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WENN INDIANER SO GAR NICHTS MIT KARNEVAL ZU TUN HABEN

TIPIS UND FRIEDENSPFEIFEN

Vorsichtig versucht Mareike etwas Milch in ihren Kaffee zu gießen. Die Milchpackung aber ist wie vieles in Nordamerika überdimensional groß, sodass es Mareike schwer fällt, die Balance zu halten. Und Geschicklichkeit hat auch noch nie zu ihren Stärken gezählt. Schwapp – schon breitet sich eine schöne Milchpfütze über ihren Stadtplan aus, den sie auf Maudes Küchentisch ausgebreitet hat. Mist. Schnell rettet sie, was zu retten ist, und wischt die Milch mit einem Küchenschwamm auf. Dabei fällt ihr Blick auf einige beige gefärbte Gegenden auf dem Stadtplan, am Rande von Montréal. Es sind dort keine Straßen oder Namen eingezeichnet. Lediglich ein dickes Wort prangt in der Mitte der Fläche: Réserve. Davon hat sie schon gehört! Das ist die Gegend, wo die Indianer leben! Ein Indianerdorf? So nah an der Großstadt? Müsste das nicht draußen in der Natur liegen? Seltsam. Mareike hat sich noch nie Gedanken gemacht, wo die Ureinwohner Kanadas eigentlich abgeblieben sind.

In diesem Moment klopft es an der Hintertür der Küche. Eine kleine Frau mit einem schicken braunen Kurzhaarschnitt steht vor der Tür und winkt durch das Fenster. Caroline, Maudes Nachbarin, schaut gerne mal vorbei. Sie kommt aus Vancouver, was Mareike sehr spannend findet, weil sie unbedingt noch den Westen Kanadas sehen möchte.

»I’ve made you some cupcakes, dear« – Ich habe dir ein paar Cupcakes gemacht, flötet Caroline als Mareike die Tür öffnet, stürmt in die Küche und breitet die runden Küchlein mit ihren Zuckergussund Cremehauben, auf denen Streusel und Kirschen prangen, auf dem Tisch aus.

»Ich liebe Backen. Oh, planst du eine Stadttour?«, fragt sie, als sie den Stadtplan auf dem Tisch sieht.

»Ja, ich habe mir gerade überlegt, einen Ausflug zu dem Indianerdorf zu machen.«

Carolines ratloser Blick verrät ihr, dass sie sich falsch ausgedrückt haben muss.

»Weißt du, die indians, Indianer ... die Ureinwohner dieses Kontinents«, versucht Mareike es erneut und beginnt wie ein Indianer aus Winnetou Geräusche zu machen. Carolines Blick wird immer kritischer.

»Schätzchen, das ist nicht lustig. Du solltest auf deine Wortwahl aufpassen. Wenn du magst, zeige ich dir, wie es dort aussieht. Heute ist mein freier Tag.«

Verwundert schnappt Mareike sich ihre Handtasche und folgt Caroline nach draußen.

Mit Carolines Wagen fahren sie auf der Brücke Jacques Cartier über den Sankt-Lorenz-Strom. Von hier aus ist der Blick auf Montréal unglaublich. Die Skyline mit den vielen Hochhäusern schimmert in der Sonne und wird umrahmt vom Mont Royal, der majestätisch hinter der Innenstadt thront. Unter ihnen fließt der Fluss, der hier schon ganz schön breit ist. Erst jetzt fällt Mareike auf, dass Montréals Hafen gar nicht so klein ist. Als sie eine Weile auf der Rive Sud /South Shore (so wird das südliche Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms genannt, obwohl es eigentlich geografisch gesehen eher im Südosten liegt) vorbei an verschiedenen Vororten Richtung Südwesten gefahren sind, häufen sich mit einem Mal kleine Stände, an denen Zigaretten verkauft werden. Drei Dollar für eine Packung! Ob das legal ist? Sonst kostet eine Packung doch eher um die sechs Dollar. An einer unscheinbaren Kreuzung biegen sie rechts ab und fahren an einem Schild vorbei, auf dem »Kahnawà:ke Mohawk Nation Territory« steht. Sie kommen an einfachen Einfamilienhäusern vorbei, vor manchen sitzen gelangweilt aussehende Teenager. Einige beäugen Mareike und Caroline etwas misstrauisch. Davon lässt Caroline sich nicht abschrecken und parkt ihr Auto neben einem schmucklosen Gebäude in der Mitte des Ortes. Verwundert blickt Mareike um sich, als sie aus dem Auto steigt.

»Und wo sind die Tipis?«

Im Fernsehen in Deutschland hat sie doch gesehen, dass es noch immer Indianer gibt, die ganz ursprünglich leben. Caroline runzelt die Stirn und wirft ihr nur einen schrägen Blick zu. Gemeinsam betreten sie das große Gebäude. »Kanien’kehá:ka Onkwawén:na Raotitióhkwa – Language and Cultural Center« steht dort.

In dem liebevoll gestalteten Kulturzentrum finden die beiden eine kleine Ausstellung über die Geschichte der Ureinwohner. Caroline erklärt: »Wir sind hier auf dem Land der Kahnawake Mohawk. Das ist ein Reservat von traditionell Iroquoian sprechenden Mohawk, na ja, eigentlich korrekterweise Kanien, ein ganz alter Ureinwohner-Stamm. Zu ihnen zählen heute etwa 11.000 Menschen, die aber nicht alle in diesem Gebiet leben. Sie sprechen überwiegend Englisch.«

»Warum wohnt hier niemand sonst? Ich sehe keinen einzigen Menschen mit einer anderen Hautfarbe.«

»Nein, das geht nicht. Dieses Land ist für sie reserviert. Sie haben ja schon genug verloren. Ursprünglich ging ihr Land sogar bis unten an den Fluss. Das mussten sie schon abgeben, weil Kanäle und Brücken gebaut wurden. Sie kannten sich sehr gut aus mit dem Fluss, wussten über die verschiedenen Strömungen Bescheid und wo man am besten Fische fängt. Traurig genug, dass man sie umgesiedelt hat. Das hat vieles in ihrer Gemeinschaft durcheinandergebracht und wertvolles Wissen ist verloren gegangen. Und in der Gemeinschaft der Kolonialisten hat man es ihnen fast nie ermöglicht, einen Job zu bekommen, sodass sich die Mohawk hätten ernähren können. Weil man in den Anfangszeiten der Kolonie glaubte, dass sie keine Höhenangst hätten, bekamen sie Ureinwohner nur die gefährlichsten Jobs auf Baustellen. Nicht selten fielen sie in den Tod. Allein 1907 bei dem Bau der Québec-Brücke sollen insgesamt 33 Mohawk-Bauarbeiter ums Leben gekommen sein, als die Brücke wegen eines Konstruktionsfehlers kollabierte.«

»Und warum ziehen sie nicht in die Stadt, wo es doch viel schöner ist? Dort gibt es doch auch mehr Universitäten und Möglichkeiten für sie.«

»Das können viele sich nicht leisten, Mareike. Außerdem ist das hier ihr zu Hause.«

Nachdenklich folgt Mareike Caroline zurück zum Auto.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Das Wort »indians« (Indianer), das Mareike gebraucht hat, klingt in den Ohren vieler Nordamerikaner eher abwertend. Das Gleiche gilt übrigens für das Wort »eskimo« als Bezeichnung für die Ureinwohner ganz im Norden Kanadas, das im schlimmsten Fall als diskriminierend empfunden wird. Der Begriff Eskimo kommt aus der Algonquinsprache und bedeutet »Rohfleischesser«. Auch deshalb ist es verständlich, dass die Bezeichnung von den Inuit (Singular: Inuk) abgelehnt wird. Man unterscheidet die Inuit-Gruppen nach ihren wirtschaftlichen und kulturellen Traditionen, zum Beispiel die Karibu-, die Labrador- oder die Kupferinuit. Wie die Indianer meistens nicht mehr in Tipis leben, schon gar nicht so nahe der Großstadt, leben auch die Inuits schon lange nicht mehr in Iglus. Meist ernähren sie sich vom Fischfang oder durch den Abbau von Bodenschätzen. Auch hier ist jedoch die Arbeitslosigkeit groß, was Depressionen und Alkoholismus zur Folge haben kann. Auch nach so vielen Jahren hat Kanada noch keinen Weg gefunden, die sozialen Probleme der Ureinwohner des Landes zu lösen.

Das Wort réserve /reserve deutet nicht auf ein typisches Indianerdorf hin, wie Mareike dachte. Damit sind vielmehr die Landstücke gemeint, auf denen nach dem Indian Act des britischen Königshauses kanadische Indianerstämme angesiedelt worden sind.

Eine réserve ist oft in einzelne Landpartien unterteilt, die ebenfalls réserves genannt werden. So kommt es, dass 3.000 réserves in Kanada auf 634 First Nations verteilt sind, auf die indigenen Völker des Landes. Die Zersplitterung des Stammbesitzes nimmt vor allem in British Columbia andere Dimensionen an, wo 198 Stämme 1.702 Reservate besitzen. Die Landstücke können ausschließlich von Stammesmitgliedern erworben und nicht verliehen, enteignet oder beliehen werden. Hinzukommt, dass innerhalb eines Reservats persönlicher Besitz der Bewohner frei von Steuern ist.

KANADISCHE FIRST NATIONS UND IHRE SPRACHEN

Unter den kanadischen Ureinwohner gibt es mehr als 50 Sprachen, die wissenschaftlich teils nicht klar voneinander abzugrenzen sind. In Kanada leben ca. 600 anerkannte First-Nations-Gruppen und viele, die nicht offiziell anerkannt sind. 190 davon in British Columbia. Insgesamt gibt es etwa 600.000 Indianer in Kanada. Anishinabe und Cree sind die am weitesten verbreiteten Sprachen, gefolgt von Mi’kmaq. In den Nordwest-Territorien gibt es neun offizielle Sprachen: Dene Suline, Cree, Gwich’in, Inuinnaqtun, Inuktitut, Taicho, Inuvialuktun, Nördliches und Südliches Slavey.

Nicht zu den First Nations gehören die Inuit und die Métis (Nachfahren von überwiegend europäischen Siedlern und indigenen Frauen). In ihrem Territorium sprechen ca. 30.000 Inuit Inuktitut. Weitere offizielle Sprachen sind Inuinnaqtun, Englisch und Französisch. Die Métis sprechen sowohl Französisch als auch Michif, eine Sprache die mit dem Cree verwandt ist.

Der Großteil der kanadischen Ureinwohner lebt in Reservaten. Doch dort sind die sozialen Probleme oft groß. Nicht nur die Arbeitslosigkeit ist in den réserves höher als im Rest des Landes, auch der Alkoholismus ist weiter verbreitet und teils ein Problem, das kaum in den Griff zu bekommen scheint. Da die Reservate oft sehr abgelegen liegen, gibt es wenige Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden oder sich weiterzubilden. Von Infrastruktur und Verkehrsanbindungen abgeschnitten, entwickelt sich schnell Perspektivlosigkeit. Aus diesem Grund wurde im Jahr 2003 die First Nations University in Regina, Saskatchewan eröffnet.

Neben Alkohol ist auch das Glücksspiel Auslöser sozialer Probleme. Manche Reservate haben dies aber zu ihrem Vorteil gedreht, Kasinos eröffnet und damit große Gewinne gemacht. Andere haben rigoros Alkohol verboten. Oft sind in den Reservaten zum Beispiel Tabakwaren geringer besteuert und daher günstiger zu erwerben als im Rest Kanadas. Wirtschaftlich erfolgreicher sind zudem die Reservate, die Ressourcen vorweisen können wie Bodenschätze oder Holz oder die in touristisch interessanten Gebieten liegen – doch oft wurden den Indianern in der Geschichte Gebiete zugewiesen, die weder das eine noch das andere erfüllen.

Die Benachteiligung der First Nations soll inzwischen durch verschiedene Maßnahmen aufgefangen werden. So bemüht man sich, Bildungsprogramme zu entwerfen, medizinische Hilfe auch in abgelegenen Gegenden zu gewährleisten und die Entscheidungsbefugnis der First Nations zu vergrößern. All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Laufe der Geschichte eine extrem hohe wirtschaftliche Abhängigkeit entstanden ist und die Anpassung an die moderne Welt die Ureinwohner zur Aufgabe eines Lebensstils zwang, der perfekt an die natürliche Umwelt angepasst war.

Was können Sie besser machen?

Die korrekte Wortwahl beim Thema Ureinwohner ist nicht unwichtig, wenn man es sich mit niemandem verscherzen will. Mit aboriginal people/autochtones sind alle Ureinwohner gemeint, auch die Inuit und Métis. Die First Nations/premières nations bilden die größte Gruppe davon.

Am wichtigsten ist es, Respekt zu zeigen. Die First Nations freuen sich, wenn man sich für ihre Geschichte interessiert. In den Reservaten ist meistens nicht viel zu sehen – man sollte sie sich nicht wie ein Indianerdorf bei den Karl-May-Festspielen vorstellen! Jedoch kann man diese in Museen besichtigen. 300 Kilometer östlich der Hafenstadt Prince Rupert gibt es beispielsweise das Fort St. James, wo ein Indianerdorf, das Carrier Indian Village, besucht werden kann. Möchte man eine intensivere Begegnung, organisieren Reiseveranstalter Treffen mit Mitgliedern der First Nations, zum Beispiel in Tsal’alh, British Columbia, einem Indianerdorf am Seton Lake. In Ottawa gibt es das hervorragende Musée canadien des civilisations. Dort wird die Geschichte Kanadas in all ihren Facetten beleuchtet. In der First People Hall erfährt man mehr zum Thema Ureinwohner.

Einen Tagesausflug von Calgary entfernt liegt das größte Freilichtmuseum, das im Besitz eines Stammes der First Nations ist. Im Blackfoot Crossing Historical Park und im dazugehörigen Museum kann man mehr über die Lebensweise der Blackfoot Nation erfahren.

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