Читать книгу Onnen Visser - Sophie Worishoffer, Софи Вёрисгофер - Страница 7
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ОглавлениеMonsieur de Jeannesson stand am Fenster seines Zimmers, regungslos wie ein Steinbild, blaß wie ein solches. Es war noch vollständig Nacht, aber trotzdem lag schon die erste Dämmerung des aufgehenden Tagesgestirnes über der Umgebung – jenes Tages, an welchem sieben Menschen den Tod erleiden sollten, eines Vergehens wegen, das an keinem Orte der zivilisierten Welt den Schuldigen auf das Schafott führt.
Ein hartes ungerechtes Gesetz, eine Maßregel, die wohl geeignet war, den heimlichen Groll der Insulaner bis zu gewalttätigem Ausbruche zu steigern, ihnen die Rebellion gegen das Übermaß der Bedrückung als einziges Rettungsmittel erscheinen zu lassen – Monsieur de Jeannesson fühlte es, er hatte während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern war immer unruhig im Zimmer auf- und abgegangen, bald mit einer Eingabe an den Kaiser beschäftigt, bald auf den Hof hinausblickend, wo die Soldaten unter voller Bepackung marschbereit standen und lagen.
Es wurde allmählich immer heller und heller. Die Umrisse des Schiffes traten aus der Dämmerung hervor, die Bootsmannspfeife erklang, die Wache wechselte und wieder war alles still. Vier Uhr! – Noch zwei Stunden, dann mußte die Exekution stattfinden.
Hie und da schlich jemand am Badehause vorüber, unverdächtige Gestalten, Frauen und alte Männer, auch selbst Kinder – sie faßten an der damaligen Wassergrenze, der Gegend des heutigen »Alten Deiches« Posto, offenbar in der Absicht, die Verurteilten ein letztes Mal zu sehen, vielleicht ihnen noch ein Wort der Versöhnung, des Friedens zuzurufen, ein Lebewohl auf immer.
Mehr und mehr erschienen, jung und alt, viele trugen Blumen in den Händen, Liebesgaben für die Gräber der Erschossenen.
Jetzt blitzte ein voller Sonnenstrahl über das Wasser dahin – der Tag hatte begonnen. Eine Abteilung Soldaten, begleitet von mehreren Unteroffizieren, rückte aus; die Leute trugen teilweise Schaufeln und Brecheisen auf ihren Schultern. Es war an der Stelle, wo heute das Hotel Bellevue steht, ein Holzschuppen für Heu und Stroh aufgerichtet; hinter denselben, also den am Strande Stehenden unsichtbar, verfügten sich die Mannschaften.
Wieder schlich eine alte Frau vorüber, eine Jammergestalt mit zerfetzten Kleidern und eisgrauem Haar, Aheltje, die Hexe. Man flüsterte, als sie kam, man zog sich eilends vor ihr zurück, als berge die Nähe der armen Alten eine Pestgefahr.
Aheltje nahm von keinem Menschen die geringste Notiz. An ihrer Krücke ging sie bis zu jener Stelle, wo die Boote ankerten, und blieb da ganz allein stehen, ein Bild des Elends, des äußersten menschlichen Verfalles.
Aus der Kombüse des Schiffes wirbelte Rauch empor; man bereitete den Gefangenen das letzte Frühstück. Wie verzweifelt sie sich fühlen mochten, wie sie wohl im innersten Herzen den brutalen Siegern fluchten!
Monsieur de Jeannesson wandte sich ab. Es war schrecklich, Familienväter, arme unwissende Fischer so um eines kleinen Fehltritts willen erschießen zu lassen.
Kurz nach fünf wurde ihm ein Offizier gemeldet. Der Adjutant des Obersten Jouffrin bat um Verhaltungsmaßregeln den Eingeborenen gegenüber, er berichtete, daß in den Dünen hinter der Schanze gegen siebenhundert Bewaffnete versteckt lägen.
Der Präfekt nickte. »Ich weiß es. Kein Soldat betritt das Dorf oder den Strand – es bleibt bei dem, was ich angeordnet habe.«
Der Offizier entfernte sich mit stummem Gruße und wieder trat Monsieur de Jeannesson an das Fenster.
Auf dem Schiff erklang die Trommel, Matrosen und Soldaten bildeten Spalier, einer nach dem andern stiegen die Gefangenen an Deck hinauf und dann in zwei bereitgehaltene Boote.
Die Engländer sahen unwillkürlich nach rechts über das Meer. Ob denn ihre Genossen nichts unternahmen, um sie zu retten?
Blau und sonnenblitzend flutete das Wasser – von den Kriegsschiffen war keine Spur zu entdecken.
Der Kapitän ging zwischen zwei Stöcken; sein zerschmetterter Fuß erlaubte ihm kein festes Auftreten. Er war sehr blaß, aber vollkommen ruhig, ebenso Heye Wessel – die beiden alten Seeleute hatten dem Tode zu oft und aus nächster Nähe ins Antlitz gesehen, sie fürchteten ihn nicht mehr.
Irgendwo läutete ein Glöckchen; man hörte die hellen Klänge weithin durch das Flüstern des Windes und das Geräusch der Wellen. Die Verurteilten gingen des Kapitäns wegen sehr langsam, so daß mehrere Minuten verstrichen, bevor sie den Fußpfad am Ufer (das damals noch keinen Deich besaß) erreicht hatten. In diesem Augenblick trennte sich von der Gruppe des harrenden Volkes ein größerer Knabe und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, in der Richtung der Schanze davon.
Monsieur de Jeanriesson sah es. »Er bringt den Bescheid, daß sie kommen«, dachte der wohlwollende Mann. »Ich täuschte mich nicht!«
Und wieder sah er hinüber zum Strande. Die alte Aheltje hatte sich den beiden vordersten Gefangenen genähert, sie streckte dem Kapitän die Hand entgegen. »Ich wollt‘ Euch danken für alles Gute, das ihr an mir armem Weibe getan, Klaus Visser, und auch Euch, Heye Wessel! – Der liebe Gott hört ebensowohl das Gebet der Armen und Niedrigen als das der Großen dieser Welt – und ich bitte ihn für Eure ewige Ruhe aus Herzensgrund!«
»Danke, Aheltje«, antwortete der Kapitän. »Grüßt mein armes Weib, Frau!«
Sie reichten ihr sämtlich die Hand, ungehindert von den französischen Soldaten – Lars Meinders biß die Zähne hörbar zusammen, als er von fern das Dach seiner Hütte schimmern sah – dann wollten sich alle rechts ab dem Wege zur Schanze zuwenden.
Der begleitende französische Unteroffizier deutete nach dem Holzschuppen hinüber. »Dort!« sagte er einfach.
Die Gefangenen gingen nur eine kurze Strecke, dann entschwanden sie den Blicken der erstaunten Menge. Ein Mann lief in fliegender Eile dem früher abgeschickten Knaben nach.
Als der traurige Zug den offenen Strand hinter dem Schuppen erreicht hatte, bot sich den Verurteilten ein Anblick, der ihnen die unwillkürlich aufgetauchten Zweifel sofort wieder rauben mußte. Etwa fünfzig französische Soldaten standen mit geladenen Gewehren in Reih und Glied – hinter ihnen gähnte ein tiefes, frisch ausgeworfenes Grab, groß genug, um in seinem Schoße sieben Menschen Raum zu gewähren.
Etwas abseits stand der Prediger in voller Amtstracht. Mit ausgestreckten Armen näherte er sich den einem so schrecklichen Tode geweihten Männern.
Wo heute der neue Kirchhof weiß und öde im Flugsand liegt, da hoben sich zu jener Zeit weite hohe Dünenketten mit Tälern und Schluchten, Erlengebüschen und Strauchwerk verschiedener Art Kopf an Kopf standen auf dem gleitenden unsicheren Boden die harrenden Männer, alle bewaffnet mit Beilen und Messern, mit Gewehren und Pistolen, alle fest entschlossen, womöglich keinen einzigen Franzosen lebend davonkommen zu lassen.
Uve Mensinga war als Führer von der ganzen Schar stillschweigend anerkannt; Georg Wessel und Onnen Visser hielten sich dicht an seiner Seite.
Ein großes Boot der Engländer, ein sogenanntes Langboot, lag hinter der Biegung, welche die Insel an der Stelle der heutigen Schiffsbauerei macht. Etwas weiter hinaus, mitten im tiefen Fahrwasser, sah man das Kriegsschiff, den »Nelson«, unter beigedrehtem Steuer leicht schaukelnd im Sommerwind treiben.
Die Taschenuhren zeigten auf sechs – eine immer wachsende Unruhe bemächtigte sich der Versammelten. Da nahte ein Knabe, er schwenkte den Hut – das war das verabredete Zeichen.
»Sie kommen!«
Onnen zitterte. »Georg, Georg, wenn nun jemand unglücklicherweise die Gefangenen träfe! – Ach, laßt uns lieber nicht schießen!«
»Sei still, Junge, sei still. Mir ist es, als wolle mein Herz aufhören zu schlagen!«
Der riesige Baltrumer stand auf einem jener schmalen Grate, die Düne von Düne trennen. »Halloh!« rief er, »es kommt noch ein zweiter Bote.«
»Was bedeutet das?«
Sie horchten und spähten sämtlich. Außer Atem übersprang ein Mann die niederen Dünenketten, dann stand er mitten zwischen den Verbündeten. »Leute, sie haben die Verurteilten nach der anderen Seite gebracht – links hinaus!«
»O Himmel«, rief Onnen, »wenn der Präfekt Gnade verkünden wollte!«
»Was könnte es anders sein? – Ach, welches Glück!«
»Ruhig!« rief Uve Mensinga und seine Augen blitzten, seine Stimme klang grollend, als ersticke ihn der Zorn. »Wir sind verraten, sie morden unsere —«
Er wurde auf furchtbare Weise unterbrochen. Durch die helle Morgenluft klang das Geknatter von Schüssen – drei Salven fielen nacheinander, Pulverdampf wallte auf, dann war alles todesstill.
Als habe die französische Kugel in jedes einzelne Herz ihren verderbenbringenden Weg gefunden, so schwiegen wie erstarrt die Verbündeten. Das Unerwartete, Entsetzliche lähmte jede Vorstellungskraft, jede Zunge.
Und leise, leise schlug an ihr Ohr ein anderer Klang – das Armesünderglöcklein. Sie hörten es alle, bis der Schall wie ein Traum zu zerrinnen schien. Nun waren die Verurteilten gestorben – tot – nun war alles zu Ende.
»Georg!« rief Onnen außer sich, »Georg!«
»Laßt uns offen hingehen!« schrie der Baltrumer. »Laßt uns das Badehaus in Brand stecken und die Kanaillen mit dem Kolben totschlagen!«
»Und was würden wir dadurch gewinnen, Leute?«
»Rache wenigstens!«
Das Boot der Engländer kam heran. Ein paar Soldaten näherten sich den Schiffern. »Habt ihr die Schüsse gehört? – Diese Halunken, diese Mörder – wenn der ›Falke‹ aus Helgoland wieder hier ist, sollen sie ihre Bezahlung erhalten!«
»Ach, aber dann ist alles zu spät! – Und wir waren unserer Sache so gewiß!«
»Laßt uns doch nur erst einmal hingehen!«
Onnen lief voraus. Und wenn ihm keiner der übrigen gefolgt wäre, so würde er ganz allein zu den französischen Soldaten geeilt sein, ganz allein und nur beschäftigt mit einem einzigen Gedanken: »Ist mein armer Vater erschossen worden?«
Aber sie begleiteten ihn alle; wie ein entfesselter Strom wälzte sich die ganze Masse gegen den Weststrand hinab und über die damals unbebaute Strecke der heutigen Marienstraße.
Kein Franzose begegnete den Männern, kein Wachtposten war ausgestellt, nur jammernde Frauen und Kinder umstanden noch immer den Platz, wo die Boote anlegten; sie deuteten alle auf den Holzschuppen, hinter welchem der Zug der Gefangenen vor kurzer Zeit verschwunden war.
Uve Mensinga nickte. »Es ist, wie ich dachte; man hat absichtlich die Schanze als Richtstätte bezeichnet, um uns irre zu leiten und ohne Störung von außen die Blutarbeit zu vollenden. Da kommt jede Einmischung zu spät!«
»Wollen wir denn nicht erst hingehen?« rief Onnen. »O mein Vater, mein armer Vater!«
»Laßt uns losschlagen«, riet der Baltrumer. »Immer hundert Franzosen für jeden Gemordeten.«
»Das wäre mehr als Wahnsinn, Abel Voß! Die Soldaten haben das Haus als Schanze, sie besitzen volle Deckung, während wir ihnen die unbeschützten Stirnen darbieten müßten. Sollen ohne allen Zweck die tapfersten Männer reihenweise fallen?«
»Und sollen unsere Freunde ganz ungestraft ermordet worden sein?« »Keineswegs!« raunte Uve Mensinga, »keineswegs! Aber laßt vorerst den ›Falken‹ wieder angelangt sein, laßt uns den Beistand der Engländer besitzen, dann wird die Sache anders. Nur Tollköpfe ohne alle Überlegung könnten die Franzosen im Badehause angreifen.«
Georg Wessel ballte die Faust. »Ich sollte die Leiche meines Vaters da in ungeweihter Erde liegen lassen und nicht einmal erfahren, wo man sie verscharrt hat? Nie und nimmer, so wahr mir der Himmel helfe! Komm, Onnen, gehst du mit?«
»Natürlich!« rief flammenden Blickes der Knabe. »Vielleicht haben ja die Toten nicht einmal Särge bekommen!«
Abel Voß lachte wild. »Särge ? – Särge ? – Wie sie gingen und standen, ungewaschen und ohne Leinentuch sind sie verscharrt worden.«
Auf Onnens Wangen kam und ging die Farbe, eiskalte Schauer durchbebten seinen Körper. »Komm, Georg«, drängte er.
Uve Mensinga nickte. »Ich wollte eben den gleichen Vorschlag machen, Kameraden. Wir können natürlich die Leichen unserer Freunde nicht in irgendeinem Winkel, über den die Hunde dahinlaufen, unbeachtet liegen lassen, aber das ist für den Augenblick alles. Zu Feindseligkeiten darf es heute nicht kommen.«
»Aber wenn die Halunken auf uns schießen?« rief der Baltrumer.
Uve Mensinga lächelte. »Dann kann‘s meinetwegen losgehen, Kinder.«
»Hoffentlich!« murmelte Georg. »Gott gebe es.«
Und nun ordnete sich der Zug, um gemessenen Schrittes den Strand hinter dem Heuschuppen zu betreten. Kein Soldat wurde sichtbar, nur zwei schaurige Zeichen der vollstreckten Hinrichtung boten sich den Blicken der Männer – eine große Blutlache und ein frisch aufgeworfener breiter Hügel.
»Da! da!« rief Onnen. »Ach, mein Vater!«
»Still, Junge, still! Spare deine Kräfte für den Tag der Vergeltung.«
Sie nahmen unwillkürlich die Hüte vom Kopf; eine gewaltige Erschütterung ging durch die Seelen aller. Die da noch warm, noch blutend unter dem Boden lagen, waren ihre Freunde und Verwandten, ihre langjährigen Genossen – und an einem Haar, einem einzigen Haar hing noch vor einer Stunde ihre Rettung. Jetzt hatte der Tod den Sieg behalten.
Einer nach dem andern näherte sich dem Grabe; die Draußenstehenden, Frauen und Kinder drängten nach, irgend jemand brachte Schaufeln und die traurige Arbeit begann.
Im Badehause deutete Oberst Jouffrin mit der Rechten auf den beständig wachsenden Haufen; ein lauernder, hämischer Blick traf den Präfekten.
»Bemerken Exzellenz, was da unten vorgeht? Man raubt Leichen, wie mir scheint.«
Monsieur de Jeannesson nickte kalt. »Ich sehe es, Herr Oberst.«
»Ah! – und auch das soll hingehen, wenn man fragen darf?«
»Ich denke ja. Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das mich zwingt, die armen Leute auch noch ihrer Toten zu berauben. Mögen sie dieselben in Gottes Namen auf den Kirchhof bringen und dort zur ewigen Ruhe bestatten.«
»Das heißt doch – uns trotzen, sich widersetzen?«
Der Präfekt suchte den Blick des ergrimmten Offiziers. »Ich glaube, es heißt nur Mensch sein, Herr Oberst. Durch mich sollen die Leute nicht gestört werden.«
Der Oberst ging mit hallenden Schritten davon. Monsieur de Jeannesson konnte auch gegen den Besiegten noch Milde und Nachsicht walten lassen, er wurde überall geachtet und geschätzt – dafür haßte er ihn.
Am Watt und etwas später auch im Dorfe entwickelte sich unterdessen eine lebhafte Szene. Sechs oder acht Männer hoben aus dem kaum zugeworfenen Grabe den Sand, während ebensoviele auf dem kleinen Gottesacker die neue gemeinschaftliche Gruft wieder öffneten. Eine fieberhafte Tätigkeit herrschte auf der ganzen kleinen Insel.
Gärten oder Gebüsche, wie sie jetzt vor den meisten Häusern befindlich sind, gab es damals zwar nirgends, aber auf den Dünen wuchs, gesät von der gütigen Hand der Natur, manch bescheidenes Blümchen, das sich zum Kranze wohl verwenden ließ, die Dünenrose, die Meerstrand-Männertreu, die Bergnelke, das Veilchen u. a. Nebenbei aber zeigt, wo deutsche Frauen wohnen, jedes Fenster seinen Blumenflor, und diesen plünderten die Norderneyerinnen bis auf die letzte Blüte, um damit das Grab der unglücklichen Opfer zu schmücken.
Kranz nach Kranz wurde im Fluge gebunden, ganze Körbe voll Blumen herbeigetragen, während die Männer anfingen, vorsichtiger zu graben. Eine Hand ragte aus dem Sande hervor – man hatte das Bett der Toten erreicht.
Weiße saubere Leintücher wurden ausgebreitet, liebevolle Hände wuschen die Gesichter der kaum Erkalteten. Jedes gab, was es zu geben hatte, Wagen, Bahren, Wäsche, Blumen – ihre Tränen, ihre Gebete alle – alle.
Särge ließen sich nicht beschaffen, das war unmöglich. Noch einmal gingen in langer Reihe die Insulaner vorüber an den Leichen ihrer Freunde und denen der Engländer, noch einmal berührten sie die über der durchschossenen Brust gefalteten Hände zum letzten Abschied, dann wurde das Leintuch zusammengeschlagen und der imposanteste Leichenzug, den die Insel vorher oder nachher gesehen, nahm seinen Anfang.
Der Weg von der Gegend des heutigen Hotel Bellevue bis zum Gottesacker im Schatten der Kirche ist ziemlich lang, aber dennoch war er bedeckt mit Blumen. Alle Kinder gingen voraus und bestreuten die Straße, welche der Zug passieren mußte; in den Häusern blieben nur die, deren Schmerz zu groß war, zu schrecklich, um ihn den fremden Blicken preiszugeben – Frau Douwe, das junge Weib des Wattführers und Amke Wessel, die ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, um nur nicht den Leichenzug sehen zu müssen.
Auch ein Mann blieb zurück – Peter Witt, der Verräter. Er kauerte im dunklen Winkel seiner Wohnung und murmelte immer vor sich hin, obgleich ihn niemand hörte.
An der Pforte des Friedhofes empfing der Geistliche die sieben Leichen. Er hatte diese Männer sterben sehen, er wußte, daß ein schneller sicherer Tod von der Hand der geübtesten Schützen ihren Leiden ein rasches Ziel gesetzt hatte – jetzt leuchtete aus seinem Antlitz eine hohe Freude.
Er durfte an dem Grabe in geweihter Erde den Segen der christlichen Kirche sprechen, er wußte die besten Bürger seiner Gemeinde nicht länger wie gefallene Tiere an der offenen Heerstraße verscharrt.
Die Rede, welche er hielt, war ohne Vorbereitung nur aus dem Herzen herausgesprochen, aber sie lockte dennoch Tränen in aller Augen. Des Vaterlandes Schmach und Unglück fühlte jeder einzelne gleich schwer; das Weh dieses Tages durchbebte jede Brust.
Hochgeschichtet, das ganze Grab ausfüllend, türmten sich die Kränze der Frauen. Um den Hügel standen zunächst die Angehörigen, die vertrautesten Freunde der Verstorbenen, dann im weiten Kreise die Gefährten früherer Tage, die Nachbarn und Berufsgenossen, viele Hunderte, die sämtlich gekommen waren, um den Vielbeweinten, den Opfern der fremden Tyrannei das letzte Geleite zu geben.
Der Prediger ließ die Kirchtüren öffnen und, nachdem seine Rede beendet war, den Küster die Orgel spielen.
Hell und tröstlich klang es über den Gottesacker dahin, erst leise, dann immer stärker, gewaltiger erschallend:
»O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen,
Durch den Tod seid ihr zu Gott gekommen!
Ihr seid entgangen jeder Not,
Die uns noch hält gefangen!«
So manche Stimme brach im Schluchzen. »Die uns noch hält gefangen!« – Das war in wenigen Worten das Schicksal des gesamten Vaterlandes. Französische Soldaten spielten die Gebieter in jedem Hause, französische Kanonen beherrschten den Strand, der für das genügsame Völkchen der Insulaner doch täglich den Tisch decken sollte. Sie beteten im Herzen alle, die da sangen, von Tränen unterbrochen, von dem Gedanken an die Gefahren der Zukunft tief gebeugt.
Und dann kam am frischen Grabe der Abschied. Diese da, die Toten, sollten gerächt werden, so gewiß die Sonne hell vom Himmel herabschien.
»Wenn der ›Falke‹ vor Baltrum Anker wirft, komme ich und bringe euch Botschaft«, sagte Abel Voß.
Uve Mensinga nickte. »Er wird uns mit den nötigen Langbooten, mit Kanonen und Munition versehen! Sei still, Onnen, mein Junge, weine nicht, die Franzosen sollen für ihre Untat volle Zahlung leisten!«
»Und ihr nehmt mich ganz gewiß mit euch, Mensinga? Ihr verlangt nicht, daß ich untätig zu Hause sitze, während ihr kämpft?«
»Da hast du meine Hand, Junge. Die Rache kommt bald.« Sie trennten sich; die Fremden verließen Norderney und die übrigen kehrten in ihre Häuser zurück, Onnen und Georg Wessel erst dann, als sie einander geschworen hatten, zusammen im Kampfe gegen den Todfeind in der vordersten Reihe zu stehen.
Dem Knaben graute es vor der verödeten Heimat. Die alte Mutter, sonst so rüstig und mutig den Fährnissen des Lebens gegenüber – jetzt war sie gebrochen. Seit jener Stunde, wo ihr der dem Tode geweihte Mann den Ring in die Hand legte, seit jener furchtbaren Stunde war ihr Haar weiß wie Silber.
Onnen traf sie nicht allein. Die Tante aus Hilgenriedersiel war auf die Schreckenskunde der Gefangennehmung hin nach Norderney geeilt, um womöglich ihren lieben alten Bruder noch einmal zu sehen – aber vergebens. Als sie kam, fielen gerade jene Salven, welche auch seinem Leben ein Ziel setzten; sie konnte nur mit der hart betroffenen Witwe bitterlich weinen, ihres eigenen und des fremden Leides wegen.
Onnen streckte ihr stumm die Hand entgegen, er brachte kein Wort hervor. Jetzt erst, nun er wieder zu Hause war, in der altgewohnten Umgebung, jetzt erst fühlte er die ganze Schwere des erlittenen Verlustes.
Onkel Hansen saß noch immer für seinen geflüchteten Sohn im Gefängnis, es kamen des Krieges wegen nur wenig Badegäste, die Schmugglerfahrten waren gänzlich zu Ende und so hielt neben allem übrigen, je länger, desto mehr, auch die bleiche Sorge ihren Einzug in solche Häuser, wo sonst Überfluß herrschte. Frau Antje weinte ihre bitteren Tränen; sie und Jurtke mußten spinnen oder stricken, um nur den Kindern das trockne Brot geben zu können. Es war ein trauriger Abend, den die kleine Familie miteinander verbrachte – und dennoch sollten ihm viel, viel traurigere folgen.
Kurz nach der vollstreckten Hinrichtung kam eines Tages ein Brief von dem Maire in Norden. Das große amtliche Siegel schien Schlimmes zu verkünden – Frau Douwe zitterte, als sie es erbrach und den Inhalt des Schreibens las.
Auf Befehl des Kaisers waren sämtliche Güter der Erschossenen dem Fiskus verfallen.
Die unglückliche Frau verstand nicht gleich, was sie sah, erst das mitleidige Gesicht des Nordener Amtsdieners ließ sie das neue Schrecknis erkennen. Also ausgeplündert – das war es.
Onnen schrie laut auf. Des Vaters Dreimaster in Bremerhaven, die »Taube«, das Haus – alles. Jetzt war seine Mutter arm wie Aheltje, die Hexe draußen in den Dünen.
Ein Verzeichnis des ganzen Nachlasses mußte am nächstfolgenden Tage dem Maire eingeliefert und die Sachen zur Verfügung gestellt werden. Wie es den Witwen und Waisen der Gemordeten erging, das kümmerte ja die Franzosen nicht.
Uve Mensinga kam selben Abends in das Haus der Witwe. »Frau Visser«, sagte er, »Ihr gebt doch das bare Geld nicht heraus? – Laßt mich den Schatz verwahren, sonst nehmen die Schufte Euch das letzte Stück Brot. Und du, Onnen«, fuhr er fort, »geh mit mir, ich will dich auf meine Schaluppe nehmen und als Gehilfen beim Fischfang behalten, bis wir andere Zeiten bekommen. Du mußt jetzt für deine Mutter sorgen, Junge!«
Der ehrliche Mann und treue Freund ließ den Worten die Tat folgen. Alles Geld aus dem Schranke des Kapitäns wurde versteckt, die nötigsten Einrichtungsstücke in verschwiegener Nacht hinübergetragen zum Hause des Wattführers und endlich Frau Douwe, die ganz gebrochene, trostlose, von dem Weibe desselben, der alten braven Trientje Mensinga, mit offenen Armen empfangen. Die beiden Leute hatten keine Kinder – jetzt nahmen sie Onnen auf wie einen geliebten eigenen Sohn und gaben auch aus der Fülle ihrer freundlichen Nächstenliebe der unglücklichen Mutter des Knaben eine sichere, trauliche Heimstätte; selbst Folke Eils konnte täglich mitessen von dem, was der Wattführer als solcher oder als Fischer verdiente.
Dazwischen rasselte wieder die Trommel. Nur eine ganz kurze Proklamation wurde verlesen, aber sehr inhaltsschwere Worte. »Wer die Hand an einen französischen Soldaten legt, wer sich gegen einen solchen selbst zu verteidigen oder Recht zu verschaffen sucht, soll erschossen werden.«
Das galt als Warnung; die Norderneyer verstanden es sehr wohl, aber sie lachten dazu. Wenn der »Falke« einlief, so durchlöcherten ihre Kugeln höchstwahrscheinlich mehr als nur diesen Tagesbefehl.
Onnen wäre in der Schreckenszeit, welche er jetzt durchlebte, vor Qual und Gram gestorben, wenn ihn nicht der Haß gegen den Todfeind, die Hoffnung auf Wiedervergeltung immer noch aufrecht gehalten hätten. Eine Niederlage sollten die Franzosen erleiden und ob Ströme Blutes fließen mußten, eine Niederlage, die ihren Hochmut, ihre trotzige Selbstüberschätzung empfindlich züchtigte.
Aus Hamburg kamen damals nach Norderney von den wenigen Badegästen Mitteilungen, welche den herrschenden Groll bis zum äußersten steigerten. Dort waren Schmuggler und solche, die sich nicht von den Zollbeamten in jeder Weise belästigen lassen wollten, ohne Urteil oder Verhör auf dem Heiligengeistfelde standrechtlich erschossen worden, zuweilen sechs und zehn an einem Tage; die Räubereien und Erpressungen der Franzosen hatten weder das öffentliche, noch das Privateigentum verschont.
Uve Mensinga nickte. »Laßt sie nur, Kinder, laßt sie nur. Je eher das Maß ihrer Schuld gefüllt ist, desto früher kommt jener eine Tropfen, welcher es überfließen läßt. Wir können warten.«
Als das Haus des erschossenen Kapitäns und seine Schaluppe unter den Hammer gebracht wurden, da hatten die Franzosen den Amtsschreiber umsonst nach Norderney bestellt und ebenso umsonst ihre Bekanntmachungen an alle Mauern geklebt; weder auf diesen Besitz, noch auf den der übrigen Gemordeten erfolgte irgendein Angebot. Die Insulaner nahmen von der ganzen Sache nicht die allermindeste Notiz, heimlich aber freuten sie sich des Ärgers, den die Franzosen ertragen mußten.
Am Abend desselben Tages flüsterte Uve Mensinga in Onnens Ohr: »Du, der ›Falke‹ ist da. Er bringt wenigstens zwanzig Langboote!«
»Gott sei gepriesen! – So kommt endlich die Stunde der Rache!« Der Wattführer schüttelte den Kopf. »Nicht der Rache«, sagte er sehr ernst. »Da mußt du unterscheiden lernen, mein Junge. Wer sich rächt, der will den erlittenen Schaden auf einen andern übertragen, der handelt boshaft – wir dagegen nehmen in offener Fehde gegen die Franzosen den einmal verlorenen Kampf wieder auf, wir hoffen sie in ehrlicher Schlacht zu besiegen und ihnen zu zeigen, daß sie feige Schandtaten begingen, indem ihre Kugeln wehrlose Männer töteten. Es ist gegenwärtig Krieg, das sollen die Übermütigen fühlen.«
Onnen nickte. »Soviel ich dabei in Betracht komme, gewiß. Wir werden ihnen eine Niederlage bereiten – das walte Gott.«