wieder kommt dennoch eine große Traurigkeit über das Kind. Dann legt es sich in das Bettchen der weichen Moospölster und hofft auf Gott, der sie als lautlose Stimme umgibt. Vor allem im Herbst ist Johanna traurig, denn dann tanzen die Mädchen seltener um den Feenbaum. Aber im Frühling, weiß Johanna, kommen die Maiglöckchen wieder, dann wird alles besser! So beruhigt sie sich. Im Herrn lässt sie sich wiegen. Der Herr ist nämlich groß, hat der Dorfpfarrer gesagt. Der Atem des Herrn ist eine Schaukel. Darin schläft sie schließlich ein und erwacht mit neuem Mut.

Die anderen Mädchen sind schön wie Rosen. Johanna aber hat eine Stimme, die in ihrem Inneren klingt, weiß sie. Doch für diese Stimme muss sie allein sein. Sie ist ein Seil zwischen ihr und dem Himmel, sie bindet sie an die Welt an. Sie muss die Stimme finden. Sie streift umher, wandert weit, dorthin, wo sanft das Tal sich verengt und eine Schwere sich auf die Landschaft senkt, tiefer und tiefer. Wo der liebe Gott als Licht durch die Bäume hindurchschimmert, durch das schmale Flussbett eilt, so, als rufe er Johanna. Er kommt sie besuchen, zuerst nur leise. Ein inneres Klingen. Sie sucht ihn manchmal in der Muttergottes, für die jemand eine Kapelle errichtet hat. Dort auf dem Berg in der Nähe des Feenbaumes. Der Berg ist heilig, die Wolken beben. Johanna möchte verloren gehen in der Landschaft. Sie liebt die Tauben mit den Halskrausen, die sie aufplustern. Erst viel später wird sie Menschen kennenlernen, die das auch tun. Prinzen und Könige, Soldaten und Bischöfe. Doch jetzt ist Johanna noch Kind und findet in sich die Stimme. Hin und wieder sitzt sie mit der Großmutter am Wasser. Dann betrachten sie die Wellen, wie sie durcheinanderwirbeln, weiterfließen bis hinein in den Kessel des Tals. Die Fische schimmern durch die Tiefe hindurch, sind schillernde Leibe, klein und behände, sie eilen wie der Wind, sind von ihm nicht zu unterscheiden.

»Die Fische, schau, Johanna!«, sagt die Großmutter und lacht.

Johanna nickt.

»Ich sehe sie kaum!«

»Ja, sie sind vom Strom nicht zu trennen! So wie der Mensch nicht von Gott!«, kommt es zur Antwort.

»Woher dann aber die Angst, Großmutter?«

Die Großmutter lächelt und ihre Augen werden Halbmonde. Silbrig glitzern die Leiber im Wasser, die stromlinienförmig schnellen. Die Großmutter wirft mit den Brotsamen nach ihnen. Mit jenen, die nicht für die toten Seelen sind. Eine Antwort kann sie Johanna nicht geben. Und auch der Gott in Johannas Kopf schweigt.

So vergehen die Jahre, in denen Johanna die Tiere auf die Weide treibt. Eine willige Arbeiterin ist sie. Manchmal, als sie älter wird, steht sie auch einfach nur da, schwer wie ein Stein. Ein Klumpen ohne Inneres. Johanna lauscht und wartet auf Gott. Darauf, dass er sich offenbart. Manchmal lässt er sie lange warten. Manchmal sogar einen ganzen Sommer lang. Johanna steht dann am Fuße des Feenbaums, wartet und horcht.

Im Sommer brennt die Sonne auf die Erde herab. Sie droht auseinanderzubrechen, denkt Johanna, wie Scheite im Feuer. Jeder flieht in den Schatten, alles welkt, wird dürr und trocken. Der Speichel im Mund. Lange Streifen sind die Lichter, die erst wandern, wenn es Nacht wird. Johanna ist dann dankbar über jede Wolkenwand, über jeden Blitz, der den Himmel aufreißt. Gott grollt im Sommer auch als Donner. Und wie niedrig die Schwalben fliegen! Sie fürchten sich, sie wissen Bescheid. Blitz um Blitz fügt die Natur sich dem göttlichen Willen und erbebt in ihrem Leid. Der Wind jagt dahin als böser Geist. Doch er reinigt auch. Deshalb schickt Gott das Böse. Dass alles neu wird im Sturm. So zerspaltet er die Bäume, die die Wiesen beschützen. Andere müssen nachwachsen! Johanna trauert. Doch sie weiß, dass das alles nur aus der Nähe so weh tut. Gott sieht mehr, er hat einen großen Plan. So wartet Johanna, lautlos. Sie wartet, bis es Herbst wird.

Mit der Kühle kommt die totale Erschöpfung. Die Sommer sind heiß gewesen, Libellen flogen über dem Wasser und klebten aneinander, Johanna ging nicht mehr fort aus dem Nass des Teichs, so heiß war es. Jetzt aber lässt sich nicht mehr schwimmen. Es treiben, durch das Nass aufgelöst, Blätter auf der Wasseroberfläche. Transparente Strukturen. Die Luft säuselt.

»Wo bist du, Gott?«, ruft Johanna.

Es ist Herbst und Gott schweigt. Er schickt bloß Wind, viel Wind. Und dann einmal kurz ein inneres Klingen. Schnell aber ist es wieder verschwunden, wie eine Luftspur nur. Und mit dem Wind kommt das Älterwerden. Johannas Hände wachsen. Mit den Jahren wird sie immer trauriger. Grau ist der Himmel. Johanna arbeitet am Feld, kümmert sich um die Schafe und sieht, wie sie geschlachtet werden. Johanna weint. Der Tod ist stark, das Leben zerbrechlich, denkt Johanna. Doch wir haben eine Pflicht dem Leben gegenüber. Nachdenklich einen Käfer betrachtend, der am Rücken liegt und den Ameisen das Fleisch wegreißt, wird Johanna aufgebracht.

»Wie gemein!«, ruft sie aus.

»Weine nicht!«, sagt die Großmutter da.

»Warum nicht?«, fragt Johanna trotzig. »Alles stirbt. Siehst du es nicht? Auch mein Lieblingsschaf hat der Vater tot gemacht letzte Nacht.«

Die Großmutter lacht.

»Du hast doch selbst gewusst, was dich erwartet. Hättest du es eben nicht liebgewonnen!«

Johanna schüttelt den Kopf.

»Nein, das ist keine Lösung!«

»Siehst du«, sagt die Großmutter, »es ist ein Preis, den man zahlen muss, oder?«

Sie schweigt.

»Aber was tun jetzt?«

»Es geduldig ertragen, du, mein kleiner Schatz!«, entgegnet die Großmutter und drückt ihr einen Kuss auf die Wangen. Johanna sieht sie an und ihr fällt auf, wie alt und dünnhäutig sie mit den Jahren geworden ist. Leicht, papieren. Nur noch Luft. Sie verschwindet langsam, wie eine Feder. Sie wird begraben sein, du wirst auf ihr gehen, denkt Johanna. Denn das Auge der Großmutter ist schon ganz offen und leer. Die Mädchen um sie herum hingegen wachsen. Ja, alle Mädchen springen in diesen Jahren auf, als wären sie Knospen. Abends hängt ein Friede über der Landschaft, ohne dass man etwas tun müsste. Gleichzeitig senkt sich eine Schwere auf das Schilf, das hinter dem Haus rauscht. Die Spinnerin seilt sich lautlos ab. Der Himmel atmet Rauch ein und aus. Ein ausladender Himmel, der sich bald mit Wolken füllen wird. So verstreicht die Zeit wieder und Gott schweigt, bis eines Tages ein weißes Gewand erscheint.

»Ich bin die heilige Katharina!«, sagt eine Stimme.

Doch bevor Johanna ihr Erstaunen hinuntergeschluckt hat und etwas antworten will, ist diese wieder verschwunden. Die Tage ähneln einander. Nachts die fremden Gestalten hinter den Augenlidern, sie kriechen in sie hinein. Tagsüber die Arbeit auf dem Feld, das Beten, Backen, Flachsen, Werken und Wirken, das Schlachten und Verzehren. Hin und wieder schimmert Freude durch, wenn im Garten Feste gefeiert werden. Dann tanzt Johanna manchmal. Wie unter dem Feenbaum.

»Wem gehörst denn du?«, fragt man.

Das ist eine Redewendung im Dorf. Man will wissen, aus welcher Familie sie stammt.

»Mir selbst«, sagt Johanna, die weiß, dass sie eigentlich den Namen des Vaters nennen sollte.

»So schöne braune Augen!«, tönt es dann aus manch einem Bauernmund.

»Die Mutter hat braune Augen, der Vater hat braune Augen und ich habe tiefbraune Augen!«, entgegnet Johanna stolz. Meistens schweigt sie, steht abseits. Betrachtet sie sich im Spiegel, fällt ihr auf, dass sie bleich wird. Traurig und still. Es vergilben die Wälder, sie hängen schwer von Laub und die Welt raschelt mit jedem Schritt vor sich hin. Hin und wieder noch Herbstzeitlose und Ringelblumen, aber der Herbst ist längst eingekehrt, auch in ihr.

Mit den Wochen raubt die Zeit auch den Bäumen ihr Kleid. Das kommt wieder, dieses Gefieder, weiß Johanna. So hätte es auch die Großmutter gesagt. Doch die ist jetzt weit weg. Verlässt kaum noch das Bett, Johanna leidet an den Herbsten, an dem ewigen Abschied vom Leben. Alles ist mit Stroh umhüllt in diesen Tagen, silbern wird der Wald von Reif überzogen, die Goldfische verbergen sich am Grund des Teichs, verweigern der Welt ihre Geschichten. Der Boden des Teichs ist mit grünem Schlamm bedeckt.

Im Schatten formen sich indes fremde Bilder und Welten, die sie an die Märchen der Großmutter erinnern. Wie Feen oder Engeln sind sie, die Umrisse der Berge am Horizont, die mit der Dunkelheit und dem Vorbeirauschen der Wolken im Schatten zu wanken scheinen. Ein Flimmern. Fremd bleibt die Welt, auch jetzt, da Johanna wächst. Oft geht sie spazieren. Um sie herum lang gestreckte Waldbrücken und Wege, die sie alle schon kennt. Der Sonnenuntergang umsäumt den absterbenden Tag mit Arabesken. Hieroglyphen die Bäume, sie zeichnen ihre Spuren in die Luft. Johanna sucht Gott in ihnen. Wälder und Burgen lösen sich im Hintergrund auf. Bald schon ist alles in Weiß gehüllt. Das Leben eine Schneewehe. Welt in Federn. Die Bäume, Fichten und Tannen, unter der Last des Schnees gebeugt, sind in die Schlafgrätsche gegangen. Johanna kann diese Welt einfach nicht begreifen. Je älter sie wird, umso weniger. Aber auch heimelig wird es im Zimmer und im Ofen knackt und knarrt das Holz.

Einen Leuchter, hoch, ganz knöchern, stellt man jetzt in die Mitte der Stube, dass das Licht aus ihm flackern möge. Spinnerinnen errichten Bänke und Stühle rundherum und man plaudert. Von Frau zu Frau. Johanna sucht die Vertrautheit mit den Menschen und lernt, die Spiele und die Rituale mitzuspielen. Bald ist Weihnachten.

Die Weihnachtsäpfel sind etwas Besonderes. Man zerschneidet sie und findet runde Sternchen darin. Es heißt, dass sie gesund sind, die Äpfel, weiß Johanna Bescheid. So legt man sie unbekümmert ins Rohr.

»In den Äpfeln sind Sterne!«, sagt Johanna.

»Ja, alles hängt miteinander zusammen!«, entgegnet die Großmutter.

»So komme auch ich in dir vor, Großmutter, oder?«, will Johanna wissen.

»Ja. Und wenn ich tot bin, hast du mich ganz bei dir!«, antwortet diese.

»Kann der Tod sterben?«, fragt Johanna.

»Ja. Und jeden Sommer kommt er als Leben wieder und singt sein Lied!«

Dass die Großmutter recht hat, begreift Johanna immer, wenn sie die Natur betrachtet: Wie das Morgenrot die Himmel vergoldet, wie die Vögel höher und höher steigen wollen, alles vergoldet, auch im Winter, sogar das Morgenrot ist mit dem Dunkel verbunden, ergießet sich aus ihm. Und der Wind, denkt Johanna, der lehnt sich an den Baum. Zerdrückt ist der Hals des Baumes. Dennoch tanzt er mit dem Wind. Und die Fische tanzen mit dem Wasser. Das Wasser ist ein Pferd, jagt dahin, ist im Strom wie das ganze Leben, denkt Johanna. Und das Tal ist ein See. Der Wind verweht zu Luft, Licht, zu Sonne und Gott. Alles verwandelt sich. Nur in der Stube bleibt es warm, wenn das Feuer weiterhin brennt. Das Feuer ist ein Märchen, denn in ihm huschen und tanzen die Bilder sich zu Flammen aus, regnet es Funken, leuchtet die Welt. So spielt das Feuer mit dem Holz, während es dieses auffrisst. Der Wind spielt mit den Ästen des Baumes und klaubt dann ihr Laub auf, trägt es weit fort. Das muss einen Sinn haben, denkt Johanna. Auch, dass die kahlen Bäume sich einander zuneigen. Beieinander Zuflucht suchen. So wie die Menschen gegenseitig ihre Nähe suchen, wenn der Winter kommt, wenn sie hungrig sind oder müde und ihnen kalt ist. Dann sind die Blüten wieder Kinder, die Blumen Jungfrauen, die Natur behütet ihre Wurzeln.

»Wenn die Bäume einander liebkosen, wird es ein gutes Jahr!«, sagte die Großmutter immer.

»Was wissen Bäume von Liebe?«, denkt Johanna entmutigt, wenn in ihr kein Gott spricht. Dennoch – da ist Hoffnung. Einen Zuruf aus einer anderen Zeit, immer wenn die Großmutter spricht.

Ein Ruck durchfährt plötzlich den Himmel. Die Heiligen, denkt Johanna, endlich, sie kommen. Und mit einem Mal wird es so hell, dass sie fast erblindet. Sie staunt. Die Frauen sind von blendendem Weiß. Sie waschen ihre Wäsche im Brunnen im Hof.

»Das ist der ewige Brunnen!«, wispern sie.

»Wer aus der Quelle trinkt, der wird jung. Denn Wasser ist Fruchtbarkeit«, weiß Johanna Bescheid.

»Woher kommt die Quelle?«

»Von den Tränen der Großmutter. Sie musste Abschied von ihren Kindern nehmen.« An den Quellen entstanden Brunnen.

Johanna überlegt. So hell glitzern die Kleider der Heiligen auf der Oberfläche des Wassers, dass es weh tut.

»Das Wasser sticht!«, sagt Johanna und schließt die Augen.

»Es ist ein wundertätiger Splitter«, weiß die Großmutter jedoch Bescheid.

»Es tut einem weh. Aber es wird alle heilen.«

In dem Moment kommt ein Hirsch vorbeigelaufen. Johanna betrachtet ihn. Das Geweih des Edelhirsches, es hat die Form eines der Instrumente, auf denen der Vater immer spielt. Die Musik Gottes kann darauf gespielt werden, sagt er.

Die Großmutter lächelt.

»Das Leben bedeutet er. Sein Gehörn ist ein Pfeil, kann verwunden oder heilen. So ist es mit allem im Leben.«

»Wie wird man geheilt?«

»Man muss zaubern. Eine Druidin tut das. Aber das ist ein Geheimnis!«

Johanna überlegt. Die Antwort ist ihr zu vage.

»Ja, aber wie?«, bohrt sie nach. »Wie wird man Druidin?«

»Man heilt sich selbst!«

»Auch von Blindheit?«

»Ja! Immer hat man früher den Göttern in den Wäldern gehuldigt«, sagt die Großmutter und lacht. »Wer braucht eine Kapelle?«

Johanna blickt sich rasch um. Hoffentlich hat der Vater sie nicht gehört, denkt sie.

»Und noch ein Geheimnis: Ein Schloss ist da unter dem Wasser. Bei Vollmondschein kannst du die Anderwelt betreten, die darin liegt!«

»Ehrlich?«

»Ja!«

Johanna wird von einer großen Sehnsucht erfasst.

»Da hausen auch die Anderweltfürsten. Seit Artus warten sie auf ihre Wiederkehr. Es braucht dafür eine Jungfrau.«

Johanna nickt und mit einem Mal begreift sie, wen die Großmutter meint.

»Mich«, sagt Johanna.

»Ja.«

Ganz ohne Eitelkeit sagt sie es: »Mich!«

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