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WO GEHT ES INS ZENTRUM?
NORDAMERIKANISCHE VORORTE UND WACHSAME NACHBARN
Am nächsten Tag wacht Mareike um fünf Uhr morgens auf. Willkommen in Kanada – es lebe der Jetlag! Sie wälzt sich noch ein wenig in ihrem herrlich großen King-Size-Bett hin und her, aber es ist zwecklos. Sie kann einfach nicht wieder einschlafen. Schließlich ist es in Deutschland jetzt schon elf Uhr vormittags.
KLEINE KANADISCHE BETTENKUNDE
Nordamerikanische Betten bestehen meist aus einem Bettgestell mit einem fest installierten Lattenrahmen, einer sogenannten boxspring. Mit der durchgehenden, sehr weichen Matratze ist das Bett insgesamt mindestens 50 cm hoch, sodass man fast raufklettern muss. Die angenähten Volants passen in puncto Muster oft zur Tagesdecke. Ein King-Size-Bett ist 1,90 m × 2,03 m groß, Queen- Size-Betten messen 1,52 m × 2,03 m und das Double- oder Full-Size-Bett 1,37 m × 1,90 m. Für zwei Personen sollte man, schon allein wegen der Bettlänge, mindestens ein Queen-Size-Bett haben.
Leise schlüpft Mareike aus ihrem Zimmer und macht sich auf den Weg in die Küche des Hauses von Maude, bei der sie sich ein Zimmer gemietet hat – relativ spontan über Airbnb am Vorabend ihres Abflugs, weil sie es einfach nicht eher geschafft hat.
Das Erste, was sie in der Küche findet, ist Brot und Erdnussbutter. Sie möchte nicht noch mehr in den fremden Schränken herumwühlen und gibt sich damit zufrieden. Hungrig schmiert sie sich eine Scheibe. Ihr Blick wandert durch das große Küchenfenster auf den Vorgarten, der die ersten Sonnenstrahlen genießt. Die Nachbarhäuser sehen für Mareikes Augen alle gleich oder zumindest sehr ähnlich aus. Einstöckige, mittelgroße Bungalows, die ohne Gartenzaun aneinandergereiht sind und ein bisschen an Spielzeughäuser erinnern. Alle von makellosen grünen Rasenflächen umgeben, jeweils rechts eine kleine Einfahrt mit einer Garage. Als wenn sie alle vom selben Architekten gebaut worden wären.
Es ist schon hell draußen und Mareike beschließt, die Umgebung zu erkunden, denn sie hat noch keine Ahnung, wo sie hier gelandet ist. Sie streift sich ihr blaues Sommerkleid über, denn obwohl die Küchenuhr erst 5:30 Uhr anzeigt, ist es schon unglaublich heiß und schwül.
Mareike hat keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen soll, dreht sich dann aber nach links. Irgendwann wird sie schon an eine Hauptstraße kommen.
Spazierengehen hilft ihr immer, um das Gefühl zu bekommen, zu Hause zu sein und dazuzugehören. In den Straßen herrscht Totenstille. Nur ein Zeitungsjunge ist schon unterwegs und beäugt sie neugierig. Nach einer halben Stunde hat Mareike immer noch kein einziges Geschäft entdeckt. Sie erwartet ja nicht, dass um diese Uhrzeit schon Läden geöffnet sind, aber es interessiert sie einfach, wo sich das Leben in Montréal abspielt. Einen Block nach dem anderen mit den immer gleichen Häusern läuft sie ab. Wenigstens kann sie die Orientierung nicht verlieren, weil die Straßen in diesem Viertel glücklicherweise schachbrettartig angeordnet sind (dies ist nicht in allen Vierteln der Fall). Als sie aus einem der Häuser eine Frau mit einem kleinen Hund kommen sieht, atmet Mareike erleichtert auf.
»Excusez-moi« – Entschuldigen Sie, sagt sie, »wo sind denn hier die nächsten Geschäfte?«
»Geschäfte? Meinen Sie eine Tankstelle?«
»Nein, eine Hauptstraße oder das Zentrum.«
»Na, das Zentrum ist eine halbe Stunde mit dem Auto die Métropolitaine, die Autobahn an der Nordküste des Sankt-Lorenz-Stroms, runter. Das nächste Einkaufszentrum sind die Galéries d’Anjou im Osten der Stadt. Aber was suchen Sie denn überhaupt auf der Straße zu dieser Uhrzeit? Und so ganz alleine? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.«
Die Dame scheint ihr Viertel ganz genau im Blick zu haben und mustert Mareike von oben bis unten neugierig, aber mit wachem Blick. Mareike erklärt, dass sie Touristin sei, woraufhin die Frau spontan anbietet, ihr am Wochenende einmal die Gegend zu zeigen. Mareike freut sich über das herzliche Angebot und macht sich auf den Rückweg. Die interessantesten Seiten von Montréal hat sie noch nicht entdecken können, aber die Menschen kommen ihr wahnsinnig hilfsbereit vor!
Gerade als sie an Maudes Auffahrt angekommen ist, sieht sie einen Streifenwagen die Straße herunterfahren. Auf ihrer Höhe wird er plötzlich langsamer. Mareike holt schnell ihren Schlüssel raus und verschwindet im Haus. Erst jetzt wird der Wagen wieder schneller und biegt an der nächsten Kreuzung rechts ab. Mareike wird es beim Anblick von Polizei immer etwas unbehaglich, auch wenn es gar keinen Grund dafür gibt. Hatte der etwa sie im Blick?
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Dummerweise hat sich Mareike, ohne es zu wissen, ein Zimmer in einem sehr abgelegenen Stadtteil gesucht. Die banlieues oder suburbs, die Vororte nordamerikanischer Großstädte, sind für Europäer oft etwas gewöhnungsbedürftig. Zumal wenn man mitten aus einer Großstadt kommt wie Mareike. In der Regel handelt es sich dabei um reine Wohngebiete ohne Geschäfte, Industrie oder Dienstleistungsunternehmen. Zudem wird Wert auf die Einheitlichkeit der Straßenzüge gelegt, was aber auch von der jeweiligen Wohngegend und dem Einkommensniveau abhängt. Gerade in wohlhabenden Gegenden ist das äußere Erscheinungsbild besonders wichtig und der gepflegte Vorgarten ohne Unkraut ein Statusobjekt. Viele Häuser sehen sich so ähnlich, weil meist riesige Gebiete von einzelnen großen Bauunternehmen erschlossen werden, die in einem Aufwasch viele Dutzend Fertighäuser aufstellen. Das drückt die Kaufpreise, trägt aber nicht unbedingt zur Individualität des Wohnens bei.
Bei ihrem frühmorgendlichen Spaziergang wurde Mareike so neugierig beäugt, weil in diesen Gegenden kaum jemand längere Strecken zu Fuß zurücklegt, es sei denn aus sportlichen Gründen, also joggend. Mit 16 Jahren darf man in fast allen Provinzen Kanadas den Führerschein machen; Familien haben im Schnitt zwei Autos.
In vielen nordamerikanischen Städten gibt es private Zusammenschlüsse zur neighbourhood watch. Nachbarn tun sich zusammen, um ein Auge auf ihr Viertel zu haben und merkwürdige Vorkommnisse zu melden. Das könnte hier auch passiert sein: Vielleicht haben sich die Polizisten gewundert, wer zu so früher Stunde zu Fuß durch das Wohnviertel spaziert.
Was können Sie besser machen?
Wenn man sich ein Zimmer über das Internet sucht, sollte man sich ganz genau auf dem Stadtplan anschauen, wo es liegt. Wenn man sich nicht auskennt, ist die Gefahr groß, in einem Vorort zu landen, da die Stadtflächen sehr weitläufig sind. Ist man nur für eine begrenzte Zeit in einer Großstadt, wird eine Bleibe im Stadtzentrum sicher die beste Wahl sein.
Man kann durchaus auch im Vorort Spaziergänge unternehmen. So früh morgens mag das manche misstrauisch machen, aber es ist natürlich vollkommen legal und man wird auch nicht gleich von der nächsten Polizeistreife angehalten. Dass man neugierige Blicke erntet, kann passieren, sollte einen aber nicht nervös machen. Zumal Montréal in den letzten Jahren immer mehr zur Fahrradstadt wird.