Читать книгу Onnen Visser - Sophie Worishoffer, Софи Вёрисгофер - Страница 4

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Die breiten Gräben hinter der Schanze wurden ausgeschaufelt und dann das Seewasser hineingeleitet; Mann nach Mann schoben sämtliche Inselbewohner ihre Karren mit Klei und Erde vom Ankerplatz herauf bis an die Stelle, wo Befestigungen errichtet wurden, um Deutschlands Freunde zu vertreiben und das geknechtete Land immer ärger in die Willkürherrschaft des Korsen hineinzudrängen.

Französische Soldaten hielten Wache mit geladenen Gewehren und deutsche Seeleute erbauten Schanzen, deren Kanonen sie selbst und ihre Brüder vernichten sollten.

Die Abendsonne schien warm herab auf das kleine Norderney, auf die grabenden und Erde fahrenden Männer und auf die einsamen Dünen, deren lange Grashalme im Winde schaukelten.

Langsam gleitend kroch Aheltje, die Hexe, von einem Zwerggebüsch zum andern. Hinter ihr ging die graue Katze, schleichend wenn sie schlich, stillstehend wenn ihr Fuß anhielt. Die Alte suchte Vogeleier und murmelte vor sich hin, sobald sie ein Nest gefunden hatte.

»Zwei Eier mußt du mir geben, Vogelmütterchen, die andern laß ich dir. Weiß, wie es tut, seine Kinder zu verlieren, hab‘ fünf blühende Knaben der See opfern müssen – keiner ist zurückgekommen. Ach, ach, welch ein Leben!«

Die Katze spann, sie suchte die Blicke ihrer Herrin, als wolle sie sagen: »Mich besitzt du ja noch, wir beide haben einander lieb!«

Aheltje umfaßte mit beiden Armen ihren Liebling. »Es gibt Eierkuchen, Murr, hörst du, Eierkuchen und gebratene Fische!«

»Miau!«

»Dich freut‘s auch, was? – Ach, Murr, wenn‘s doch die letzte Mahlzeit wär! Wenn die ›Hexe‹ endlich sterben dürfte!«

Sie drückte das blasse verkümmerte Gesicht gegen den grauen Pelz und sah traurig hinaus auf das Meer. »Sie werden die ›Zauberin‹ mit der Heugabel fassen und ohne Sarg ins offene Grab werfen, Murr – tief hinunter in den rieselnden weißen Sand, wo der Tote immer weiter versinkt, immer weiter. Kein Kreuz kommt an die Stätte, keine Blume – sie sind so böse gegen ein lahmes krankes Weib, die Menschen!«

Aheltje weinte vor sich hin. Heute morgen war sie im Dorfe gewesen, um den wenigen Badegästen ihre Seesterne und Seeigel anzubieten, aber rohe Buben hatten ihr einen Hund entgegengehetzt; noch blutete die linke Hand von dem Bisse desselben und das zerfetzte Kleid zeigte neue Risse. Auch Murrs Ohrläppchen hing durchlöchert herab – ach, welch ein böser Tag war doch wieder einmal über die arme Alte gekommen.

»Einerlei, Murr«, sagte sie mit zuckenden Lippen, »einerlei, wenn mich auch die Menschen hassen, weil ich so unglücklich und so verkrüppelt bin – schlecht machen sollen sie mich darum doch nicht, ich will sie immer lieb haben nach Gottes heiligem Willen! Komm, mein Tier, komm – wir müssen weiter!«

Der Graue schlich wieder hinter ihr her und die Alte suchte zwischen allen Gebüschen, in den Graspflanzen und Erdlöchern nach Nestern. So kamen die beiden an ein enges Tal, wo hohe überhängende Wände der Umgebung ein gebirgsartiges Aussehen verliehen; auf dem Grunde wuchsen zwerghafte Erlen, während nur ein schmaler beschwerlicher Weg seitwärts hinabführte.

Wilde Kaninchen lugten aus Erdlöchern hervor und huschten ängstlich in ihre verborgensten Spalten; Heidelerchen erhoben sich zwitschernd zum Himmel; Schwalbenpaare schossen nach allen Richtungen durch die Luft.

Es war hier in der entlegensten Einsamkeit der Dünen so still, so feierlich wie in einem weiten, von Glanz und Gold erfüllten Dome. Die wilden Bienen sangen das Lied zu Gottes Ehre, leise rauschend flüsterten die Erlenblätter von der Vergänglichkeit alles Irdischen und jenem Frieden, den das gute Gewissen dem Menschen in aller Trübsal, aller Anfechtung sichert.

Roter Abendschein fiel auf das Weib im Bettlergewande und umhüllte es ganz. Aheltje bog die Erlenbüsche auseinander; sie klopfte mit dem Knöchel der rechten Hand gegen einen harten Körper, daß es hell und metallisch erklang.

»Es liegt noch da, Murr, hörst du, niemand hat es entdeckt!« —

Dann machte sie sich wieder in den Zweigen zu schaffen, ihre Hand fuhr hinein und brachte, als sie zurückkam, blitzende Goldstücke mit sich, es war ein seltsamer Anblick, das Weib in Lumpen mit dem reichen Schatze auf dem Schoß, ein seltsamer, unbegreiflicher Anblick!

Immer mehr, immer mehr. Es glitzerte und funkelte, es spiegelte sich wie tausend Diamanten im Abendsonnenglanz – spielend reckte Murr die Pfoten und fuhr täppisch zu, als wolle er den Reichtum haschen.

Aus der Spalte sah scheu das wilde Kaninchen. So viel Gold – und doch Tränen im Auge, Blut an der Hand – wie kommt das?

»Ruhig Murr, wir besehen nur einmal den Schatz, wir berühren ihn, den Götzen dieser Welt – es ist so eigen schaurig, Gold durch die Finger laufen zu lassen wie bloßes Wasser! – aber uns gehört davon nichts. Nein, nichts! Magst ruhig schlafen, Geerd Kluin, deine Tausende sind in sicherer Hut!«

Sie wiegte den Kopf, halb lächelnd, halb schluchzend, sie legte mit leiser Hand die Münzen wieder in den eisernen Topf unter dem Wurzelgeflecht der Erlen. »Seltsame Welt, blinde törichte Menschen! Vielleicht darbt und hungert der reiche Mann im fernen Hamburg und alles, was ihn erquickt, ist der Gedanke an sein vergrabenes Geld! Vielleicht sieht er‘s nie wieder, aber das letzte Stündlein wird ihm leichter, weil er weiß, daß auch andere es nicht erlangen werden.«

Sie deckte den Topf sorgfältig zu. »Liege, liege bis an den jüngsten Tag, bis Gott die Welt vor das Gericht fordert, Gute und Arge – alles was lebt!«

Sie raffte ihre Eier zusammen und die Wanderung über das zerklüftete Gebiet begann aufs neue.

Es wurde allmählich dunkel; Aheltje schlich an der Stelle des heutigen neuen Kirchhofes und der verstreuten einzelnen Häuser hinter der Marienstraße vorüber, ihrer Hütte zu; da sah sie vor sich auf dem Kamm einer Düne die hohe Gestalt eines Mannes, der seine Augen mit der Hand beschützte.

»Peter Witt!« murmelte die Alte. »Kain!«

Und sie lachte laut und verächtlich.

Der Genannte wandte den Kopf. »Du bist es, Hexe! Was hast du da, he? Zauberkräuter, denke ich!«

Er wollte ihr das zerrissene Tuch wegnehmen, aber sie schlug ihn derb auf die Finger. »Zauberkräuter!« wiederholte sie spöttisch. »Sollen deine Hände verbrennen, Peter Witt?«

»Ist‘s wahr?« flüsterte er, einen Schritt zurückweichend. »Du bist gut Freund mit den Schmugglern, alte Aheltje, du kochst ihnen wohl gar den Trank, der unsichtbar macht?«

»Ha, ha, ha – Murr, lachst du nicht? Das war kostbar, Peter Witt, dafür solltest du eigentlich noch einen besonderen Orden haben, einen französischen natürlich.«

»Den bekomme ich auch noch«, rief er eifrig, »allen deinen Künsten zum Trotz, alte Hexe. Sieh dahin, die englischen Schiffe sind fort!«

»Und was kümmert das dich, Peter Witt?«

»Viel! Viel!« rief der Spion. »Wo wird jetzt das Gut gelandet, wo arbeiten die Schmuggler? Ich will und muß es erfahren, so kann die Sache nicht länger fortgehen. Diese beiden Haupthähne, Visser und der lange Lümmel, der Heye Wessel, führen die Zollbeamten an der Nase herum – sie stehen mit dem Teufel im Bunde.«

Er rannte fort, verfolgt von dem Lachen der Alten, und während sie ihre Hütte aufsuchte, ging er in das Dorf hinab.

»Ich will auf den Grund sehen«, murmelte er, »ich will es und müßte mich‘s Gott weiß was kosten!«

Zwischen den Häusern herrschte fast vollständige Dunkelheit; Schritt für Schritt stieg der Franzosenfreund durch den tiefen losen Sand einem niederen Gebäude zu, in dem sich damals die einzige kleine Schenke des Ortes befand. Schräg gegenüber lag das Wohnhaus des Kapitäns, während neben demselben ein halbzerfallener Stall das schiefe Dach der Straße zuneigte.

In der Wirtsstube war niemand als die Frau des Eigentümers, der sich zum Fischfang auf dem Meere befand; sie gab dem Gaste das verlangte Getränk und kümmerte sich dann mehr um ein krankes Kind, das sie in Schlaf wiegte, als um ihn.

Peter Witt pries den Zufall; er konnte nun, selbst ungesehen, das Haus des Kapitäns beobachten, und das war es eben, was er wollte.

Klaus Visser hatte sich heute krank melden lassen, die »Taube« lag auf dem Watt vor Anker – das schien verdächtig.

Peter Witt spähte. Hinter den verhüllten Fenstern des Kapitäns glänzte freundlicher Lichtschein, man sah auch Schatten vorüberhuschen und zuweilen klangen Stimmen auf die Straße hinaus. Endlich, als es ganz dunkel geworden war, erschien ein Mann und schlüpfte schnell, als wolle er nicht gesehen werden, zur Tür hinein.

Ein Strom von Hitze ergoß sich durch die Adern des Lauschenden.

»Jakob Brahms aus Neßmersiel«, dachte er, »was kann der wollen?«

Sein Entschluß war schnell gefaßt, er bezahlte den genossenen Branntwein und ging fort, um dann von der Hinterseite der Häuser her das Anwesen des Kapitäns wieder zu erreichen. Eine niedere Tür zum Hofe stand immer offen, Peter Witt schlüpfte hinein, gelangte in die Holzkammer und preßte nun lauschend das Ohr gegen die Tür des Wohnzimmers.

Sein Herz schlug, als wolle es springen. Wenn er entdeckt würde, dann stand vielleicht das Leben selbst auf dem Spiel; Jakob Brahms war ein Mann, der mit sich nicht spaßen ließ, das wußte er.

»Es geht nicht anders«, erklang in diesem Augenblick die Stimme des Kapitäns, »wir können hier nichts mehr ausrichten; es ist heute eine Verstärkung von mehreren hundert Mann und zwei Kanonenbooten angelangt. Weißt du, welch eine neue Teufelei sich die Kerle ausgesonnen haben?«

»Nun?« fragte der aus Neßmersiel.

»Jede Schaluppe erhält, sobald sie die Anker lichtet, vier Mann französische Besatzung. Allein dürfen wir nicht mehr in See gehen – damit ist das Geschäft zerstört.«

Jakob Brahms schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das ist unerhört! Visser, das kann nicht wahr sein!«

Der Kapitän seufzte. »Doch! Doch! Es ist gestern verlesen worden. So gut die Machthaber den Leuten das bißchen Eigentum aus dem Hause holen und es auf offenem Markte verbrennen, können sie auch unbescholtene Bürger wie Gefangene behandeln und sie mit Wächtern umgeben. Vier Mann für jede Schaluppe und Konfiskation des Fahrzeuges, das ohne dieselben auf offener See betroffen wird.« Der andere ließ die Arme sinken. »Das ist ja unerhört«, sagte er.

»Gewiß ist es unerhört und wird auch im Verein mit den Kanonen von der neuen Schanze herab den englischen Handel lahm legen – nur die Waren aus diesen beiden Schiffen müssen noch an Land gebracht werden – Heye Wessel und ich haben‘s übernommen.«

»Daß dich!« dachte der Lauscher. »Die Nachricht ist Gold wert!«

»Aber wie führen wir‘s aus?« setzte der Kapitän hinzu. »Ich habe dir eine Botschaft geschickt, Jakob, damit du kommen und mir raten solltest. Was fange ich an?«

Der Brahms trank den Branntwein, welcher vor ihm auf dem Tisch stand, und sah dann durch das Glas, als lese er dort des Rätsels Lösung.

»Du, Visser«, sagte er endlich, »ist auf Baltrum noch keine Besatzung, weißt du es gewiß?«

»Ganz gewiß; es ist keine da.«

Jakob Brahms schlug wieder auf die Tischplatte. »Dann müssen die Engländer den Kaffee auf Baltrum landen und von dort bringen wir ihn über das Watt nach Neßmersiel.«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Jakob, ganz unmöglich. Dort stehen vier Zollwächter auf dem Deiche.«

»Die ich unschädlich machen werde, Visser, verlasse dich darauf. Wann hast du übrigens wieder deinen freien Tag?«

»Nächsten Sonnabend!«

»Gut, dann kannst du öffentlich auf einer der Schaluppen die Erde anfahren, nach Norddeich reisen und zu Lande weiter nach Neßmersiel; von da durchs Watt nach Baltrum – du und die übrigen. Ihr seid bei Beginn der Dunkelheit sämtlich an Ort und Stelle; für das weitere laßt ihr mich sorgen.«

Der Kapitän wiegte den Kopf. »Du mußt mir das erst etwas deutlicher erklären, mein guter Jakob«, sagte er mit geheimer Unruhe.

»In welchen Räumen könnten auf Baltrum ganze Schiffsladungen voll Kaffee verborgen werden?«

»In den Ställen und Scheunen eines sicheren vertrauten Mannes, für den ich einstehe. Andreas Fokke, der Fuhrmann ist‘s.«

Ein leises gedehntes Pfeifen verriet die Befriedigung des Kapitäns. »Andreas Fokke!« wiederholte er. »Hm, hm, Jakob, laß dir sagen, daß ich den Mann ganz genau kenne. Wir hatten schon, ehe noch eine Besatzung nach Norderney kam, unser Lager in seinen Scheunen.«

»Sieh! Sieh! Du wolltest mich also erst ein wenig aushorchen, Schlauberger?«

»Aufrichtig gestanden, ja. Aber nun bin ich mit dir einverstanden, Jakob – wir gehen nach Baltrum, dabei bleibt es. Nur eins beunruhigt mich! Wie gelangt die Nachricht an Bord der beiden Engländer?«

»Dafür laßt mich sorgen. In Neßmersiel sind Handelsleute genug, die täglich hinüberfahren – einem unter ihnen gebe ich die Bestellung schriftlich mit«

»Und du kennst auch an Ort und Stelle Räumlichkeiten, die den Kaffee aufnehmen können?«

»Mehr als genug. Ich selbst habe Scheunen und Ställe, mehrere andere vertraute Leute auch. Wir fahren mit acht Lastwagen.«

»Das wird genügen, Jakob. Es ist doch immer gut, wenn man mit vernünftigen Kameraden eine Angelegenheit erst überlegt!«

»Bringe uns noch eine von den grünen Flaschen, Mutter«, setzte er dann hinzu. »Wenn das Geschäft gelingt, haben wir Tausende verdient.«

Die alte Frau seufzte. »Ja, wenn! Mir ist bei diesen Geschichten immer himmelangst, das kann ich euch sagen.«

»Nun, Alte, dieses Mal wird ja das letzte sein. Bitte nur den lieben Gott, daß der Fuchs, der Peter Witt, von dem allen keine Kenntnis erlange. Der Verräter schnüffelt seit Heye Wessels prachtvoller Kriegslist fortwährend zwischen den Schaluppen herum, er will sich noch solch ein buntes Spielzeug verdienen, dafür würde er ganz Deutschland an seine geliebten Franzosen ausliefern, glaube ich.«

Jakob Brahms lächelte. »Erwischt man den Patron, so bekommt er eins auf den Kopf«, war seine kaltblütige Erklärung. »Man schlägt ihn nieder wie einen tollen Hund.«

Der Lauscher hörte jedes Wort, er ballte heimlich die Faust, dann aber überflog ein höhnisches Lächeln sein Gesicht. Geräuschlos, wie er gekommen war, glitt er auch wieder hinaus und über den Hof auf die Straße.

»Bete nur, Frau Douwe«, knirschte er, »bete fleißig. Wir werden ja sehen, wer den Sieg behält, du oder ich.«

Die beiden Männer drinnen im Zimmer beredeten unterdessen alle Einzelheiten ihres Planes; auch Onnen kam hinzu und bat so lange, bis ihm erlaubt wurde, den beabsichtigten Zug mitzumachen. »Gottlob, daß es der letzte ist«, rief er. »Ich will lieber Kaffee und Zucker entbehren als meinen Vater mit den Gesetzen im Streit wissen.«

»Du bist ein Grünschnabel«, rief halb ärgerlich der Kapitän. »Franzosengesetze verlache ich, sie sind für deutsche Männer nichts als Plunder, ich pfeife darauf!«

Frau Douwe suchte ihn zu beschwichtigen. »Du sagst ja selbst, daß es nun zu Ende ist, Vater! – Ach, ich will ganz frei aufatmen, sobald nur diese unheimlichen Streifzüge aufhören.«

Jakob Brahms verabschiedete sich und die kleine Familie blieb allein, um bald darauf die nächtliche Ruhe zu suchen. Aber der Kapitän konnte lange nicht einschlafen, und als er endlich die Augen schloß, da quälten ihn schwere Träume – mitten in der Nacht fuhr er plötzlich auf.

»Mutter, Mutter, hörst du denn nichts?«

Frau Douwe erwachte. »Was gibt es, Klaus?« rief sie sehr erschrocken.

»Da, da, der Himmel und die Erde sind rot – über ganz Norderney schlägt eine riesige Blutwelle!«

»Klaus, mein bester Klaus, so wache doch auf!«

Sie rüttelte ihn am Arme, sie streichelte sein eiskaltes Gesicht.

»Was hast du denn, Klaus? So sprich doch ein vernünftiges Wort!«

Endlich erwachte er. Die kleine Öllampe brannte auf dem Tisch, vom Fenster herab hingen saubere weiße Vorhänge; das ganze trauliche Zimmer machte den angenehmsten, gemütlichsten Eindruck Klaus Visser schauderte.

»Ich sah eine große Blutwelle, Mutter! Hab ich dich sehr erschreckt, du Arme? – Ach, es war schauerlich, die Woge ging hoch über unser Haus hinweg.«

Frau Douwe weinte. »Ach, wenn du das als Warnung nehmen wolltest, mein guter Klaus, wenn du dich bitten ließest!«

Er wandte verdrießlich den Kopf. »Ein Traum, weiter nichts! Mir träumte auch schon einmal von einem Riesenschellfisch, der nach mir schnappte – und ist später doch keinerlei Böses passiert. Ich wollte nur, es wäre erst Sonnabend.«

Mehr wurde nicht gesprochen, aber Frau Douwe blieb verstimmt und auch am folgenden Morgen war sie sehr einsilbig.

Die kleine Familie saß eben beim Frühstück, als auf der Straße ein plötzliches Geräusch entstand. Die Leute liefen hin und her, bald kam der Lärm näher heran – es war das Gewirbel der französischen Trommeln.

Wieder ein neues Gesetz, irgendeine Bosheit, um den armen Leuten noch das letzte zu nehmen.

Die alte Folke Eils schüttelte den Kopf. »Was mögen sie denn jetzt verbrennen wollen, die Unmenschen? Ach, man führt doch ein trauriges Leben! Die Waren ins Feuer geworfen, das Bett weggenommen, den Handel verboten – was soll so eine arme alte Frau anfangen?«

Und sie weinte bitterlich, wie immer, so oft die Trommel erklang.

Der Kapitän ging in Onnens Begleitung zur Sammelstelle. Das mußte etwas sehr Wichtiges sein, was heute verkündet werden sollte; die gesamte Besatzung war aufmarschiert, das Offizierkorps in voller Uniform, der Präfekt Jeannesson in seiner Amtstracht, der Dolmetscher mit Papieren in der Hand. Sie bildeten vor dem alten Badehause einen weiten Halbkreis, dessen letzten Hintergrund die Mastspitzen der Kanonenboote ausmachten; es glänzte und flimmerte überall von Uniformen, Waffen und Schmuck.

Neben dem Obersten Jouffrin stand ein Unteroffizier, der die französische Fahne an einer langen Stange in der Hand trug.

»Potz Blitz!« flüsterte der Kapitän, »das wird ja wichtig.«

Er ließ sich nicht träumen, welch eine Verfügung eben jetzt getroffen worden war.

Neuer Trommelwirbel, dann ein ängstliches Schweigen rings umher. Die Leute horchten voll geheimer Furcht.

Nun begann auf ein Zeichen des Obersten der Amtsschreiber seinen Vortrag.

»Proklamation!

Seine Majestät der Kaiser geruhen zu befehlen wie folgt: In anbetracht der immer wiederholten und beharrlich trotz aller erlassenen Gesetzesvorschriften fortgeführten Schmuggeleien wird hierdurch nachstehende Verordnung publiziert und männiglich zur Kenntnis gebracht. Wer von heute an bei einem Unternehmen, das mit der verbotenen Einführung englischer Waren direkt oder indirekt zusammenhängt, bei irgendeiner Art von Schmuggelei oder Steuerhinterziehung betroffen wird, der soll nach Gesetz und Recht öffentlich vor allem Volke die Todesstrafe erleiden und durch Pulver und Blei verdientermaßen gerichtet werden, er sei wer er wolle.«

Wie der Blitz in das Pulverfaß, so fielen die wenigen Worte in aller Herzen. Ein Aufschrei, ein Laut des Entsetzens, halb unterdrückt, ging durch die Menge.

Erschossen! Hingerichtet! War es denn möglich?

Und um einiger Pfunde Tee, um eines Zuckerhutes willen!

Der Präfekt Jeannesson sah musternd über die Gruppen der Eingeborenen hinweg. »Leute«, sagte er mit hallender, ermahnender Stimme, »Leute, ihr wißt nun, woran ihr seid. Hoffentlich wird kein Blut fließen, kein einziger unter euch mit so ernsten Dingen ein vermessenes Spiel treiben wollen. Wir leben im Kriege, das bedenkt und hütet euch vor Übertretungen.«

Todesstille lag auf den Versammelten, ein eisiges Grauen hielt die Herzen in Banden. Hinter den Reihen der Franzosen erhob sich ein spähendes Antlitz, aschfahl und verzerrt, aber doch voll heimlichen Triumphes. Unnatürlich glänzten die weitgeöffneten Augen, unnatürlich atmete in schweren Zügen die Brust. Es war Peter Wirt, der alles mitangehört hatte und der für sich den Erfolg, das Gelingen herankommen sah.

Kain – wie ihn Aheltje nannte.

Der Kapitän wandte den Blick. Es war sein eigenes Haus, über das er heute im Traume die Blutwellen dahingehen sah – jetzt fiel‘s ihm wieder ein.

Die Leute ringsumher flüsterten, die Männer standen in Gruppen beieinander. Schlimmer, als es nun war, konnte es nicht mehr werden.

Wieder rasselten die Trommeln; das war der Befehl zum Auseinandergehen. Es gab für die Inselbewohner keinen freien Willen mehr, sie mußten gehorchen wie Kinder.

»Onnen«, flüsterte der Kapitän, »erzähle lieber deiner Mutter gar nichts von dem, was wir eben gehört haben. Es gibt sonst nur unnötige Aufregung.«

»Vater!« rief erschreckend der Knabe, »du wirst doch unter den gegenwärtigen Umständen nicht mehr an —«

»Pst! Ein Mann, ein Wort, Onnen. Sollten mich meine Freunde für feige halten?«

»Für vernünftig und besonnen, Vater! Du kannst nicht daran denken, dein Leben auf das Spiel setzen zu wollen.«

»Schweig!« befahl der Kapitän. »Das sind Dinge, von denen ein Knabe wie du noch nichts versteht. Ich werde schon die nötige Vorsicht im Auge behalten.«

Sie kamen nach Hause und trafen Frau Douwe bereits in voller Verzweiflung. Das Gerücht eilt schnell – es war eher angelangt als sie selbst. Die arme Frau sah ihre Lieben schon von französischen Kugeln zerrissen und weinte bitterlich.

Als der Kapitän eintrat, warf sie sich ihm schluchzend zu Füßen und umklammerte seine Knie. »Vater! Vater! gib mir dein Wort, nie wieder schmuggeln zu wollen, oder ich sterbe vor Furcht – sage mir, daß die Fahrt nach Neßmersiel unterbleiben soll!«

Sie weinte so heftig, ihr Flehen hätte ein Herz von Stein erschüttern können; leise, bittende Worte stammelnd, beugte sie das graue Haupt fast bis zu den Füßen ihres Mannes und beschwor ihn, Erbarmen zu üben.

Eine Wolke flog über die Stirn des Kapitäns; er hob die Weinende auf und streichelte gutmütig das blasse Gesicht.

»Ich kann nicht, Mutter, bei Gott, ich kann nicht. Die Franzosen werden übrigens keinen erschießen, es sei denn, sie hätten ihn! Kümmere du dich um gar nichts, hörst du; ich bin am Sonntag unversehrt wieder hier und habe in ein paar Stunden mehr verdient, als mir der Fischfang in Jahr und Tag einbringt.«

Jetzt mischte sich Onnen in das Gespräch. »Du meinst doch ›wir‹, nicht wahr Vater? Wo du bist, dahin gehe auch ich.«

Frau Douwe schrie laut auf. »Um Gotteswillen, Klaus, das darfst du dem Jungen nicht erlauben!«

»Auf keinen Fall!« bestätigte der Kapitän. »Onnen bleibt hier.«

Unser Freund kannte diesen Ton. Für den Augenblick war nichts zu machen, das wußte er und schwieg weislich.

Ein Schatten verdunkelte draußen die Fenster, dann öffnete sich die Tür und Heye Wessel trat in das Zimmer. Er sah von einem zum andern; die Mütze in der Hand und das kluge Gesicht glänzend vor Aufregung, so stand er da.

»Klaus Visser«, sagte er, bei seiner Rede immer mit dem Kopfe nickend, »Klaus Visser, wie ist es, gibst du nach?«

Der Kapitän reckte seine hohe Gestalt. »Nein!« antwortete er mit festem Tone. »Tausendmal nein!«

Ein tieferer Atemzug hob die Brust des Riesen. »Ich auch nicht«, rief er. »Sollen uns die Hunde für Feiglinge halten? Wagen sie sich heran, dann brechen wir ihnen als ehrliche Ostfriesen die Hälse.«

»Genau was ich denke, Heye Wessel. Du bist also mit von der Partie? Ich kann mich auf dich verlassen?«

»Wie auf deine Augen, Visser. Ein Schuft, wer sein Wort bricht!«

»Siehst du, Mutter, so denken alle – sollte da dein Mann zurückstehen?«

Aber die alte Frau weinte, als müsse ihr das Herz brechen. Sie schüttelte nur den Kopf; über die zuckenden Lippen kam kein Laut.

In Neßmersiel klang Musik durch die einzige am Kanal gelegene Dorfstraße. Es wurde eins der vielen, in damaliger Zeit noch üblichen Gelage gefeiert, das Knechtsbier, bei dem die jungen Leute zuerst einen Umzug durch das Dorf vornahmen und dann im Kruge zum Schmaus zusammentrafen.

Derartige »Biere« gab es bei sehr vielen Gelegenheiten, z.B. der Ernte und der Beendigung des Dreschens; auf den Fehnen (Kanaldörfern) meistens nach Schluß der Torfgewinnung, die den Bauern Geld ins Haus gebracht hatte, die Knechte und Mägde aber von der sauersten Arbeit ihres Daseins auf Monate hinaus erlöste.

Sie wollten nun nach harter Plage einmal bei Spiel und Tanz das Leben genießen. Alle Knechte des Dorfes hatten sich im Wirtshaus versammelt; Blumen und Bänder nickten von den Hüten, Spielleute gingen voran, der jüngste Bursche trug einen ungeheuren, ganz leeren Sack auf der Schulter und schon vor dem nächsten Bauernhause hielt der lustige Zug.

Als die lustige Schar den Rundgang durch das Dorf beendet hatte, wurde der gefüllte Schnappsack in das hellerleuchtete Wirtshaus getragen und dort die eingeheimsten Schätze überzählt. Auf dem Tanzplatz, der großen Lehmdiele, versammelten sich die Mägde, eine gewaltige Tafel wurde gedeckt und der Schmaus konnte beginnen.

Mettwurst, gebratene Kartoffeln und Warmbier bildeten die ganze Herrlichkeit, aber der Frohsinn würzte das Mahl, als enthalte es die kostbarsten Gerichte. Im Hintergrunde flammte auf dem Backsteinherd das mächtige Torffeuer, ganze Haufen von Eierschalen lagen umher und zeigten, wieviel Bier vertilgt wurde; lustig fiedelten und bliesen die Dorfmusikanten, denen immer etliche von den erbeuteten Talern in die Hände fielen, hin und her mit großen Krügen eilte Jakob Brahms, der geschäftige Wirt, dem es gelungen war, das Knechtsbier gerade auf diesen Tag zu verlegen.

Er selbst zeigte die größte Freigebigkeit. Das Bier und die Kartoffeln wurden ihm bezahlt, aber den Branntwein schenkte er umsonst – sogar die beiden französischen Zollwächter, welche im Hause ihr Quartier hatten, wurden ganz unmerklich in das Fest mit hineingezogen und erhielten besonders reichliche Mengen Branntwein, während denen, die draußen auf dem Deiche Posten standen, ihr Anteil hinausgebracht wurde.

»Sie sind ja auch Menschen«, sagte in gutmütigem Tone der Wirt, »was können die armen Jungen dafür, daß uns ihr Kaiser mit Krieg überzieht?«

»Nichts!« rief der Altknecht, indem er eine ungeheure Wurst auf die Gabel spießte. »Gar nichts! – da, Jakob Brahms, bringt den Franzosen auch einen Bissen!«

Der Wirt übermittelte das stattliche Geschenk den Empfängern und dann, als die Tafel aufgehoben war, ließ er den Tanz beginnen. Je mehr die allgemeine Fröhlichkeit überging in den Rausch, das tolle Treiben, desto leichteres Spiel hatte er selbst.

Einer der beiden Franzosen, ein junger hübscher Pariser, war artig genug, die wohlgerundete Frau Wirtin zum Tanze zu führen, das sicherte ihm die Gunst der ganzen Gesellschaft. Er sprudelte über vor lauter guter Laune, konnte tanzen wie nie ein Knecht von Neßmersiel gewalzt und Polka getanzt hatte, er sprach das Deutsch so urkomisch, daß sich die jungen Leute vor Lachen ausschütten wollten. Monsieur Guillaume – »Gilm« nannten ihn die übrigen – war der Held des Abends.

Ganz anders verhielt sich‘s mit seinem Genossen. Während der Pariser den Genever beinahe wie Wasser trank und am lautesten schwatzte und lachte, saß Bertrand, der andere Zollwächter, in einer Ecke und stützte den Kopf. Er hatte noch das erste Glas unberührt neben sich stehen, und als ihn Jakob Brahms aufforderte, doch an der allgemeinen Fröhlichkeit teilzunehmen, da wandte er sich ab.

»Ich mag nicht tanzen, Herr Wirt. Nix Vergnügen!«

»Aber warum denn nicht, Lothringer? Sie sind doch ein halber Deutscher, gehören ebensoviel zu uns wie zu den Franzosen, daher lassen Sie sich‘s wohl sein; trinken Sie und lachen mit den anderen.«

Bertrand schüttelte den Kopf. »Ab gehabt großen Kummer«, seufzte er.

Jakob Brahms setzte sich zu ihm. »Erzähle mir das, mein Junge«, flüsterte er vertraulich, »heraus damit! Hast du Schulden?«

Eine fahle Blässe überzog die Wangen des jungen Menschen. »Aben ich keine Schulden«, antwortete er, »nix ich, aber alte Mutter, das bringt mir Kummer. Mag ich nicht sehen tanzen und trinken!«

Jakob Brahms schien zu überlegen, in seinen Augen begann ein heimliches Funkeln und Glänzen.

»Lothringer«, flüsterte er, »schreibt dir deine Mutter, daß sie sich in Not befinde? Bittet sie dich um Geld?«

»Sie wohl wissen, ich nix haben! – Ach Gott, ach Gott, alles umsonst. Lassen ich anwerben mich pour la douane, geben alte Mutter Geld – aber sterben Vieh, große Mißernte haben in Weinstock, – nun alte Frau gepfändet werden, hinaus, fort, ganz arm. Pauvre femme!«

Jakob Brahms rückte immer näher. »Trinke doch erst einmal, mein Junge! Der Branntwein wird nicht schlechter, weil deine Frau Mutter in Ungelegenheiten gekommen ist. Wie hoch beläuft sich die Summe, mein Lieber?«

Bertrand seufzte wieder. »Sind große Geld, Monsieur. Fünfzig Taler!«

»Hm, das ist allerdings eine hübsche Summe. Höre einmal, Bertrand, mein guter Freund, was würdest du sagen, wenn dir jemand noch in dieser selben Stunde die fünfzig Taler bar und blank auf den Tisch zählen wollte?«

Der arme Junge schüttelte den Kopf, in seinem Auge glänzte es feucht. »Aben nicht so gute Freund«, seufzte er.

»Das weißt du noch nicht, Lothringer!«

Der Franzose mußte jetzt die Bedeutsamkeit in dem Tone des Wirtes doch wohl bemerken, etwas verlegen sah er ihn an. »Plait-il, monsieur?«

»Ich meine, was würdest du wohl dafür tun, wenn dir jemand das Geld gäbe, Bertrand?«

»Ach Gott, ich sein ihm dankbar ewig!«

Die heiße Hand des Wirtes legte sich auf seine Schulter. »Läßt du mit dir reden, Lothringer? – Das Geld ist gegen eine bestimmte Dienstleistung für dich bereit, hörst du wohl, es ist bereit! Jetzt gleich, in diesem Augenblick!«

Der junge Zollwächter horchte auf. »Große Geld!« flüsterte er. »Nix möglich! Was das sein, Monsieur Brahms?«

»Das ist wenig genug, Bertrand, aber doch für mich sehr viel. In drei Stunden habt ihr beide draußen auf dem Deiche den Dienst, du und der Pariser, nicht wahr?«

»Ja, Monsieur.«

»Gut Sieh dir deinen Kameraden an, Lothringer, er taumelt schon jetzt; in drei Stunden schläft er wie ein Murmeltier und du hast die Wache allein.«

»Diable m‘emporte! Monsieur Brahms wollen – wollen —« »Schmuggeln!« zischte der Wirt, indem er den anderen unausgesetzt im Auge behielt. »Ja, ich will schmuggeln, Bertrand, aber vorher gebe ich das Geld, welches deiner alten Mutter Haus und Hof erhalten soll. Du siehst zehn Minuten lang zufällig gerade nicht nach derjenigen Seite, von woher ein paar Lastwagen gefahren kommen – ist das so schwer?«

Der junge Mensch nickte traurig. »Sein Betrug«, seufzte er. »Nix möglich, Monsieur!«

Der Wirt legte sein Gesicht in die ernsthaftesten Falten. »Betrug?« wiederholte er. »Was du dir einbildest, mein guter Junge! Zuerst bist du der Sohn deiner schutzlosen alten Mutter, das ist für dich die nächste heiligste Pflicht, später kommt dann der Untertan des Kaisers, das wirst du ja nicht bestreiten wollen. Übrigens – ganz unter uns! – wer ist denn dieser sogenannte Kaiser? Puh! ein Advokatensohn, ein Emporkömmling, gar nichts!«

»Einerlei, Monsieur, ich aben gegeben mein Versprechen und das muß halten ein ehrlich Mann notwendig.«

Jakob Brahms nickte sehr kräftig. »Notwendig!« wiederholte er. »Bedingungslos, mein lieber Junge – denke also bitte darüber nach, wie oft du wohl deiner alten Mutter geschworen hast, ihr zu helfen, wo immer es dir möglich sei!«

Der Franzose schien betroffen. »Das ist wahr«, stammelte er.

»Siehst du wohl! Also nimm jetzt das Geld und du hast ein gutes Werk vollbracht. Was kümmert dich der Korse?«

Bertrand fuhr mit der Rechten durch das dichte Haar. »Sein ich unglücklich«, stammelte er.

Jakob Brahms hatte ihn keinen Augenblick außer acht gelassen; er erkannte seinen Vorteil und schmiedete das Eisen, weil es eben glühte.

»Wie du willst, Lothringer«, sagte er. »Laß deine Mutter im Stiche, ich kann es nicht ändern. Vielleicht habe ich auch alles nur zum Scherz gesagt.«

Der Zollwächter erschrak. »Monsieur Brahms«, seufzte er, »das gewiß sein, nur zehn Minuten auf die Seite sehen? Nix sprechen, nix helfen Schmuggler, keine déclaration abgeben?«

»Durchaus nichts. Wenn du die Pferdeköpfe siehst, wendest du dich ab, das ist alles.«

»Und Monsieur geben Geld vorher?«

»Auf der Stelle! Aber so trinke doch, Freund!«

Der junge Mensch nahm den Inhalt des Glases auf einen Zug. »Eh bien!« antwortete er. »Ich so tun.«

Jakob Brahms schenkte ihm aufs neue ein. »Sieh deinen Genossen, Lothringer, er sitzt in der Ecke und singt; du hast die Wache allein. Es ist jetzt für mich die allerhöchste Zeit, ich muß fort – komm mit in mein Zimmer.«

Er ging hinaus und der Zollwächter folgte ihm. Oben in der Giebelkammer stand die bäuerliche buntbemalte Holzkiste, diese wurde geöffnet und ein leinener wohlgefüllter Geldbeutel hervorgezogen.

Auf dem Tisch brannte das Talglicht, die Fenster standen weit offen. Jakob Brahms zählte. »Fünfundvierzig, achtundvierzig, fünfzig! – So, da hast du noch einen Taler mehr, mein Junge, das Postgeld will ja auch bezahlt sein. Nimm hin und Gott gesegne es deiner alten Mutter.«

»Danke! Danke!« flüsterte mit heißem Gesicht der junge Franzose. »Aber Monsieur wissen doch, was Präfekt bekannt gemacht hat? Erschießen die Schmuggler – fangen heute, exécution morgen.«

Ein tieferer Atemzug hob die Brust des Wirtes. »Ja, ich weiß es, Lothringer! Aber das kann mich nicht schrecken – die Sache ist schon zwanzigmal, hundertmal gelungen, sie wird auch heute nicht fehlschlagen.«

Noch während er sprach, fuhr ein Windstrom in das offene Fenster, verlöschte das Licht und streifte wie eine kalte Hand seine Stirn – er schauderte unwillkürlich, bezwang sich aber sogleich.

»Laß mich vorausgehen, Bertrand. So, dahin – und nun: Ein Mann, ein Wort! nicht wahr, du?«

»Gewiß! Gewiß!«

Sie gingen zur Gesellschaft zurück, der Wirt verständigte sich mit seiner Frau und eilte dann, nachdem er die Kleider gewechselt hatte, hinab zum Meer, wo an einer dunkeln Stelle eines jener schlanken langgestreckten Fahrzeuge lag, die mit ihren weißen Segeln wie Möwen über das Wasser dahinschießen.

Vom Sitzbrett erhob sich eine Männergestalt. »Endlich!« sagte tief atmend eine leise Stimme. »Wir werden kaum noch hinüberkommen.«

Es war Uve Mensinga; er setzte schleunigst mit Hilfe des Wirtes das Segel, nahm die Schot selbst in die Hand, und während jener steuerte, brachte er das Boot vor den Wind. Binnen Sekunden war es in der Finsternis verschwunden.

Auf Baltrum, im Hause des Wattfuhrmannes, harrten die Schmuggler. Damals besaß das Inseldorf, in dem noch heute keinerlei Fremdenverkehr besteht, von den gegenwärtig vierzig Häusern etwa fünfzehn; nur Fischer und Fuhrleute lebten auf dem einsamen Eilande, das seiner Bedeutungslosigkeit wegen der französischen Einquartierung entgangen war.

Andreas Fokke, der Wirt, hatte, als die größeren Schmuggelzüge begannen, so nach und nach seinen ursprünglich kleinen Wagenschuppen durch Anbauten erweitert und mehr Pferde, mehr Lastfuhrwerke zusammengekauft. Die Zollbehörden zu überlisten, das brachte größeren Gewinn als alle Arbeit miteinander.

Jetzt war auf acht große Wagen, in Kisten und Säcke verpackt, der Rest aus den beiden englischen Kaffeeschiffen verladen, schützende Decken lagen darüber, die Pferde standen gesattelt und man erwartete nur noch den Wattführer aus Neßmersiel, sowie den Eintritt der vollständigen Ebbe, um die letzte derartige Fahrt zu beginnen.

Das kürzlich erlassene grausame und tyrannische Gesetz der Franzosen machte es den Familienvätern unmöglich, sich weiteren Schmuggelunternehmungen anzuschließen – nur diese, schon auf Baltrum gelagerten Güter sollten noch auf das Festland hinübergeschafft werden, dann hatte das lustige Paschergewerbe sein Ende erreicht.

Andreas Fokke, Klaus Visser, Lars Meinders und Heye Wessel standen ungeduldig wartend beieinander, neben ihnen eine Anzahl englischer Seesoldaten, die den Zug nach Neßmersiel begleiten sollten. Jedes Gespann mußte seinen Kutscher haben, außerdem war es unerläßlich, daß die beiden Wattführer, Fokke und Brahms, vorausgingen, um in der Dunkelheit den richtigen Weg zu finden, denn nur sie allein kannten ihn.

Die Ebbe begann jetzt einzutreten, das Geschrei der Strandvögel kennzeichnete den Augenblick, wo ihr Tisch gedeckt wurde – wenn nun das Boot aus Neßmersiel nicht kam, dann galt dies Ausbleiben als ein verabredetes Zeichen; die Zollbeamten waren in diesem Falle unbestechlich gewesen.

Der Kapitän seufzte. »Das wäre sehr ärgerlich!« sagte er.

Niemand antwortete ihm. Die Stunde ängstlichen Harrens, das ungewisse Auf und Ab zwischen wachsender Furcht und erbleichender Hoffnung lassen keine ruhige Unterhaltung, ja nicht einmal einen beobachtenden Gedanken aufkommen; das Herz schlägt und die Stirn glüht; man horcht, späht, hört Geräusche, die nur in der Einbildung existieren, aber man bleibt stumm.

Leichte Schritte näherten sich dem Hause, Andreas Fokke riß die Tür auf und wollte den Befehl zum Einspannen schon geben, als er plötzlich die Arme sinken ließ. »Du bist es, Onnen? – Was willst du denn hier, Junge?«

Der Kapitän fuhr auf. »Wie kamst du hierher, Onnen? Habe ich dir nicht ausdrücklich verboten, das Haus in dieser Nacht zu verlassen?«

Der Knabe senkte den Kopf. »Bitte, lieber Vater, verzeihe mir. Ich konnte nicht ruhig in meinem sicheren Bette liegen, während der Tod nach dir die Hände ausstreckt. Laß mich mitgehen und an deiner Seite bleiben!«

»Nein! Tausendmal nein! Du sollst mit dem nächsten —«

»Nun, da seid ihr beisammen!« rief es von der Tür her. »Alles sicher, nirgend die verfluchten französischen Galgengesichter zu entdecken! Vorwärts, Kameraden! Mylords, ich grüße euch und habe auch mein bestes Faß nicht geschont, um euch einen Tropfen mitzubringen! Very well, Sir! All right!«

Und nachdem er in dieser Weise den Söhnen Albions seinen ganzen Vorrat englischer Worte ausgekramt hatte, reichte Jakob Brahms die wohlgefüllte Geneverflasche von einem zum anderen; Fokke und Lars Meinders zogen die Pferde hervor, reges Leben herrschte überall, und in diesem Treiben gelang es dem Kapitän nicht mehr, mit Erfolg den Bitten seines Sohnes zu widerstehen.

»So bleib denn!« sagte er. »Dieser Zug ist der letzte, darum mag dir der Ungehorsam hingehen.«

Ein Wagen nach dem andern wurde hinausgeschoben. Das Wetter hätte nicht günstiger gedacht werden können, und so schien es, als wolle das launenhafte Glück die Fahrt über das Watt ganz besonders begünstigen. Eine stattliche Anzahl von Pfunden lag auf den Wagen und versprach, da der unerhörte, den Wert übersteigende Zoll von zwei Frank für das Pfund erhoben wurde, einen reichlichen klingenden Gewinn. Zwei englische Kriegsschiffe bewachten das offene Fahrwasser, wobei ein Kanonenschuß von der Batterie eines derselben als Signal eines etwaigen Überfalles verabredet worden war. Solange alles ruhig blieb, befanden sich keine französischen Kanonenboote in der Nähe.

Sie glaubten es wenigstens.

Jakob Brahms und Andreas Fokke eröffneten den Zug, dann folgten die acht beladenen Wagen, deren Führer neben den Pferden gingen, und zuletzt mehrere Engländer. Sämtliche Männer rauchten kurze Pfeifen, Brahms erzählte, in welcher Weise er die Zollwächter unschädlich gemacht, und so bildete sich nach und nach in den Seelen aller jene ruhige Stimmung, die gerade infolge durchlittener Aufregungen so unendlich wohltuend wirkt – nur als einer der englischen Soldaten ein Lied anstimmen wollte, da hielt ihn der Kapitän zurück.

»Man muß das Schicksal nicht herausfordern, mein Junge. Der Löffel bricht zwischen Hand und Mund.«

»Still! Still!« rief Uve Mensinga. »Wer spricht gern von dem Schlage, welcher ihn im nächsten Augenblick treffen kann!«

»Ja, ja, es ist ein eigen Ding zu wissen, daß man die Todesstrafe verwirkt hat!«

Die englischen Soldaten lachten. Sie hatten bei Trafalgar mitgefochten und sehnten sich sehr, einmal ihre Kräfte mit denen der Franzosen zu messen, sei es selbst auf festem Boden, wie hier.

»Laßt sie kommen!« rief einer. »Meine Klinge ist durstig genug!«

»Still! Still! Man soll den Teufel nicht an die Wand malen.«

Hinter den Schmugglern erloschen die Lichter von Baltrum, während die des festen Landes noch nicht auftauchen wollten. Der Zug befand sich etwa in der Mitte des Watts, als ein Hund, den Andreas Fokke mitgenommen hatte, eine große gelbe Dogge, plötzlich stehenblieb und leise zu knurren begann.

Wie auf Verabredung wurden bei sämtlichen Wagen die Pferde angehalten. Blasse Gesichter sahen einander an, es lief auch den Mutigsten kalt durch alle Adern.

Der Hund zog die Luft ein, er knurrte leise, machte aber keine Miene, sich irgendeinem nahenden Feinde entgegenzuwerfen.

»Pikaß!« flüsterte Fokke. »Komm, Pikaß, was hast du?«

Der Hund nahm von ihm keine Notiz, er behielt offenbar einen fernen Gegenstand fortwährend fest im Auge.

Der Kapitän zog das Nachtglas hervor; er suchte längere Zeit und reichte dann dem neben ihm stehenden Heye Wessel das Instrument. »Wahrhaftig, mir ist es, als sähe ich da drüben einen unförmlichen Klumpen, einen dunklen Gegenstand«, flüsterte er. »Sieh hin, Wessel, was mag es nur sein?«

Der Angeredete nahm hastig das Glas. »Ich kann nichts entdecken«, antwortete er dann. »Und nun schweigt auch der Hund.«

»Laßt uns getrost vorwärtsgehen – es mag sich ja ein Seehund hierher verirrt haben oder es kommt jemand über das Watt, um nach Baltrum zu gehen. Vielleicht der alte Fischkäufer aus Dornumersiel.«

»Der wurde allerdings heute abend erwartet!«

»Seht ihr wohl! – Hallo, Hidde Emken, bist du da?«

»Laßt das Rufen«, warnte der Kapitän, »du weißt nicht, wer dich hört!«

»Ja, und es kann auch Hidde Emken ganz unmöglich sein, denn mein Hund kennt ihn genau!«

»Such, Pikaß! such!«

Das Tier blieb ruhig, es hatte längst aufgehört zu knurren. Andreas Fokke wandte sich zum Weitermarsch. »Es ist nichts«, entschied er. »Aber du bist heute abend gar nicht derselbe, Klaus Visser! Wie kommt das? Hast du irgendeinen Verdacht, Mann?«

»Durchaus nicht. Ich finde nur, daß man jedes Geräusch vermeiden müßte.«

»Vorwärts! Vorwärts!« rief Jakob Brahms. »Sollen wir am Ende gar den hellen Morgen über uns hereinbrechen lassen?«

Diese Ermahnung half. Der ganze Zug setzte sich wieder in Bewegung. Pikaß trabte neben seinem Herrn, ohne unruhig zu erscheinen – so rasch es der widerstandslose Boden erlaubte, bewegten sich die schweren Wagen vorwärts, und von sämtlichen Teilnehmern der kleinen Unternehmung war nur der Kapitän nicht ganz zu seiner früheren Sicherheit zurückgekehrt. Jeden Augenblick sah er durch das Nachtfernrohr.

»Es ist eine Sünde gegen deine Mutter, Onnen, daß ich dir überhaupt gestattete, uns zu begleiten! Was gäbe ich nicht willig hin, um diese Torheit zurückkaufen zu können.«

»Fürchtest du denn einen Verrat, Vater?«

Der Kapitän zuckte die Achseln. »Ich erwarte ihn nicht gerade, aber – ein dunkler Gegenstand, weder Watt noch Wolke, war‘s doch, den ich da hinten sah.«

Der Knabe erschrak. »Dann kehre um, Vater, ich bitte dich, kehre um! Auch die beiden anderen werden dir folgen und zuerst ihr Leben retten wollen!«

Ehe der Kapitän zu antworten vermochte, schoß Pikaß plötzlich den Männern voraus ins Dunkel und begann heftig zu bellen. Ein leichter Schrei wurde ausgestoßen, es klang wie »Sapristi!« – dann war wieder alles still.

»Franzosen!« raunte der Kapitän. »Ich dachte es!«

Onnen umklammerte seinen Arm. »Vater, ich flehe dich an, geh nach Baltrum zurück! Um Gotteswillen, tue es, tue es!«

Klaus Visser schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr, Kind. Sollte ich meine Kameraden zur Stunde der Gefahr im Stiche lassen? – Aber vielleicht war es eine Sünde, um des Mammons willen deine arme Mutter so sehr zu kränken!«

Während dieser eiligen, leise geflüsterten Unterhaltung schwieg der Hund wie zuvor, auch Menschenstimmen erklangen nicht weiter, wohl aber zog sich eine Kette dunkler Gestalten quer über den Weg und das, was vorhin als ein formloses Etwas erschienen war, trat jetzt in größerer Nähe scharf hervor – ein französisches Kanonenboot, das erst die nächste Hochflut wieder flott machen würde.

»Zurück!« flüsterte Heye Wessel. »Wir müssen die Waren samt Wagen und Pferden im Stiche lassen, um nur das nackte Leben zu retten!«

Die übrigen stimmten bei, hinter dem letzten Wagen ordneten sich die Schmuggler und begannen einer nach dem andern rückwärts zu schleichen, aber schon sehr bald mußten sie eine schreckliche Entdeckung machen. Auch von Baltrum her nahte eine Abteilung Franzosen – sie waren vollständig eingeschlossen.

Rechts und links das Meer, hinter und vor ihnen der Feind! Während mehrerer banger Minuten herrschte ein peinliches Schweigen.

Dann erhob Heye Wessel die Stimme zum lauten hallenden Schrei. »Ich muß es, Kinder, nun ist‘s ja auch einerlei! – So, so, nun laßt uns die Pferde besteigen und nach einer Seite hin durchbrechen – etwas anderes bleibt nicht mehr übrig.«

Und nochmals tönte sein Kampfruf weit hinaus. »Halloh ho, ho! – Halloh!«, dann hatte er die Stränge des ersten besten Pferdes durchschnitten und sich hinaufgeschwungen; die anderen folgten seinem Beispiel.

»So! Vorwärts mit Gott; reitet die Hunde nieder!«

»Nach Neßmersiel! Dort gibt es bessere Verstecke!«

»Pikaß! Pikaß! Hierher!«

Die Dogge winselte wie im Sterben. Ein Messerstich mochte sie getroffen haben – der Ton klang matt, versagend.

»Verfluchter Mörder!« rief Andreas Fokke, »du sollst die Untat büßen!«

Sämtliche Pferde bildeten mit ihren Reitern eine breite gerade Linie; der Kapitän und Onnen ritten nebeneinander, ihnen zur Seite die englischen Matrosen, deren Gewehre geladen in den Händen ihrer Eigentümer lagen. Ein Zungenschlag, dann setzten sich die Tiere in Galopp.

Aber nur für Sekunden. Das Manöver der Schmuggler war beobachtet worden, die Hähne der französischen Gewehre knackten und ein Hagel von Bleikugeln prasselte den Flüchtigen entgegen.

Die Wirkung war eine entsetzliche. Zwei Tiere stürzten, ins Herz getroffen, mit gellendem Aufschrei tot zusammen, einer der englischen Soldaten hatte einen Schuß in die Schulter erhalten, der Kapitän war am Fuß verwundet und Lars Meinders am Arm – wild erschreckt machten die Pferde kehrt, um in regelloser Flucht davonzustürzen.

Hinter der Linie von einer neuen Salve empfangen, stürmten sie bald hierhin, bald dorthin, überall vom Pulverblitz, dem Donner der Musketen verscheucht, dann bis an die Wassergrenze vordringend, dann zurückspringend auf die Mitte des Weges, verwundet, blutend, rasend vor Schmerz.

Im Todeskampfe schleppte sich Pikaß herbei, noch einmal suchte sein Auge das des geliebten Herrn, noch einmal winselte er traurig und streckte dann die Glieder, während Andreas Fokke neben ihm mit zwei Franzosen rang und sich gleichzeitig der beiden erwehrte.

»Da hast du es, Henkersknecht! Stirb, Räuber!«

Ein schwerer Schlag mit dem Kolben zerschmetterte den Schädel des Franzosen, dann packte der erbitterte kräftige Mann den zweiten und schleuderte ihn weit hinaus in den feuchten Sand.

Der Soldat blieb liegen wie ein Toter.

Auf der ganzen Linie rang Mann gegen Mann. Heye Wessel hielt eine den Franzosen abgenommene Muskete am Lauf und ließ sie wie ein Rad durch die Luft kreisen; dabei schrie er aus voller Kehle, so schmetternd, so durchdringend wie ein indianischer Häuptling, wenn er dem Feinde gegenübersteht.

Kein Franzose wagte es, sich dem Riesen zu nähern. Breitspurig stand er da; sein: »Halloh, ho, hoho!« zerriß die Luft, seine Augen funkelten, gleich einem Panther sprang er jetzt zu einer Gruppe, die in geringer Entfernung von ihm kämpfte.

»Was machst du da, welscher Schuft?«

Auf dem Boden lag Jakob Brahms und neben ihm, mit ihm ringend, kniete ein Franzose, in dessen Händen ein blankes Messer beständig die Brust des Wattführers arg bedrohte. Der Soldat suchte seine zusammengeschnürte Kehle aus den Eisenfäusten des derben Fehnbauern freizumachen, dieser dagegen wollte den Angreifer erdrosseln, um dann das Messer beiseite schleudern zu können.

Sie wälzten sich beide im Sande, bis Heye Wessel hinzukam.

»Los, du Satansbrut!«

Aber der Franzose hörte ihn nicht. Halb gewürgt, halb besinnungslos vor Schmerz und Mangel an Luft, raffte er seine letzten Kräfte zusammen, um sich zu retten. Die Todesangst verlieh ihm übermenschliche Stärke; blutend, röchelnd erhob er in einem günstigen Augenblick den rechten Arm und bohrte das Messer gerade in das Herz des Wattführers.

Sekundenlang griffen im Sterben die Finger des unglücklichen Mannes noch fester in das Fleisch des Mörders, dann aber erlahmten sie und ließen nach. Der Franzose riß mit einem einzigen Stoß den Arm des besiegten Gegners herab – eben wollte er sich taumelnd, blutüberströmt erheben, als ihn eine geballte Faust mit unwiderstehlicher Kraft abermals in den Sand streckte.

Heye Wessel lachte grimmig. »Du glaubst dich frei, nicht wahr, Schuft? Da hast du sechs unversorgten Kindern den Vater geraubt – das sollte so hingehen, nicht wahr?«

Und bei dem jedesmaligen Versuche, sich zu erheben, erhielt der Soldat von den Händen des Riesen einen Stoß, der ihn wieder zurückwarf. Heye Wessel, zum äußersten Zorn gereizt durch den Tod seines Freundes, Heye Wessel, der Riese, schleuderte jetzt das Gewehr von sich. »Komm her, Franzose, ich will dich zu Tode tanzen, will Ball mit dir spielen, du Kujon, du Räuberhauptmann – da hast du es!«

Er packte den viel kleineren Gegner und warf ihn in die Luft, zweimal, dreimal, dann stieß er einen Schrei hervor, der halb wie Lachen klang, halb wie das Schluchzen der Verzweiflung.

»So, der hat genug! Armer Jakob Brahms – es ist alles, alles verloren!«

Und so war es in Wirklichkeit. Wie Ameisen krochen die Franzosen auf und neben den Lastwagen herum, sie fingen die flüchtigen Pferde ein, sie hatten den verwundeten Lars Meinders davongeschleppt und zwei Engländer zu Gefangenen gemacht.

Fünf oder sechs andere kämpften heldenmütig mit einer überlegenen Zahl von Gegnern, ebenso Andreas Fokke und Uve Mensinga, die beide treulich den furchtlosen Briten zur Seite blieben. Heye Wessel sprang hinzu. »Macht mir Platz, Kameraden! Wo ist Klaus Visser mit seinem Jungen?«

»Da hinaus!« schrie Uve Mensinga, auf das Meer deutend. »Sein Pferd ging durch!«

Heye Wessel raffte ein Gewehr vom Boden und schlug blind und toll in die Reihen der Franzosen hinein. In diesen wuchtigen Hieben, in jeder seiner Bewegungen spiegelte sich das zornige Ringen des geknechteten Inselvolkes, der heiße glühende Haß gegen die französischen Unterdrücker. Hageldicht fielen die Streiche, aber wo ein Franzose fiel, da erstanden an seinem Platze sechs andere – die Sache der Schmuggler war von Anfang her zu ihrem Nachteil entschieden gewesen.

»Halloh!« rief Heye Wessel, »wer ist denn das da?«

Seine Faust packte einen todbleichen Mann, dessen schlotternde Knie keinen Fluchtversuch zuließen. »Aha, du bist‘s, Peter Witt! – Judas! Freust dich des gelungenen Werkes, nicht wahr?«

Der Verräter schauderte. »Laß mich, was tat ich dir, Heye Wessel? Jeder von uns hat seine Meinung für sich!«

Der Riese schüttelte ihn wie ein gebrochenes Rohr. »Wo ist Lars Meinders, du Elender? Wo ist Jakob Brahms? – Gute Friesen und tüchtige Männer sind gefallen um eines Verräters willen, andere werden morgen von den Schanzwällen herab erschossen – das alles ist dein Werk! Sei verflucht, Peter Witt, sei verflucht, so lange du über die Erde gehst, der Tod speit dich aus, du sollst leben, um zu leiden!«

Er schleuderte ihn von sich und versuchte es dann, den Baltrumer Wattführer aus den Händen der Franzosen zu befreien. Uve Mensinga war verschwunden; er hatte eins der flüchtigen Pferde ergriffen und den Weg zur Insel einen Augenblick offen gefunden. Andreas Fokke schlug um sich wie ein Verzweifelter, aber nach kurzem Widerstande war auch er überwältigt. Mehr als zwanzig Franzosen fielen ihm und dem Riesen in den Rücken; sie wurden beide gebunden an Bord der »Hortense« gebracht.

Ein frohlockender Blick traf Heye Wessels Gesicht. »Gedenkst du noch der Kisten mit Sand, dreister Schmuggler? Damals triumphiertest du, heute ist die Reihe an mir!«

Der Leutnant drehte vergnügt das Bärtchen. Ja, ja, die Scharte war ausgewetzt.

Und der Kapitän?

Sein Fuß blutete stark, er war vor Schmerz außerstande, das Pferd gehörig zu lenken, es stürzte blindlings in die Finsternis hinein, verfolgt von mehreren Schüssen, und taumelte dann, als eine Kugel getroffen hatte, zusammenbrechend gegen den Rand eines größeren Tümpels, wo es liegenblieb und schweratmend verendete.

Klaus Visser versuchte sich zu erheben, aber er fand bald, daß es ihm unmöglich sei. Der Fuß war jedenfalls gebrochen, ein entsetzlicher Schmerz folterte den eisernen Mann, er konnte sich nicht von der Stelle bewegen.

Und dennoch wurde der Gedanke an sein eigenes Schicksal ganz in den Hintergrund gedrängt durch den an seinen Sohn. Wo war Onnen?

Allein im Kampfe, vielleicht getötet, vielleicht gefangen, um demnächst erschossen zu werden. Der unglückliche Vater ächzte.

Er durfte nicht rufen, kein Geräusch verursachen. Ganz abgesehen von dem eigenen Verderben konnte er durch jedes Wort, jeden Laut auch das des Knaben herbeiführen.

Sein Herz schlug heftig; unter den brennenden Schmerzen der Wunde kreuzten sich in dem erregten Gehirn die widerstreitendsten Gedanken. War es recht, so den Gesetzen zu trotzen, nicht etwa aus Armut, gedrängt und getrieben von der bitteren Not des Lebens, sondern mit geheimer Freude an dem Verbotenen? War es recht, so alles aufs Spiel zu setzen – gewaltsam, rücksichtslos, nur aus Eigensinn?

Aber die Reue kam zu spät. Wenn vier oder fünf Stunden vergingen, dann rauschte die Flut heran und hohe Wogen wälzten sich über die Stelle, wo er lag. Dann war alles vorbei, die Franzosen um ihren Gefangenen betrogen.

Wie der Kampf tobte, wie Schrei um Schrei herüberklang. Das war Heye Wessel, aber in dem Tone, den er hervorstieß, lag kein Siegesjubel. »Ach, Onnen, Onnen, wo bist du? – Vergebe mir Gott die Todsünde, daß ich ihn mitgehen ließ!«

Er tauchte die Hand in das Wasser und goß es über den brennenden Fuß. Wie furchtbar der Schmerz, wie unerträglich!

Wenn er sich einmal, ein einziges Mal umwandte, wenn er nur für Sekunden seine Kräfte zusammenraffte, dann hatte ihn die tiefe Gate verschlungen und der Kampf war vorüber, er lag weich gebettet da unten im Wasser. Sollte er‘s tun?

Durch sein Inneres ging schwere Erschütterung. »Nein! Sünde häufen auf Sünde, noch dem Willen Gottes widerstreben im letzten Augenblick? – Nein!«

Er lag regungslos. Was da kam, das würde ihn vorbereitet finden.

Über den weißen Sand fiel ein Schatten, spähende Gestalten schlichen herbei, Franzosen, die das Pferd im Todeskampfe ächzen hörten und dem Schalle nachgingen. Jetzt sahen sie den Leichnam, aber wo war der Reiter?

Und dann hatte einer der Soldaten den Daliegenden entdeckt, ein erstickter Jubelruf brach über seine Lippen. Der Führer des Schmugglerschiffes – welch ein Fang!

Klaus Visser war außerstande, sich selbst zu helfen, er fühlte, wie Hitze und Kälte in seinen Adern wechselten – von fern drang das Toben des Kampfes bis zu ihm; er stieß einen Schrei aus, einen einzigen qualerpreßten Schrei, und dann verlor er das Bewußtsein.

Die Franzosen hoben ihn schleunigst auf und trugen ihn als ersten Gefangenen an Bord ihres Schiffes.

Einer hatte den Schrei gehört, ein einziger – Onnen. Die Stimme seines Vaters war zu ihm gedrungen, ein eisiges Erschrecken lief durch alle seine Adern. Er stürzte blindlings fort, unbekümmert um die Franzosen, welche ihn sahen, um die Kugeln, welche ihm nachgeschickt wurden, aber er beherrschte sich doch genügend, um den Ruf des Vaters wenigstens nicht zu beantworten.

Der Weg über das Watt war schmal, es konnte nicht schwer werden, hier einen Menschen, selbst einen verwundeten, aufzufinden. Onnen eilte vorwärts, das Kampfgetümmel blieb hinter ihm, er ließ sich nicht die Zeit, irgend etwas zu beobachten, sondern stürmte nur weiter, dem einmal gehörten Schalle nach – dann blieb er plötzlich erschreckend stehen. Nahe am Rande der Gate lag das tote Pferd – was war hier geschehen?

Raubvögel flogen auf, als er kam, kreischend und flügelschlagend, das Wasser glitzerte hell – von dem Kapitän war nichts zu entdecken.

»Vater!« rief halblaut, mit erstickter Stimme der Knabe. »Vater, wo bist du?«

Alles blieb still.

»Vater, um Gottes willen, gib Antwort!«

Nichts! – So sehr er auch horchte und spähte. Nichts!

Ein schauerlicher Gedanke hatte sich seiner Seele bemächtigt. Sollte der Kapitän, durch den jähen Sturz des Pferdes weitab in den Sand geschleudert, der Gate zu nahe gekommen sein? Sollte er da unten im Wasser liegen?

Onnen warf sich im selben Augenblick, als die Frage entstand, platt auf den Boden und streckte den rechten Arm bis über die Schulter in das Wasser, dann, als er nichts entdeckte, kroch er vorsichtig um den Rand der Vertiefung herum und untersuchte überall den Schlick des Grundes, der für seine Fingerspitzen gerade eben erreichbar blieb.

Während dieser eifrigen Nachforschung überhörte er es, daß sich zwei Männer der Stelle, wo das tote Tier lag, von verschiedenen Seiten näherten, beide vorsichtig schleichend, der letztere offenbar den ersteren beobachtend. Onnen kehrte ihnen den Rücken zu, er dachte im Augenblick nur an seinen rätselhaft verschwundenen Vater und ließ dabei die nötige Vorsicht ganz außer acht. Erst als der vorderste der beiden Männer das Pferd erreicht hatte, blickte er auf.

Vor ihm stand der Unteroffizier Durand von dem Kanonenboot »Hortense«.

Onnen erschrak heftig, der Franzose aber schien von förmlichem Entsetzen ergriffen. »Diable«, rief er, »schon wieder der Knabe!«

Und zurücktaumelnd riß er die Signalpfeife aus der Brusttasche, um Menschen herbeizurufen, um nicht länger allein zu bleiben mit dem, den er für ein Gespenst hielt.

Kräftige Arme verhinderten, ihn rückwärts zu Boden werfend, dies Vorhaben; die Pfeife flog weit hinaus auf das Watt, ein Knebel schloß den Mund des Franzosen, ehe er Zeit behielt, sich zu verteidigen.

Dann noch Hände und Füße mit Schlingen umwunden, und der überraschte Soldat konnte nur ächzen, aber keinerlei Fluchtversuch unternehmen.

Als Onnen den Kopf erhob, sah er das Gesicht seines unerwarteten Befreiers. »Uve Mensinga«, rief er aufstehend in schmerzlichem Tone, »wo ist mein Vater?«

»Ich weiß es nicht, Junge! Was machst du hier? Aber einerlei; komm schnell, ich habe ein Pferd, wir müssen eilen, um zur rechten Zeit nach Neßmersiel zu kommen.«

»Ohne meinen Vater? – Das kann ich nicht!«

»Natürlich, Onnen, natürlich. Vielleicht ist er längst drüben in Sicherheit.«

Onnen schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Mensinga. Nein, nein, der Vater wäre nicht geflohen ohne mich!«

Der Wattführer zuckte die Achseln. »Ich weiß davon nichts, aber mir deucht, hier lassen darf ich dich nicht. Nach einer Stunde kommt die Flut.«

Onnen weinte. »Aber wenn nun mein armer Vater verwundet, bewußtlos hier läge – wenn er einsam und verlassen von den Wellen begraben würde?«

Der Wattführer seufzte. »Wahrhaftig, Junge, du quälst mich!« rief er aus. »Wenn jemand für Klaus Visser durch Feuer und Wasser gehen würde, so bin ich es, aber hier ist nichts zu machen – wir müssen eilen, um selbst mit heiler Haut davonzukommen. Nebenbei können auch jeden Augenblick die Franzosen hier sein.«

Der Knabe trocknete seine immer wieder hervorquellenden Tränen und weigerte sich nicht länger, dem erprobten Freunde zu folgen. Aber vorher deutete er noch auf den wehrlos daliegenden Franzosen.

»Was machen wir mit ihm, Mensinga?«

»Wir überlassen ihn seinem Schicksal, das ist einfach genug.«

»Aber die Flut?« flüsterte Onnen. »Wollen wir ihm nicht wenigstens den Knebel aus dem Munde nehmen?«

»Damit er uns seine Spießgesellen auf den Hals zieht? – Denke an all den Jammer, den uns die Franzosen verursachen, und laß dir den Patron nicht leid tun.«

Er zog den Knaben ohne weitere Worte mit sich fort und zu dem Pferde, das er an einen Birkenstamm gebunden hatte. Sie bestiegen es beide, die Zeit drängte – eilig, mit lautlosen Schritten lief das Tier über den lockeren Boden.

Der gefesselte Unteroffizier blieb allein. Eine verzehrende Angst durchflutete alle seine Adern, ließ ihm die Augen fast aus den Höhlen treten – wenn das Wasser kam, so war es um ihn geschehen.

Er versuchte sich zu erheben und fiel wieder zurück, er wollte das Tuch aus dem Munde ziehen und konnte es nicht erreichen. All sein Blut schien Feuer, seine Glieder zitterten.

Sollte denn niemand hierherkommen? niemand?

Man mußte ihn doch vermissen, mußte suchen? – Wie langsam krochen die Minuten, wie unerträglich war dies Warten und Horchen.

Er dachte an das blasse Gesicht des Knaben, den er beinahe mutwillig in den Tod gehetzt. Als Franzose, als Zollbeamter war er nirgends gern gesehen, mußte sich zurückweisen lassen, wo er eine Annäherung versuchte, mußte sich von den Männern bedrohen und von den Frauen verabscheuen lassen, mußte im ewigen Einerlei des strengen Dienstes Jahr um Jahr an den öden Küsten der Nordseeinsel ausharren, das hatte ihn erbittert und gereizt, er wurde grausam, anstatt nur einfach seine Pflicht zu erfüllen, er peinigte und quälte die Fischer, wo es ihm möglich war.

Dann kam der Abend, an welchem ein kleines Boot über das Watt fuhr, eine Nußschale, in der ein halberwachsener Knabe saß. Er rief es an, er wollte auf brutale Weise den Gebieter spielen, und als der arme Junge nicht gleich antwortete, da ließ er das Fahrzeug in den Grund bohren. Ein leerer Raum zeigte sich, als er hinübersah, seinen Blicken, ein weißes Totenantlitz. Der Wind spielte mit blondem Haar – es war ein stilles, friedliches Bild.

Und dann kam der Tag, wo die Wellen den Leichnam an den Strand warfen, der Tag, wo ganz Norderney mit der beraubten Mutter weinte. Was die kahlen Dünen an spärlichem Blumenschmuck besaßen, das wurde auf den Hügel des Erschossenen gelegt – jedes Herz rief zum Himmel um Rache gegen die Unterdrücker, jedes verabscheute den Grausamen, der die Hand gegen ein wehrloses Kind erheben konnte. Er vergaß das alles nie wieder. Die Szene im sinkenden Boote verfolgte ihn bei Tag und Nacht – heute noch, vor wenigen Minuten war sie ihm abermals erschienen. Er schauderte. Die Boten des Todes klopften an, nun wußte er es.

Von fern her tönte ein Rauschen. Das war das Meer, es kam, um die altgewohnte Stätte zu überfluten, es mußte in kurzer Zeit hier sein.

Der Gefesselte riß und zerrte an seinen Schlingen. Nur die Arme frei, nur die Arme, dann war ja alles gut.

Aber Uve Mensingas Ledergurt hielt fest, er zerschnitt das Fleisch des Franzosen, ohne sich lockern zu lassen – es war unmöglich, diese Schlingen abzustreifen.

Möwen und Kampfhähne erhoben sich in die Luft – der Boden unter ihren Füßen wurde unsicher. Ein Hornsignal tönte aus weiter Ferne und ließ das Blut des Franzosen schneller durch die Adern kreisen. Das verabredete Zeichen vom Bord der »Hortense!« Sie rief die ihrigen zu sich, ehe das Watt vom Meere überströmt wurde.

Nochmals und zum drittenmal, immer dringender.

Durand horchte. Nun waren alle auf Deck versammelt, der Bootsmann verlas die Namen – er glaubte den seinigen zu hören. »Unteroffizier Durand!« —

Und nun schrieb der Schiffsführer in das Journal: »Vermißt!« – vermißt auf dem Watt, dem trügerischen Boden, der festes Land zu sein scheint und doch dem Wellenreiche angehört. Sie schüttelten alle die Köpfe, seine Kameraden, sie sagten halblaut: »Der kommt niemals wieder zu den Lebendigen zurück!«

Glühende Hitze durchströmte ihn. So jung, so ganz gesund, ohne Schmerz oder Fehl – und doch binnen kurzem tot, verloren, verloren – wie schrecklich!

Er hatte so sehr die Vorgänge auf dem Kanonenboote im Geiste beobachtet, daß ihm die Wirklichkeit zum Teil entrückt wurde. Das Rauschen des Meeres war näher und näher gekommen – jetzt lief die erste Welle, weißschäumend und langgestreckt, über seinen Körper dahin, ihn wie mit einem Strom von Eis berührend. Er schnellte auf, unfähig zu schreien oder sich zu erheben, er ächzte in schrecklicher Qual. Keine Rettung unter dem weiten Himmel, keine.

Die Welle lief ab und wieder auf, er kannte den Vorgang, er hatte ihn aus Langeweile hundertmal beobachtet – sie würde noch oft, oft wiederkehren, ehe die Stelle erobert war – einmal aber blieb sie im Besitz – und dann?

Und dann?

Er sank in sich zusammen, er gab alles auf. Eine Art von Taumel bemächtigte sich seines Gehirnes, nur ein einziger Gedanke, fast ein Gebet, schwebte ihm vor: »Schneller! – Schneller!« Und Gott erbarmte sich des Unglücklichen. Eine rauschende Woge kam daher, höher als alle vorigen; auch sie sank noch einmal zurück, aber als sich der Schaum verlaufen hatte, da war die Stelle, wo der Franzose gelegen, leer.

Tief unten auf dem Grunde der Gate umfingen ihn die Wasser mit feuchten Armen, das unruhig schlagende Herz stand still, das Hämmern hinter der heißen Stirn hätte aufgehört für immer.

Allmählich begann die Nacht der Morgendämmerung zu weichen. Es legte sich wie ein weißer Schimmer über das Watt, erste rosige Sonnenblitze tauchten in den Nebel und verdrängten ihn immer mehr und mehr.

Uve Mensinga zügelte das Pferd und beide Reiter saßen ab.

»Wir müssen uns hier trennen, mein Junge; kämen wir vereint nach Neßmersiel, so könnte das Aufsehen erregen. Geh voran, Onnen!«

Der Knabe bot ihm seufzend die Hand. »Ich danke Euch, Mensinga! – O lieber Gott, was soll ich meiner armen Mutter sagen, wenn sie mich fragt, weshalb ich allein komme?«

Der Wattführer drückte ihm traurig die Rechte. »Ich spreche heute noch vor, Kind – hüte dich, irgendwie den Verdacht der Franzosen zu erregen. Du weißt von nichts, warst in Norden, um Verwandte zu besuchen, vergiß das nicht. Adjes!«

Und dann ging er seitab, um den Deich an einer anderen Stelle zu überschreiten.

Onnen blieb allein; jetzt mußte er sich zusammennehmen, mußte ein ruhiges Gesicht zeigen, obwohl ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Gemäßigten Schrittes näherte er sich der Treppe.

Ein junger Zollbeamter sah ihm entgegen, ebenso blaß wie er selbst, er redete ihn an, sobald Onnen den Kamm des Deiches erreicht hatte.

»Kommst du von Baltrum, mon ami?«

»Ja«, antwortete der Knabe.

»Ah, c‘est bien! Aben du gesehen monsieur Brahms? Er ist gehen gestern hinüber und nicht kommen retour!«

Onnen sah ihn an, kaum fähig zu sprechen. »Sind Sie Herr Bertrand?« fragte er.

»Oui! Oui!«

»Nun, dann kann ich‘s Ihnen sagen. Jakob Brahms ist tot!«

»Ciel! – Er sind ertrunken?«

»Nein, Herr Bertrand. Er ist im Kampfe mit Ihren Landsleuten erstochen worden. Es ist für uns alles verloren!« Und Onnen ging weiter, so schnell er konnte. Er mußte Gewißheit erlangen über das Schicksal seines Vaters; die Unruhe tötete ihn fast.

Der Franzose stand und sah ihm nach. Im Wirtshause waren die Töne der Musik längst verstummt; ein ödes Grau lag zwischen den Häusern.

Tot, tot der Mann, dessen Hand noch vor wenigen Stunden so lebenswarm die seinige gedrückt, dessen Stimme so schmeichelnd zu überreden wußte. Tot – wie gräßlich!

Scheuen Blickes sah der junge Mensch nach allen Seiten. Er hatte das gesetzwidrige Unternehmen begünstigt, er hatte für ein strafbares Schweigen Geld erhalten.

Eine schnelle Bewegung brachte die Hand in die Tasche. Im Morgenlicht blitzte es auf, dann plätscherte unten das Meer, als sei ein schwerer Gegenstand hineingefallen – nochmals und nochmals. Der Franzose atmete tief!

»Soll nicht aben alte Mutter das Sündengeld. Non, non, pardonnez-nous nos offenses! – Ach, arme monsieur Brahms, gute Mann, gute Vater – nun tot!«

Und erschüttert im innersten Herzen nahm der junge Mann die Wanderung wieder auf. Diese Nacht hatte ihm mit ihren Ereignissen eine furchtbar ernste Lehre gegeben.

Onnen eilte unterdessen vorwärts, so schnell er konnte. Ein Bauernwagen, der von Neßmersiel nach Norddeich fuhr, nahm ihn bis dahin mit, dann ging er in einer der anwesenden Schaluppen hinüber nach Norderney.

Wie schlug ihm das Herz, wie schwer wurde es, nirgends zu fragen, sich durch keine Miene zu verraten. Er fühlte, daß seine Kräfte zur Neige gingen.

Der Weg von der Landungsstelle bis zum elterlichen Hause war nicht weit, er legte ihn in Sprüngen zurück und öffnete die Tür, um mit einem einzigen Blick die Sachlage zu beurteilen.

Seine alte Mutter und Folke Eils sahen ihm fragend entgegen, der Raum war leer, beide Frauen hatten geweint – sie wußten offenbar von dem Hausherrn so wenig wie er selbst. Ihn schwindelte, bunte Farben erfüllten die Luft, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, brach er in tiefer Ohnmacht auf der Schwelle der elterlichen Wohnung wie leblos zusammen. Die böse Botschaft hat Flügel, sie durchmißt in eilendem Laufe die größten Entfernungen, sie dringt hinter die verschlossenen Türen und findet Wege, wo immer es sei.

Das Kanonenboot lag an seiner gewohnten Stelle, auf dem Verdeck gingen die Ereignisse ihren alltäglichen Gang und nichts Besonderes wäre zu bemerken gewesen; aber dennoch wußte binnen wenigen Stunden die ganze Bevölkerung der Insel, was während der verwichenen Nacht auf dem Watt zwischen Baltrum und Neßmersiel geschehen war.

Unten im Raume des Kanonenbootes lagen gefesselt an Händen und Füßen die Gefangenen des heißen Kampfes, Klaus Visser, Heye Wessel, Lars Meinders und Andreas Fokke, neben ihnen zwei englische Marinesoldaten mit einem Unteroffizier – jedermann auf Norderney wußte es und jeder kannte den Verräter, dessen niederträchtige Treulosigkeit die Schmuggler ihren Feinden in die Hände lieferte.

Peter Witt sah aus, als habe er bereits im Grabe gelegen. Er schien nur zagend das Kanonenboot zu verlassen, er bebte heimlich, wenn ihm auf dem Wege in das Dorf irgendein Mensch begegnete.

Einen Augenblick hatte er daran gedacht, abzureisen, aber war dann nicht alle seine Mühe umsonst? Jetzt mußten sich die Franzosen seiner Ansicht nach dankbar beweisen, mußten ihn mit Ehren und Auszeichnungen überschütten. Wenn das die Norderneyer nicht mit ansahen, ihn nicht im Herzen auf das äußerste beneideten, welch einen Wert hatte dann noch die Sache?

Nein, bleiben wollte er doch um jeden Preis. Gleich nach dem Ereignis war ein Kanonenboot hinübergegangen nach Norddeich und hatte von dort aus einen reitenden Boten nach Emden geschickt. Der Präfekt Jeannesson mußte gegen Abend eintreffen – dann gewannen für ihn die Dinge ein anderes Ansehen.

Er konnte sich nicht entschließen, sein Haus aufzusuchen, sondern bog rechts ab und wanderte ziellos an den im Bau fast vollendeten Schanzen vorüber bis zur verfallenen Hütte der alten Aheltje. Vielleicht würde ihm die Hexe den Schleier der verhüllten Zukunft ein wenig lüften, ihm sagen, welche Ehren und Freuden seiner warteten.

Sonderbar – er hatte monatelang mit allen Kräften, allen Mitteln danach gestrebt, die Schmuggler zu entlarven, und jetzt, da es geschehen war, schlug ihm das Herz bis in die Kehle hinauf. Er glaubte immer, es stehe jemand hinter ihm – er fühlte sich mehr als nur unbehaglich.

Und dann öffneten sich seine Augen vor Erstaunen so weit als möglich. Über Nacht war die Hütte der Alten wie vom Boden verschwunden; ein paar Trümmer lagen umher, Splitter und Fetzen, das war alles.

»Aheltje!« rief er stillstehend, »Aheltje, wo bist du?«

Niemand antwortete ihm, aber er hörte aus den Dünen eine schwache zitternde Stimme, eine bekannte Melodie, deren Klänge ihn vom Kopf bis zu den Füßen eisig durchschauerten.

»Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.«

Leise schlich er näher. Im tiefen Tal einer Düne, unter dem Schatten dichter Erlen saß Aheltje und sang. Das graue Haar hing wirr um den Kopf, eine breite Wunde klaffte an der Stinte, die Handgelenke zeigten schwarze Flecke. Im Schoß hielt die arme Alte ihren Liebling, den grauen Murr, aber tot – ein schrecklicher Anblick, da ihm der Kopf fehlte.

Die bebenden Lippen sangen das Lutherlied voll gläubiger Zuversicht, die Hände, blutend und verkrümmt, streichelten das graue Fell des toten Tieres. Allein in dem großartigen Schweigen der Dünenwelt, ganz allein mit ihrem bitteren Weh, predigte sich die Alte von jener Gerechtigkeit, die nie erlahmt, jener Vatergüte, auf die kein Lebender vergeblich baut. Sie sang ihr wildschlagendes Herz zur Ruhe – jeder Ton trug eisiges Erschrecken in die Seele des Verräters.

Er glitt hinab in das Tal und stand dicht vor ihr. »Aheltje!« sagte er mit unsicherer, heiserer Stimme.

Langsam hob die Alte den Kopf, ein blasses entstelltes Gesicht sah ihn an, die blutende Hand deutete auf den Ausgang der Schlucht.

»Hinaus!« sagte sie ruhig. »Die Welt ist groß, auch ohne diese Düne; laß sie mir, Kain, geh fort, ehe ich dich verfluche.«

Er zuckte die Achseln, vergeblich bemüht, sich den Sinn ihrer Rede zu leugnen. »Was habe ich dir getan, Aheltje? Wo – wo ist dein Haus?«

Sie wiegte den Kopf gleich einer Irrsinnigen. »Frage den Wind, Verräter, frage die Franzosen, deine Freunde. Sie sind zu mir gekommen und verlangten das Rezept des Saftes, der Zauberkräfte gibt, sie haben meine Hütte in Trümmer geschlagen und mich mißhandelt. Sieh da das Blut, die Wunden – nimm‘s auf dein Gewissen, Peter Witt! und mög‘s dich brennen, bis du Buße tust vor Gott.«

Sie erhob sich mühsam von ihrem Sitz, sie trat, das tote Tier hoch emporhebend, dem erschreckten Mann näher. »Was gilt mir mein verlorenes Haus, du Unseliger, was gelten mir die Säbelhiebe der Franzosen, wenn ich diesen toten Körper ansehe? Weißt du, was mir die Katze war, Peter Witt? – Was glücklichen Menschen ihre Kinder und Geschwister, ihre Verwandten und geliebten Wesen sind! Das letzte lebende Geschöpf, an dem meine Seele hing, das letzte, welches mich liebte! – Du hast mir‘s geraubt!«

Er ging immer Schritt um Schritt rückwärts, die Hände streckte er vor und die Blicke hielt er fest auf das Gesicht der Alten geheftet.

»Sei doch nicht gleich so böse, Aheltje, ich habe dir die Franzosen nicht auf den Hals geschickt, und was deine Katze betrifft, lieber Gott, so schenke ich dir dafür zehn andere!«

Die alte Frau schluchzte. »Zehn andere!« wiederholte sie. »Ach, Peter Witt, du reicher müßiger Mann, du, der du über viele Tausende gebietest – meinen armen Murr kannst du mir nicht wiedergeben. Ich hab‘ ihn neugeboren am Strande gefunden und hab‘ ihn aufgezogen wie ein Kind – womit wolltest du mir seine Liebe ersetzen? Geh, geh, Unglücksmensch, und lasse dich nie wieder hier an dieser Stelle sehen, bis ich tot bin, erlöst!«

Sie weinte bitterlich, ihr graues Haar flatterte im Wind, ihre Hände bebten. »Fort!« rief sie. »Fort! Was willst du von mir, Peter Witt?«

»Aheltje«, schmeichelte er, »liebe beste Aheltje, du sollst mir die Karten legen! Wenn gute Nachrichten darin stehen, lasse ich dir auch dein Haus wieder aufbauen!«

Die »Hexe« schauderte. »Auch meine Karten«, murmelte sie, »auch meine Karten, nun erst fällt mir‘s ein. Die Kinder hatten damit gespielt, meine Knaben, ich liebte die alten Blätter so innig! – Alles dahin, alles zerstört, es sollten ja Zauberkräfte darin verborgen sein!«

Peter Witt erschrak. »Du hast keine Karten mehr, Aheltje? – Ich will andere holen, ich komme rasch zurück.«

Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich mag nichts mit dir zu schaffen haben, Kain, nichts, nichts. Geh, laß mich in Ruhe mein armes Tier verscharren.«

Sie begann, ohne die Gegenwart des Verräters weiter zu beachten, den losen Sand mit ihren Händen aufzugraben. Ob er bat und flehte, ob er Geld anbot, oder Drohungen hervorstieß, sie schenkte ihm keinen Blick, bis er endlich davonging, böse und unruhig, das Herz voll schlimmer Ahnungen.

Nicht nach Hause – ihm graute davor.

Und so schlich er umher, ziellos, zwecklos, bald bis zur Reede, dann an den Herrenstrand, hinauf zum schwarzen Kap. Zur Ewigkeit dehnte sich der Tag; erst gegen Abend kam das ausgeschickte Kanonenboot zurück und brachte den Präfekten nach Norderney – jetzt wurde Peter Witt ruhiger.

Ob wohl ein neuer Orden für ihn schon in Bereitschaft lag?

Sicherlich erhielt er doch noch heute abend eine Einladung zu Seiner Exzellenz, Herrn Jeannesson – ja, und da mußte er schleunigst an einen andern Anzug denken.

Schnelle Schritte brachten ihn nach Hause, wo sein Sohn vor der Tür saß und einen Schwarm gleichaltriger Knaben um sich versammelt hatte. Sobald er kam, traten alle zur Seite, stumm, ohne Gruß, ohne ein einziges Zeichen des Hasses oder der Teilnahme, nur sein eigener Knabe griff nachlässig an die Mütze.

»Jetzt sitzen die Schmuggler in der Falle«, sagte er hämisch. »Onnen Visser liegt sterbenskrank – sie haben schon aus Norden für ihn einen Doktor verschrieben.«

Sein Vater erschrak. »Ich verbiete dir, mit irgendeinem Menschen Streit anzufangen, hörst du, Adam! Komm her und bürste meine Stiefel.«

Der Junge reckte sich. »Das kann Frau Olters tun«, brummte er. »Wohin willst du denn schon wieder, Vater?«

»Komm her und bürste meine Stiefel!«

»Ich mag nicht!« gähnte der hoffnungsvolle Sohn, darauf versenkte er beide Hände in die Taschen und schlenderte davon, unbekümmert um den Vater, der ihm noch einige Male vergeblich nachrief und dann, da Frau Olters, die Wirtschafterin, nicht zu Hause war, notgedrungen seinen eigenen Kammerdiener spielte.

Er wurde aus dieser emsigen Beschäftigung sehr unangenehm aufgeschreckt. Ein Stein flog durch die Scheiben und fiel dicht vor ihm auf den Fußboden – ein zweiter und dritter, ein ganzer Hagel von Wurfgeschossen folgte dem ersten.

Peter Witt taumelte vor Schreck. Er sprang an das Fenster und suchte dann instinktmäßig Schutz hinter einer halbgeöffneten Tür. Auf der Straße stand Kopf an Kopf eine dichtgedrängte Menge, unaufhaltsam flogen Steine gegen das Haus, unaufhaltsam tönten Flüche und Verwünschungen. Ganz im Vordergrunde sah er Heye Wessels ältesten Sohn – ein Grauen ohnegleichen überfiel ihn, mit einem einzigen Satz war er durch die Küche und zur Hoftür hinaus.

Der Präfekt sollte ihm helfen. Ein siedendes Donnerwetter mußte den Meuterern auf die Köpfe fallen. Atem schöpfend stand er still. Es klirrte und prasselte, es polterte, wie wenn Mauerwerk stürzt und Dachsparren brechen. Weiberstimmen riefen, Hunde bellten – die Justiz des erbitterten Volkes vollzog sich unaufhaltsam.

Peter Witt lief, so schnell er konnte, bis zum Badehause. Dort wohnte für die nächsten Tage der Präfekt aus Emden und eben diesen wollte er zur Hilfe rufen.

Sechs Mann Einquartierung für jedes Haus mußte es geben, Peitschenhiebe – Peter Witt bebte vor Wut. Wer ersetzte ihm sein Eigentum? Wer bezahlte den Schimpf?

Er stürmte weiter, bis ihn ein Wachtposten anhielt. Es kostete außerordentliche Mühe, in das Zimmer des Präfekten einzudringen, vieles Bitten und Warten – Peter Witt fing an, seine persönliche Wichtigkeit für weniger bedeutend zu halten, er sah sich geradezu wie einen überlästigen Bittsteller empfangen.

Der Präfekt sprach mit den Offizieren von der »Hortense«, auch Oberst Jouffrin war zugegen. Er sah den Verräter an. »Wer ist dieser Mann? Was will er?«

Einer der Offiziere sprach einige französische Worte, worauf sich der Blick des Präfekten bemerklich verfinsterte. »Was wünschen Sie?« fragte er kalt. »Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen.«

»Exzellenz«, stammelte der Verräter, »Exzellenz, ich bitte um Schutz. Man zerstört mein Haus, ich bin bedroht!«

Der Präfekt Jeannesson, der, wenn auch Feind, doch ein ehrenwerter und menschenfreundlicher Mann war, zuckte die Achseln. »Das wundert mich eben nicht«, versetzte er. »Sie waren, wie ich höre, der, welcher die Schmuggler verriet?«

Peter Witt drehte die Mütze zwischen den Fingern, er wurde bald blaß, bald rot. »Exzellenz«, stammelte er, »meine Verehrung für Seine Majestät, den Kaiser, meine – ich.«

»Sie waren es, der die Schmuggler verriet?«

»Ja, Exzellenz.«

Der Präfekt wandte sich ab. »Dafür können Sie von Ihren Landsleuten, den Brüdern und Freunden derjenigen, welche jetzt auf der Schanze erschossen werden müssen, wahrlich keinen Dank erwarten«, sagte er.

Der Verräter hatte eine Empfindung, als drehe sich unter seinen Füßen die Erde. »Exzellenz«, rief er, »dürfen denn die Leute mein Eigentum zerstören?«

»Das kümmert mich nicht, es ist Sache der Polizeigewalt. Sie können jetzt gehen.« Das Tigergesicht des Obersten schob sich in den Vordergrund. »Exzellenz, man könnte einige fünfzig Mann hinschicken und die Rädelsführer verhaften lassen, nicht wahr?«

In Monsieur de Jeannessons Augen blitzte es plötzlich auf. »Damit ein offenbarer Aufruhr entstände, mein Herr Oberst? Damit noch mehr Blut fließen müßte? – Ich habe nie gehört, daß im Kriege die Spione mit Schutzwachen versehen werden, und gedenke also auch hier keine derartige Neuerung einzuführen. Der Mann ist entlassen.«

Ehe eine halbe Minute verging, sah sich Peter Witt draußen vor der Tür, ohne so recht zu wissen, wie er dahin gekommen war. Man hatte ihn geschoben und vorwärts befördert, bis er wieder unter Gottes freiem Himmel stand.

War es denn möglich – ihn? Ihn selbst? Ja, und wo blieb der erhoffte Orden?

Einfältiger war er sich noch nie vorgekommen als in diesem Augenblick. Aber eines wußte er gewiß, daß man sein Haus in Trümmer schlug; er hörte das Brechen und Krachen, das Jubeln der Menge. »Werft Feuer hinein!« rief eine Stimme.

Das Wort lieh ihm Flügel, er lief spornstreichs zur Wohnung des Amtsvogtes und ließ sich nicht einmal erst Zeit genug, um anzuklopfen. Als er die Tür aufriß, saß gerade die Familie des Dorfbeherrschers beim Abendbrot – aller Augen sahen ihn an.

»Guten Abend!« rief er hastig. »Vogt, du mußt gleich mit mir kommen, die verrückten Kerle ruinieren mein Haus.«

Der Amtsvogt nahm bedächtig einen großen gebratenen Fisch von der Schüssel und zerlegte ihn auf seinem Teller in Stücke, dann begann er so ruhig seine Mahlzeit, als sei im Zimmer kein fremder Zeuge anwesend, ja er sprach sogar mit der Frau Vögtin. »Hast du noch einen Trank Nordener Bier im Keller, Mutter?«

»Gleich, mein Alter!«

Die geschäftige Frau ging mit einem Steinkruge und einem Bund Schlüssel an dem Verräter vorbei, als sei er leere Luft; Peter Witt fühlte, wie ihm das Blut heiß zu Kopf stieg, er zitterte.

»Hörst du mich nicht, Vogt?«

Keine Antwort. Auf den Gesichtern der Tischgenossen erschien ein heimliches Lächeln, etwas wie schadenfrohe Genugtuung; sie aßen fort, ohne den Verräter irgendeiner Beachtung zu würdigen.

Peter Witt floh aus dem Zimmer, wie von Furien verfolgt.

Rote Lohe schlug ihm entgegen – es war sein Haus, das da brannte. Er schrie laut auf, Furcht und Habsucht stritten in seiner Seele um die Oberhand. Sollte er hingehen und sich vielleicht von den erbitterten Fischern totschlagen lassen, oder sollte er müßig zusehen, wie man sein Eigentum vernichtete?

Unwillkürlich gedachte er in diesem Augenblick der »Hexe«. Wie Aheltje verlassen und heimatlos unten auf dem Grunde der Schlucht saß, blutend, verzweifelnd, des letzten beraubt, so wurde er ohne Dach und Fach auf die Straße geworfen und niemand lebte, der ihm Beistand geleistet, ihm zu seinem Rechte verhelfen hätte.

Noch stand er zögernd, überlegend, als sich die Tür des Amtsvogtes öffnete und der Würdenträger selbst heraustrat. Er ging mit schnellen Schritten dem Flammenscheine nach.

Peter Wirt eilte an seine Seite. »Vogt«, sagte er, »du wirst doch die Mordbrenner zwingen, mir Schadenersatz zu leisten?«

Der Amtsvogt blieb ihm auch diesmal die Antwort schuldig. Er ging über den ungepflasterten Weg, so schnell es der tiefe Sand erlaubte, ohne dem nebenher trabenden Verräter die mindeste Beachtung zu schenken.

»Vogt, so sprich doch – Mensch, was habe ich dir getan?«

Keine Silbe fiel von den Lippen des Gestrengen. Als ihn ein zufällig näherkommender Fischer anredete, war er freundlich wie immer, ja sogar gutgelaunt, wie es schien. »Was ist da unten los, Matthias?« sagte er. »Ein Feuerwerk?«

Der Fischer bohrte förmlich die Blicke in das blasse Gesicht des Verräters. »Ja«, sagte er, »ein Feuerwerk. Schade, daß man den Lump, dem der Kasten gehörte, nicht gleich mit verbrennen kann!«

»Sehr schade, da hast du recht.«

Peter Witt gehörte nicht eben zu den mutigen Naturen, aber er empfand doch einen so starken Groll, daß es ihm unmöglich war, neben den beiden Männern des Weges zu gehen, er sprang daher auf die andere Straßenseite hinüber und kam im gleichen Augenblick mit ihnen bei der Brandstätte an.

Das leichte, mit Stroh gedeckte Haus lag in Asche, nur ein etwas seitab stehender Schuppen war vom Feuer verschont geblieben; eine dichtgescharte Menge umgab die noch glimmenden Trümmer.

Der Vogt hielt beide Hände in den Taschen. »Also Feuer«, sagte er. »Na, es hat ja weiter keinen Schaden angerichtet – ehrlicher Leute Hab und Gut ist nicht verloren gegangen. Ich denke, niemand von euch weiß, wie die Flammen entstanden sind?« Man lachte. »Natürlich nicht, Herr Amtsvogt!«

»Das glaube ich. Nun gebt ihr aber hübsch acht, daß die Nebengebäude unbeschädigt bleiben, dafür mache ich euch verantwortlich.«

»Verlaß dich darauf, Vogt!«

Der Würdenträger wollte sich wieder entfernen, höchstwahrscheinlich um sich die zweite Hälfte seiner riesigen gebratenen Scholle zu Gemüt zu führen, dann aber wandte er plötzlich den Kopf, der lächelnde Ausdruck des Gesichtes verschwand, auch die Stimme klang sehr ernst.

»Hört, Leute!«

Eine allgemeine Stille folgte dem lauten Sprechen und Lachen, das eben noch die Menge beherrscht hatte, jeder einzelne horchte.

Der Vogt hob warnend den Finger. »Wenn sich der Halunke, der Peter Witt hier zeigen sollte, so darf ihm persönlich kein Leid geschehen. Berührt ihn nicht, Leute, krümmt ihm kein Haar!«

»Allstunds, Vogt. Wir verstehen dich vollkommen. Bis Klaus Visser und Heye Wessel, die besten Männer von Norderney, da oben auf der Schanze sterben, hat es Zeit.«

Der Vogt nickte und ging dann seines Weges; Peter Witt fühlte, wie ihm die Zähne im Fieberfrost gegeneinander schlugen. Er wurde behandelt wie ein Abwesender, ein Toter, man übersah geflissentlich, daß er zugegen war.

Der Halunke! hatte ihn der Vogt genannt, er knirschte heimlich; ein Gedanke, feige und falsch wie seine ganze Seele, gewann in ihm die Oberhand. Für Geld würden die Leute schon gefällig werden – der reiche Mann war er ja immer noch, auch wenn das Haus fehlte.

An der anderen Seite wohnte ein Bäcker; er ging hinüber und warf mit hochfahrendem Wesen ein französisches Goldstück auf den Zahltisch. »Gib mir das Brot da, Nachbar!«

Der Bäcker pfiff leise vor sich hin. Als sei er allein im Laden, nahm er einen Handbesen und fegte über den Tisch, wobei die Münze ihrem Eigentümer klirrend vor die Füße fiel, dann wandte er sich zu denen, die von draußen her Kopf an Kopf in die offene Tür hineinsahen, und sprach mit ihnen, als habe er den Fordernden gar nicht bemerkt.

»Ich will Brot kaufen!«, rief dieser, jetzt völlig aus der Fassung gebracht.

Die Leute plauderten fort; Hitze und Kälte wechselten unaufhörlich in den Adern des Verräters, er hatte ein Gefühl, als müsse er ersticken. Sobald er sich der Tür näherte, traten die Versammelten beiseite; man ließ ihn hindurchgehen ohne ein Wort, eine Bewegung, wie der Wind ungehindert passiert, wo immer er mag.

Peter Witt erkannte jetzt, wie es um ihn stand. Er war geächtet.

Ja, geächtet. Es würde ihm niemals möglich sein, die frühere Stellung unter den ehrlichen, aber derben Norderneyern wiederzugewinnen.

Und doch beherrschte ihn, je länger, desto mehr, eine leidenschaftliche Sehnsucht, sich auszusprechen, von irgendeinem Menschen das Wort der Teilnahme, wenigstens überhaupt eine Antwort zu hören; er hatte schon den Verlust des Hauses ganz übersehen, er dachte nur mit Grauen an das Alleinsein, zu dem ihn die Leute zu verurteilen schienen, an die Notwendigkeit, fernerhin das Schicksal des Ausgestoßenen zu ertragen; eine wahre Todesangst kroch in sein feiges Herz.

»Sie werden ja nicht alle so hartnäckig sein«, dachte er. »Ich muß es nur einmal an einer anderen Stelle versuchen.«

Und er bog in eine Nebenstraße, er fragte eine Frau, ob sie seinen Sohn oder die alte Haushälterin nicht gesehen habe.

Keine Antwort.

Immer mehr wuchs die Bestürzung des Verräters. »Adam!« rief er, »Adam, wo steckst du, Junge?«

Und dann begann er ziellos über die Insel zu schweifen. Ein Gedanke blitzte plötzlich auf in seiner Seele – die »Hexe« würde mit ihm sprechen; böse Worte vielleicht, aber doch etwas, doch Laute, die für ihn bestimmt waren. Dies Schweigen ertrug er nicht länger.

Der Mond schien mit schwachem Licht vom Himmel herab; geräuschlos gleitend schlüpfte Peter Witt hinaus in die Dünen, von Kamm zu Kamm, von Schlucht zu Schlucht, spähend und horchend, mit immer heftiger jagenden Pulsen, mit kaltem Schweiß vor der Stirn.

»Aheltje! Aheltje!«

Niemand antwortete. Wollte auch die »Hexe«, die verachtete ausgestoßene Zauberin nichts von ihm wissen, oder war sie nicht zugegen?

»Aheltje! Aheltje!«

Es blieb alles stumm, er sah nichts, hörte nichts; nur der Wind strich kalt um seine glühende Stirn.

An der ändern Seite erhoben sich die Segel und Masten der Hortense. Da, im Innern des französischen Schiffes, lagen gefesselt und zum Teil verwundet, des nahen Todes gewärtig vier Männer, deren keiner ihn jemals beleidigt oder beeinträchtigt hatte, vier Familienväter, die nun demnächst hingerichtet werden und ihre Frauen, ihre Kinder des Schutzes beraubt, vereinsamt und unglücklich zurücklassen mußten, verraten von dem, der ihr Landsmann war, ihr Berufsgenosse, der viele Jahre lang Seite an Seite mit ihnen gelebt und die Gefahren der See geteilt hatte.

Und er murmelte vor sich hin, er sah mit trockenen brennenden Augen hinüber zu dem Schiffe, als spreche er mit den Gefangenen.

»Ich wußte ja von dem Todesurteil nichts! – Ich dachte nur, daß der Kaffee weggenommen würde – die paar Pfund Bohnen! Ihr seid ja nicht arm.«

Eine Möwenschar segelte über ihn hinweg; die schrillen Stimmen ließen ihn erschreckt zusammenfahren. Was riefen sie doch ? – »Zu spät! Zu spät!«

Er sah noch einmal um sich. Er konnte es hier in der Einöde nicht länger aushalten; wie gejagt lief er hinab in das Dorf und zu der Stelle, wo bis jetzt sein Haus gestanden hatte. Das letzte Glimmen und Glühen war erloschen, die Straße leer; Peter Witt dachte zum erstenmal mit wirklicher Sorge an seinen Sohn. Wo hatte der Knabe ein Unterkommen gefunden?

Da schimmerte ihm aus dem Schuppen ein Lichtstrahl entgegen; er kletterte hastig über die halbverkohlten Balken und sah in das einzige kleine Fenster hinein. Dies Gebäude war sein Eigentum, niemand durfte ihn hindern, es zu betreten.

Drinnen saß auf einem Holzschemel die alte Frau Olters, während Adam neben ihr auf einem Haufen Stroh lag und, wie es schien, in sehr guter Stimmung eine Wurst verzehrte, die er zu größerer Bequemlichkeit an einem Ende gepackt hielt und ohne Beihilfe von Messer und Gabel mit den Zähnen zerriß.

Leise öffnete der Verräter die eingeklinkte Tür; Frau Olters schrie laut auf vor Schreck. »Na, endlich kommt Ihr, Herr! Und wie seht Ihr aus! Ist Euch die Hexe begegnet?«

Peter Witt ließ sich schwer auf das Stroh fallen; er schauderte. »Gebt mir etwas Warmes zu trinken, Frau. Ach, es ist so öde hier, so schrecklich!«

»Heye Wessels Sohn hat den ersten Brand in das Haus geworfen, Vater!«

»Schweig!« murmelte voll inneren Grauens der Verräter. »Ich will trinken!«

Die alte Frau brachte ihm Kaffee, den er, von Fieberfrost geschüttelt, hastig verschluckte. »Olters«, sagte er dann, »hier kann man nicht wohnen. Geh sie aus und suche sie ein paar Stuben zu mieten, ich bezahle alles.« Aber die Wirtschafterin zuckte die Achseln. »Das nützt nichts, Herr, ich hab‘ es gleich versucht, als uns das erzürnte Volk aus dem Hause vertrieb, aber ganz umsonst. Niemand gibt euch Unterstand, auch nicht der ärmste Fischer, ich weiß es gewiß.«

Peter Witt schwieg, er dachte an den Bäcker, welcher sein Goldstück vom Zahltisch gefegt hatte, an die stumme eilige Bewegung, womit das Volk vor ihm wie vor einem Pestkranken zurückwich. Er ließ die Unterlippe hängen und sah starr ins Leere.

»Wie einer, den der Blödsinn gepackt hat!« dachte Frau Olters.

Onnen Visser

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