Читать книгу Onnen Visser - Sophie Worishoffer, Софи Вёрисгофер - Страница 5
5
ОглавлениеEinige Straßen weiter schimmerte hinter verhüllten Fenstern das Licht einer Lampe. In seinem Bett lag Onnen, die Augen waren weit offen, das Gesicht glühte, die Hände irrten unruhig auf der Bettdecke umher. Er flüsterte fortwährend.
Neben ihm saß seine unglückliche Mutter, stumm, fast erliegend unter der Wucht des hereingebrochenen schweren Schlages. Sie dachte kaum ganz klar und nur, wenn sich ihr Sohn im Bette aufzurichten versuchte, schien sie für Augenblicke aus der gänzlichen Versunkenheit des Schmerzes zu erwachen. Ihre sanfte Stimme beruhigte das Fieber, ihre Hand legte nasse Tücher auf des Knaben Stirn, sie sprach ihm freundlich zu, wenn er durchaus aufstehen und davonlaufen wollte.
»Hörst du denn nicht, Mutter? – Es ist des Vaters Stimme, er ruft mich! Ich muß zu ihm, aber wo mag er nur sein ? Die Gate habe ich überall durchsucht, sie war leer.«
Frau Douwe schauderte. »Sei ruhig, mein Herzenskind, sei ruhig. Du mußt nicht sprechen, nicht grübeln – schlafe nur, das ist das beste für dich!«
Onnen verstand kein Wort, er war im Geiste immer auf dem Watt und durchlebte die Schreckensszenen der letzten Nacht. »Uve Mensinga«, flüsterte er, »warum reitest du so schnell? Hu, wie das Pferd fliegt! Läuft uns das Wasser nach? Da ist es, ich sehe den weißen Schaum. Barmherziger Himmel, wo ist mein Vater? – Ich hörte seine Stimme, ich weiß es gewiß. Wo ist er?«
Dann warf sich der arme Junge angstvoll von einer Seite zur andern. »Vater! Vater!«
Frau Douwe wurde ohnmächtig; die alte Folke Eils hatte genug zu tun, um ihre beiden Schutzbefohlenen zugleich zu behüten, sie war froh, wenn hie und da eine befreundete Seele erschien, um an der Stätte des Jammers, selbst elend und unglücklich, doch ein Wort des Trostes, des Mitgefühls zu sprechen.
Am frühen Vormittag war Uve Mensinga erschienen und von ihm hatte Frau Douwe erst erfahren, was auf dem Watt geschah. Sie brach nicht zusammen, die Unglückliche, sie mußte ja leben für ihren Sohn, aber man sah doch, wie sehr sie litt – gleich einem Lauffeuer verbreitete sich die schreckliche Nachricht durch das Dorf.
Alle Nachbarn kamen und boten stumm oder mit den Worten eines herzlichen ehrlichen Beileids der armen Frau die Hand; auch Heye Wessels Kinder, ein Sohn, eine Tochter, mischten ihre Tränen mit denjenigen ihrer Freunde, die Mutter des von den Franzosen im Boote erschossenen Knaben kam sogar, um still und klagelos die alte Folke Eils in der Pflege der beiden Kranken zu unterstützen.
Sie trug ein schwarzes Kleid und um den Kopf ein ebensolches Tuch; ihr volles dunkles Haar war seit jener Stunde, als man das tote Kind gefunden, eisgrau, ihr sanftes Gesicht blaß und schmal. Wie eine Klosterfrau, so ruhig und hilfreich, mit vergrämten Augen blickend; saß sie an Onnens Bett und legte wieder und wieder die nassen Tücher um seine fiebernde Stirn.
Folke Eils wiegte den Kopf, sie seufzte tief. »Das gibt noch ein Unglück, Wieb‘, sollst es sehen – die Männer im Dorfe lassen sich‘s nicht so gutwillig gefallen. Überall drohen geballte Fäuste und finstere Mienen.«
Die andere nickte. »Es sollen noch mehr Soldaten von Norden herüberkommen«, flüsterte sie. »In allen Häusern muß ihnen Quartier gegeben werden – natürlich, damit keine Unruhen ausbrechen.«
»Nützt nichts, nützt nichts. Es geht ein Murmeln und Flüstern durchs Dorf – gib acht, Wieb‘, außer dem Blute der Gefangenen fließt noch anderes, noch viel mehr.«
Wiebke Raß seufzte. »Des Lars Meinders junges Weib hat sich heute morgen mit ihrem Säugling in den Armen dem Präfekten zu Füßen geworfen«, erzählte sie, »aber vergeblich, obwohl der Herr von Jeannesson fast ebenso erschüttert gewesen ist wie sie selbst. Dem Gesetze muß Genüge geleistet werden.«
»Schrecklich! Schrecklich! – Der gute Kapitän Visser, ein Mann mit einem Herzen, das warm für alle Armen und Elenden schlug, ein braver ehrenwerter Mann!«
Und sie weinte bitterlich.
Wiebke Raß dachte an das einsame Grab ihres Knaben, an die Blumen, welche darauf blühten, und an all die Teilnahme, mit der ganz Norderney seinem Sarge gefolgt war. Wieviel bitteren Jammer, wieviele heiße brennende Tränen hatten doch die Franzosen über das kleine Eiland und seine Bewohner gebracht! – Am späten Abend kam der Arzt aus Norden und erklärte den Zustand des Knaben für ungefährlich. Er hatte eine Medizin mitgebracht, meinte aber, sie brauche nicht erst zur Anwendung zu gelangen; dann sah er auch nach der, immer im halben Wachen daliegenden, schweratmenden Frau – hier schien die Sache bedenklicher.
»Bringt sie ganz aus Norderney fort, wenn ihr könnt«, sagte er. »Es wird hier während der nächsten Tage schlimm genug hergehen, und besser wäre es, sie sähe davon nichts.«
Dann verließ er sie und es wurde wieder still im kleinen Zimmer, bis gegen Mitternacht Frau Douwe aus ihrer Lethargie erwachte und sich vom Bette erhob. »Es ist nun überstanden«, sagte sie leise und mit Mühe die heraufquellenden Tränen bekämpfend, »ich hab‘ mich dem lieben Gott ergeben und will tragen, was er schickt. Ihr mußtet es ja auch, Wiebke Raß, als der Tod Euer Letztes forderte; ich bin nicht besser als andere.«
Heißes Schluchzen klang durch das enge Gemach; zwischen den drei unglücklichen Frauen lag fiebernd und flüsternd der Knabe, während draußen auf der Reede und auf dem Wege zur Schanze ein buntes Treiben die Nacht zum Tage verwandelte.
Zwei Kanonenboote hatten die Geschütze für das neuerbaute Festungsviereck von Norden herübergebracht und jetzt wurden dieselben aufgestellt. An Bord der beiden englischen Kriegsschiffe sollte eine verstärkte Tätigkeit herrschen – vielleicht plante man eine Befreiung der Gefangenen; es galt also, gerüstet zu sein. Lange Züge von französischen Soldaten begleiteten die Geschütze auf dem Wege zur Schanze; überall standen die Eingeborenen mit finsteren Mienen in Gruppen beieinander, überall sahen Blicke voll Haß den fremden Unterdrückern nach. Als der Morgen dämmerte, war das Werk vollendet und eine neue Prüfung brach über die unglücklichen Inselbewohner herein – jedes Haus mußte zwei Franzosen aufnehmen.
Es konnte also nichts verabredet, nichts beschlossen oder unternommen werden, was nicht die Machthaber sogleich gesehen und gehört hätten; die Norderneyer waren tatsächlich in ihren eigenen Häusern zu Gefangenen gemacht.
Draußen, im untersten Schiffsraum der »Hortense«, lagen unterdessen die verhafteten Schmuggler ohne Licht oder Pflege, ihren quälenden Gedanken überlassen. Am Morgen nach dem Kampfe waren mehrere Offiziere erschienen und hatten das erste Verhör eingeleitet; die Gefangenen mußten ein Protokoll unterzeichnen, dann wurde ihnen das Todesurteil ohne weitere Formalitäten vorgelesen und die Vollstreckung desselben auf den zweitnächsten Tag verkündigt. Bis der Präfekt des Emsdepartements aus Emden gekommen war, mußte die Sache einstweilen ruhen. Eintönig schlugen die Wellen gegen das Schiff und schaukelten es von einer Seite zur andern. Der Platz, welchen die »Hortense« bisher innegehabt, war jetzt gewechselt worden und das Fahrzeug mitten im seichten Wattmeer verankert, die Wachen an Deck verdreifacht. Vom Lande aus ließ sich nichts unternehmen, während die Kanonen der Schanze ein Vordringen englischer Langboote zur Unmöglichkeit machte.
Hin und her schlichen die Spione der Franzosen und beobachteten unter Gott weiß welchen Verkleidungen und Masken alles, was vorging. Eins der beiden englischen Kriegsschiffe war in der Richtung nach Helgoland unter Segel gegangen – ohne Zweifel, um Verstärkung herbeizuholen. Die Franzosen hätten keine bessere Nachricht erhalten können.
Man getraute sich nicht, die Gefangenen herauszuhauen, wohl aber war man bemüht, Zeit zu gewinnen. Ein Boot mit weißer Flagge nahte der Insel, ein englischer Offizier und zwei Soldaten erschienen als Parlamentäre, um mit dem Präfekten zu unterhandeln.
Monsieur de Jeannesson empfing sie mit ruhiger Würde; so gern der menschenfreundliche Mann auch den Schmugglern in irgendeiner Weise das Leben gerettet hätte, so unmöglich war es ihm doch, dem klar ausgesprochenen Willen des Kaisers entgegen zu handeln; er mußte gehorchen, namentlich da auch an allen übrigen deutschen Küstenplätzen diese Hinrichtungen mit unerbittlicher Strenge vollzogen wurden; aber er wollte den Gefangenen die Qual der letzten Stunden so sehr wie möglich verkürzen, daher beschleunigte er die Ausführung des Todesurteils. Der englische Offizier bat um eine Frist, er ließ durchblicken, daß man geneigt sei, unter der Hand das Leben der gefangenen Matrosen teuer zu bezahlen, aber Monsieur de Jeannesson schien das hingeworfene Wort nicht verstanden zu haben, obwohl die Röte des Zornes seine Stirn plötzlich überflammte. Während der Franzosenwirtschaft waren zahllose Beamte und höhere Offiziere käuflich, er wußte es und schämte sich seiner Landsleute. »Ich bedaure, nicht dienen zu können«, antwortete er in ruhig abweisendem Tone.
»Aber Eure Exzellenz werden wenigstens einige Wochen Frist bewilligen«, sagte, sich auf die Lippen beißend, der Offizier. »Unmöglich, mein Herr. Das Urteil wird morgen vollstreckt werden.« »Weshalb so schnell? Man untersucht doch jeden Rechtsfall, ehe man den Schuldigen zur Verantwortung zieht.«
»Das ist hier überflüssig. Die Leute sind mit den Waffen in der Hand gefangengenommen worden, sie haben außerdem sämtlich gestanden und die geschmuggelten Waren samt acht Gespannen im Stiche lassen müssen. Ist das Beweis genug?«
Der Offizier erbleichte. »Aber man sollte denn doch wenigstens den armen Leuten die Tröstungen der Religion nicht versagen«, rief er, als alle übrigen Einwände vergebens schienen.
»Das wird auch auf keinen Fall geschehen, mein Herr. Der Ortsgeistliche mag die Gefangenen besuchen, so oft er will, und auch der Prediger Ihres Schiffes soll jederzeit Zutritt erhalten.«
Der Engländer verbeugte sich kalt. Monsieur Jeannesson war ihm vollständig gewachsen, er hatte von Anfang her den Plan durchschaut und erkannt, daß es sich nur darum handelte, Zeit zu gewinnen und erst einmal die Verstärkung von Helgoland herbeikommen zu lassen, um dann womöglich gegen das französische Schiff einen Handstreich zu unternehmen. Als oberster Beamter des Kaisers durfte er das nicht zugeben.
»Ich habe die Ehre, mich Eurer Exzellenz zu empfehlen«, sagte mit verbissenem Grimm der arg getäuschte Engländer.
»Leben Sie wohl, mein Herr!«
Draußen sahen die dichtgedrängten Gruppen der Insulaner sogleich, daß alle Versuche ihrer Bundesgenossen vergeblich geblieben waren. Die Gesandtschaft begab sich unter demselben französischen Geleite, das sie vom Landungsplatz bis zum alten Badehause gebracht hatte, wieder an Bord ihres Fahrzeuges zurück – jetzt konnte jede Hoffnung als erloschen betrachtet werden.
Es war mittags zwölf Uhr, und am folgenden Morgen mit Sonnenaufgang sollten die Gefangenen den Tod erleiden.
Monsieur de Jeannesson stand am Fenster und sah hinaus; seine Seele war voll Trauer und Aufregung.
»Lauter fremde Gesichter«, dachte er, »Erscheinungen, die ich sonst niemals bemerkt habe. Ach, mein Gott, wenn Unruhen ausbrächen!«
Er rief seinen Privatsekretär herbei, und dieser ließ einen der vielen immer im Dienst befindlichen Spione kommen. »Sind Schiffer von den anderen Inseln hier auf Norderney angelangt?« fragte etwas hastig der Präfekt.
Die Antwort erschreckte ihn heftig. »Mehr als fünfhundert Männer, Exzellenz. Die von Juist, von Baltrum und Langerog sind geradezu sämtlich hier und von Borkum wenigstens die Hälfte.« »Bewaffnet?« fragte der Präfekt.
»Das glaube ich kaum, aber in der ›grooten Leegte‹, jenem langgestreckten Dünental unten am anderen Ende der Insel, hat eine Versammlung stattgefunden.«
»Heute? Waren die Norderneyer dabei?«
»Beides, ja.«
»Und Sie hörten, was gesprochen wurde?«
»Leider nicht. Man hatte nach allen Seiten Wachen ausgestellt.« »Ah – also eine vollständige Organisation! – Ich lasse den Herrn Obersten bitten.«
Der Gerufene kam herbei und nun fragte ihn Monsieur de Jeannesson, über wieviel Soldaten er gebiete.
»Alles in allem etwa siebenhundert Mann, Exzellenz.«
»Dann können wir es durchaus auf keinen Kampf ankommen lassen – ich will auch jedes unnötige Blutvergießen strengstens vermeiden. Herr Oberst, Sie haben die Güte, Ihre Leute in einer Stunde antreten zu lassen.«
Der »Schinder« verbarg kaum seine innere Freude. »Exzellenz«, sagte er, »mir sind verschiedene Mitteilungen zu Ohren gekommen; ich weiß, wer außer den Gefangenen noch an der Schmuggelei —«
Der Präfekt unterbrach ihn. »Das lassen Sie ruhen, Herr Oberst. Mein Gott, ist es denn des Unglücks noch nicht genug?«
Oberst Jouffrin strich den Schnurrbart. »Ich habe meine Spione«, sagte er. »Es wurde in den Dünen eine Versammlung abgehalten – ich kenne den Rädelsführer. Er ist ein Mann, der auf dem Watt mit den übrigen kämpfte und dann glücklich entkam.«
Der Präfekt schüttelte abwehrend die Hand. »Ich mag nichts von ihm wissen, Herr Oberst, nur Meutereien will ich verhindern. Die Soldaten müssen während der ganzen Nacht unter dem Gewehr bleiben. Jetzt schicken Sie jemand aus, um nachsehen zu lassen, ob sich die Einwohner irgendwo zusammengerottet haben oder anscheinend zufällig auseinandergegangen sind.«
Der Oberst verschwand sogleich. Die Hoffnung, auf friedliche Bürger schießen zu lassen und unter Wehrlosen ein fürchterliches Blutbad anzurichten, diese widerwärtige Hoffnung erfüllte das Herz des »Schinders« mit solcher Freude, daß er nicht nur einen, sondern sechs Spione ausschickte, um in den Dünen nachzuforschen und womöglich einen erwünschten Bescheid zu bringen.
Uve Mensinga kannte einen dieser Elenden, denselben, der ihn dem Obersten denunziert hatte; er erschrak, als er ihn zum zweitenmal sah. »Wir sind verraten«, bebte es über seine bleichen Lippen. »Swen Auckens hat uns beobachtet.«
»Wieso verraten?« fragte ein riesiger Borkumer. »Sollte man nicht mehr in den Dünen zusammenkommen dürfen?«
»Ich fürchte, nein.«
»Das wollen wir erst abwarten. Wenn morgen früh die Gefangenen zum Richtplatz geführt werden, so kostet es nur geringe Mühe, sie zu befreien und an Bord des Engländers zu bringen. Schadet nicht, ob auch ein paar der Unsrigen fallen – den Herren Franzosen ist dann doch ihr Henkersgelüste versalzen.«
»Laßt uns nur einstweilen auseinandergehen. Swen Auckens hetzt uns sonst noch heute die Soldaten auf den Hals.«
Ein Teil der Männer suchte Verstecke in den unzugänglichsten Dünen, ein anderer in den Hütten der Insulaner – bevor aber die ›groote Leegte‹ verlassen war, hatte der Oberst den Bericht seines Spions erhalten und dieser lautete: »Sie sind immer noch da!«
Trommeln rasselten und Gewehre wurden bei Fuß genommen. Der Präfekt hielt den Leuten vor dem Badehause eine Rede.
»Es wird von einem Tambour und einer Abteilung Soldaten in allen Straßen bekannt gemacht, daß sich die Fremden vor Abend von der Insel zu entfernen haben«, sagte er. »Hilft das nichts, so müssen die Leute zwangsweise in die Boote geschafft werden, aber alle Feindseligkeiten sind zu vermeiden.«
Oberst Jouffrin richtete sich höher auf, seine Augen blitzten trotzig. »Um Verzeihung, Exzellenz«, sagte er mit ärgerlichem Tone, »ich bin zur Zeit hier auf Norderney der Höchstkommandierende und habe, soviel mir bekannt ist, von den Herren Zivilbeamten keine Vorschriften zu empfangen.«
Monsieur de Jeannesson nickte. »Im allgemeinen nicht, Herr Oberst, aber in diesem besonderen Falle unter allen Umständen. Ich übernehme die Verantwortung.«
»Das kümmert mich wenig. Widersetzt sich die Meute, so lasse ich dazwischenschießen.«
Der Präfekt zuckte die Achseln. »Mein Bericht an den Kaiser würde dem ersten derartigen Versuch auf dem Fuße folgen, Herr Oberst. Es käme dann so manches, was in Norden geschah, gleich mit zur Sprache – jetzt wählen Sie!«
Der Oberst bezwang mühsam das Erschrecken, welches ihn packte. »Ich verstehe nicht«, stammelte er, »was ist gemeint?«
»Soll ich es Ihnen hier vor der Front Ihrer Soldaten sagen, mein Herr?«
Der Oberst zuckte die Achseln. »Irgendeine Kleinigkeit«, rief er spöttisch lachend. »Auch mein Bericht an den Kaiser wird nicht ausbleiben, Exzellenz!«
Dann ließ er die Soldaten in geschlossenen Gliedern gegen die Dünen vorrücken, sehr zum Vorteil aller derer, welche sich von den Nachbarinseln auf Norderney zusammengefunden hatten, um in Gemeinschaft mit den Eingeborenen die Gefangenen zu befreien. Während das Militär die Sandwüsten durchsuchte, saßen die fremden Schiffer in den Kellern und Schuppen der Norderneyer, auf Böden und Höfen versteckt, alle mehr oder minder bewaffnet und fest entschlossen, den Bedrückern des Vaterlandes das Gelüst nach Hinrichtungen gründlich auszutreiben.
Es war eine Revolution im kleinen, eine vollständige Verschwörung, welche Uve Mensinga und Georg Wessel, der Sohn des Gefangenen, in zwei Tagen geschürt und zu Wege gebracht hatten.
Mochten sie kommen, die Henkersknechte, es sollte ihnen ein heißer Empfang zuteil werden, eine Begrüßung, welche sie so bald nicht wieder vergessen würden.
Ein Flüstern und Raunen flog von Mund zu Mund, von Hütte zu Hütte. Einer half dem anderen, alle Hände hatten sich aufgetan, um das Werk zu fördern – wie ein einziger Mann erhob sich die Bevölkerung gegen das geplante Verbrechen der Franzosen.
Hin und her schlichen die Spione; Monsieur de Jeannesson, der Präfekt, erfuhr alles. Es gibt ja ehrlose Geschöpfe zu allen Zeiten und unter allen Völkern; auch auf Norderney lebten solche Personen, und eben diese dienten den Franzosen als Zuträger. Für die ehrliche Arbeit zu faul, heruntergekommen durch den Trank und die eigene Untüchtigkeit, aßen sie jetzt ein reichliches, mühelos erworbenes Brot und verrieten dafür das Volk, dem sie angehörten.
Die beiden anderen Kanonenboote, »Marion« und »l‘Empereur« legten sich rechts und links neben die »Hortense«, unaufhaltsam rasselte in den Straßen die Trommel, um dem Befehl des Ausrufers Gehör zu verschaffen, aber nicht ein einziger Fremder war zu entdecken, nicht ein Boot verließ die Reede.
Überall entschlossene Herzen und gezückte Messer, überall die brennende Kampfbegier gegen den Todfeind. Je eher, desto besser; je heißer, um desto lieber; das Maß war voll bis zum Überlaufen.
Etliche hundert Männer, meist von Borkum und Wangeroog, hatten in den Häusern des Dorfes keine Unterkunft mehr gefunden und waren daher in den Dünen versteckt. Swen Auckens, der Spion, den Soldaten vorausgeschickt, sah sie, aber er war auch selbst gesehen – in der nächsten Sekunde lag er am Boden und drei oder vier Schiffer knieten auf seiner Brust oder hielten die zuckenden Glieder gefesselt.
Georg Wessel stand neben ihm; das sonnenbraune Antlitz des hübschen jungen Mannes war blaß vor innerer Erregung.
»Ein Laut, Swen Auckens, ein einziger Schrei – und du bist des Todes!«
Der Spion schwieg vor Entsetzen; er sah ratlos von einem zum anderen.
»Sprich, du Schuft, hat dir mein armer Vater, wenn du hungrig und frierend umherliefst, in seinem Hause zu essen gegeben, hat er dir Kleider und bares Geld geschenkt oder nicht? hat er deiner alten Mutter Fische gebracht, deinen kleinen Geschwistern Schuhe, hat er immer und zu allen Zeiten geholfen?«
»Ja!« ächzte der Spion, »ja!«
»Und zum Lohn dafür verrietst du ihn, verrätst du dein Vaterland!«
Einer der Borkumer Kapitäne drängte sich vor. »Soviel Federlesens um einen Spitzbuben!« sagte er. »Als ob Swen Auckens nicht auch bei mir schon gebettelt hätte! – Soll er sterben, Leute, was meint ihr?«
»Ja!« hieß es rings umher, »ja! ja!«
Der Borkumer zog das Messer hervor. Die ehrlichen, von Haus aus so gutmütigen Friesen waren durch diese langen und unerträglichen Bedrückungen dermaßen gereizt, ihr Blut am Vorabend einer schweren Entscheidung so erhitzt, daß sie nicht mehr klar zu denken vermochten. Das »Ja« der Ihrigen galt ihnen als ein rechtskräftiges Todesurteil.
Swen Auckens krümmte sich vor Furcht. »Wenn ihr mich töten wollt, so ist das euer eigenes Verderben«, ächzte er. »Die Franzosen stehen ganz in der Nähe – sie haben scharf geladen – ein Schrei von mir und —«
Er konnte nicht vollenden. Eine kräftige Hand legte sich schwer auf seinen Mund, ein Messer blitzte und fuhr ihm bis ans Heft in die Brust. So lange die Glieder im Todeskampfe bäumten und zuckten, hielt der Borkumer den Gerichteten fest, dann zog er die Waffe aus der Wunde und stieß sie in den weißen Sand, um das Blut zu entfernen. Swen Auckens blieb, mit dem Gesicht gegen den Himmel gekehrt, tot am Eingang der Dünen liegen.
»Zurück!« gebot der junge Wessel. »Wir dürfen den Soldaten heute nicht begegnen!«
Mann nach Mann verschwand zwischen den Sandhügeln. Die Franzosen mit ihrer schweren Bepackung konnten ihnen auf dem ungewohnten Boden nicht schnell genug folgen, um sie einzuholen.
Es war wieder alles todesstill wie zuvor, nur der Gerichtete lag mit krampfhaft in das Dünengras gekrallten Händen auf dem Sand und aus seiner Brust sickerten langsam die roten Tropfen.
Heller warmer Sonnenschein; die Lerchen sangen hoch im Blau, zur Seite flutete das Meer und hie und da schaute mit seinen roten Augen ein Kaninchen aus dem Spalt hervor. Nur das rieselnde Blut zeigte, daß der Krieg die Wirklichkeit des Lebens ist, nicht jener holde Friede, von dem das Herz im Anblick einer schönen stillen Sommerlandschaft so gern träumt.
Die Franzosen standen in einiger Entfernung und hielten die Gewehre schußgerecht in den Händen. Oberst Jouffrin kaute an den Spitzen seines Schnurrbartes; die blutunterlaufenen Augen sandten unruhige Blicke nach allen Seiten. Wo blieb der Spion?
Kein Laut erklang, nur die Lerche stand himmelhoch gerade über dem Kopfe des Franzosen und jubelte ihr helles süßes Lied in die Welt hinaus.
Oberst Jouffrin pfiff leise, das war so verabredet, und Swen Auckens hätte antworten müssen. Sonderbar – ob er in einen Hinterhalt geraten war?
Der »Schinder« schlich vorwärts. Vielleicht, wenn er angegriffen wurde, ergab sich die Notwendigkeit der Verteidigung – er konnte Ströme Blutes vergießen, konnte alle Roheit seines Innern in Taten übersetzen.
Ein paar leichtere Dünenketten waren erklettert, dann kam die erste größere Talmulde mit scharfem Grat – ihm ins Gesicht sehend, mit starren, weit offenen Augen lag der Tote vor dem spähenden Franzosen. Er trat in die Blutlache, er wäre fast über den Körper gestolpert.
»Sapristi – was ist das?«
Niemand zu sehen oder zu hören. Der Wind bewegte die Erlenblätter in den Tälern, das Haar des Toten, die langen Grashalme – es flüsterte, raunte überall.
Oberst Jouffrin trat zurück. Die Mörder mußten sich ganz in der Nähe befinden – welch eine blutige Rache hätte er nehmen können!
Aber Exzellenz Jeannesson hatte es verboten und der Oberst kannte sehr wohl den Grund, welcher ihn zwang, diesem bestimmten Befehl zu gehorchen. Eines Tages, kurz nach seinem Einmarsch in Norden, hatte er die Väter der Stadt zu sich beschieden und mit recht verständlichen Worten erklärt, daß er ein Geschenk von einer halben Million Frank für seine Privatrechnung erwarte oder aber der Stadt gegenüber Bedrückung auf Bedrückung häufen werde.
Als ihn dann die entsetzten Leute baten, doch von einer so verhängnisvollen Maßregel abzusehen, da antwortete er achselzuckend, er begreife nicht weshalb. Der Kaiser habe den Wunsch, daß sich seine höheren Offiziere aus dem Vermögen deutscher Bürger bereichern möchten.
Die halbe Million schmolz zusammen bis auf zweimalhunderttausend Frank, diese aber erpreßte er und hatte, als der Präfekt die Sache erfuhr, das Geld am grünen Tische längst wieder verloren. Monsieur de Jeannesson verachtete ihn deswegen, er wußte es, und auch seine Vorgesetzten würden die plumpe Art und Weise strenge tadeln, sobald sie von derselben erfuhren. Dergleichen mußte feiner ins Werk gesetzt werden.
»Es ist nichts«, sagte er achselzuckend, »Prahlerei, leere Worte; die Kerle fürchten sich.«
Das Militär zog zum Dorfe zurück. Es begann eine Durchsuchung der Häuser, die aber ohne Ergebnis verlief; hier lag ein Kranker und dort war ein Schlüssel verloren, an dritter Stelle war selbst die Haustür versperrt oder der Bewohner verbat sich mit dem Messer in der Hand den Besuch der Soldaten.
Nur mit gefälltem Bajonett hätte an den meisten Orten der Eintritt erzwungen werden können.
Auch in den Holzschuppen Peter Witts kamen die Soldaten. Der Verräter saß in der Ecke und ließ den Kopf hängen, er ging jetzt nicht mehr aus, sprach mit keinem Menschen und schien zu erschrecken, als er hörte, daß sich Hunderte von fremden Schiffern auf der Insel befinden sollten.
»Olters«, sagte er, »hängt ein Tuch vor das Fenster. Wenn Leute kommen, so sagt, daß ich nicht zu Hause sei. Ach, es ist so kalt hier!«
Und in dem milden Sommersonnenschein hüllte er sich schaudernd in eine große wollene Decke. Wenn die Trommel rasselte, fuhr er zusammen, als bringe ihm der Klang die Verkündigung eines schrecklichen Schicksalsspruches.
Oberst Jouffrin mußte melden, daß niemand gefunden worden sei. Er tat es spöttisch, mit offenem Hohne gegen den Präfekten. Siebenhundert wohlgeschulte und bewaffnete Soldaten durften es ja nach der Meinung Seiner Exzellenz mit den Messern und Knitteln einer Handvoll Matrosen nicht aufnehmen. Wahrhaftig, das ist für die Truppen des Kaisers eine große Ehre!
Monsieur de Jeannesson würdigte ihn keiner Antwort; sein klarer Verstand erkannte sehr wohl, daß die Norderneyer und ihre Freunde der Übermacht hätten unterliegen müssen, ebensogut aber auch, daß der unerhörte Kampf des Militärs gegen friedliche Bürger doch nicht als eine Waffentat, sondern nur als eine Massenschlächterei gelten konnte. Er wollte dieselbe um keinen Preis gestatten, es war genug des Blutes, das morgen vergossen werden mußte.