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Kapitel 4 
ОглавлениеEin paar Stunden zuvor bei der Redaktion des Stadtblatts
Die Augen gen Himmel gerichtet blicke ich die Front des achtstöckigen Bürokomplexes hinauf. Tonnen an Stahlbauträgern wurden mit riesigen Kränen Stockwerk für Stockwerk in luftige Höhe gebracht. Die Bauzeit mit nur zwei Jahren verblüffte nicht nur die Verantwortlichen der Stadt selbst, sondern sorgte auch im Umfeld für Aufmerksamkeit. Im Vorfeld war der Bau nämlich lange umstritten gewesen. Insbesondere die Kirche klagte, da das Gebäude selbiger den Rang als höchstes Bauwerk der Stadt ablief - und es handelt sich bei unserer Kirche nicht um eine Dorfkirche. Die Bevölkerung war gespalten und es kam immer wieder zu heftigen Debatten unter den Verantwortlichen. Einen allgemeinen Bürgerentscheid gab es trotzdem nicht. Unter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, dass die Lobbyarbeit der zwei großen IT-Unternehmen im Komplex den größten Einfluss auf die letztlich positive Entscheidung zum Bau hatten. Mit Jahresumsätzen von fast hundertmillionen Euro lässt sich schon einiges bewegen. Im Nachhinein ist der Aufschrei der Bevölkerung nicht wirklich laut geworden, zumal die Arbeitslosigkeit in der Stadt durch den Bau und die zahlreichen Neuanstellungen nach Fertigstellung leicht gesenkt werden konnte. Für die Kirche war es quasi der Anfang vom Ende, was die Skyline betrifft. In den letzten Jahren sind weitere vier ähnlich hohe Gebäude dazu gestoßen, eines davon ein Hotel, das quasi im Handumdrehen die bisherige Hotellandschaft der Stadt gefressen hat und seither eine Art Monopolstellung besitzt. Nur weit außerhalb gibt es noch kleinere Hotels, die mittleren in der Innenstadt sind alle verschwunden. Das nächste große Bauwerk ist schon in Planung und könnte das neue höchste Gebäude werden, wenn es die Zustimmung der regionalen Politik erhält. Da es sich bei den Befürwortern unter anderem wieder um die zwei IT-Unternehmen handelt, deren Wachstum kein Ende zu kennen scheint, stehen die Chancen für den Bau sehr gut.
Noch aber ist meine Arbeitsstätte die Nummer eins in Sachen Höhe. Die auf jeder Etage symmetrischen vier Büroeinheiten sind im Viereck angelegt und auf allen Ebenen identisch. In der Mitte befinden sich vier dazu passende Aufzugschächte, die qualitativ top sind und seit der Inbetriebnahme nie ausgefallen sind. Auf allen Etagen bis auf das Erdgeschoss, wo sich der Empfang, zwei Kantinen und zwölf Tagungsräume befinden, gibt es nur Büros, Wohnfläche wurde nicht geschaffen. 28 Firmen sind demzufolge ansäßig, was die Anreise mit dem Auto wegen der beschränkten Parkmöglichkeiten für viele unausstehlich macht. Busse hingegen halten alle zehn Minuten und fahren in verschiedenste Richtungen.
Von der Bushaltestelle zum Eingang sind es knapp 100m, lang genug, die Fensterfronten zu bewundern. Auf der Westseite sind Fensterputzer aktiv, rund einmal im Monat kommt eine Firma und benötigt knapp eine Woche um alle Stockwerke abzuarbeiten. Gerüste müssen auf- und abgebaut werden, man ist etwas wetterabhängig und das reine Putzen dauert auch seine Zeit. Ganz oben auf dem Gebäude gibt es eine Aussichtsplattform, die einen sensationellen Ausblick über die Stadt gibt. Hin und wieder begebe ich mich in der Mittagspause dort hinauf und genieße die Höhenluft. Wenn die Sonne allerdings zu stark scheint, ist es temperaturmäßig kaum auszuhalten, zumindest nicht in den Monaten Mai bis August.
Die Redaktion befindet sich im sechsten Stock, der Aufzug unten steht sofort bereit und fährt heute ohne Zwischenstop in wenigen Sekunden hoch. Die Türen gleiten auf und ich zücke meine Chipkarte. Die gesamte Büroeinheit ist mit einer Glastür gesichert, die sich nur öffnet, wenn man eine entsprechende Chipkarte mit Zugangsberechtigung besitzt. Der Verlust einer solchen Karte kann den Arbeitnehmer teuer zu stehen kommen, allerdings nur, wenn er es nicht rechtzeitig meldet. Im Grunde ist die Lösung einfach, man programmiert den Code um und speichert ihn auf den existieren Karten. Das Problem ist am ehesten der ansonsten etwas hinterherhinkende Gebrauch von allem, was mit IT zu tun hat. Die Internetverbindung ist weiterhin nur die Zweitschnellste und den Änderungsvorschlägen wird immer wieder entgegen geworfen, dass es doch mit der bisherigen Technik klappe und diese vor allem stabil laufe. Würde man etwas Neues anschaffen, wisse man ja gar nicht, ob es nicht zu viel mehr Komplikationen käme. So ganz überraschen kann diese Einstellung bei einem konservativen Blatt natürlich nicht. Die Folge ist jedoch, dass alles, was den IT-Support betrifft etwas langsam vonstatten geht. Das ist kein rein technisches Problem, sondern liegt auch an mangelnder Manpower.
Die Eingangstür öffnet sich und ein “Guten Morgen Herr Truggenbrot!” hallt mir von der Rezeption entgegen. Wieso wir immer noch eine Rezeption hier oben besitzen, die dazu noch ganztägig besetzt ist, ist mir ein wenig schleierhaft. Zu tun hat dort über den Arbeitstag gesehen jemand vielleicht für zwei Stunden, der Rest ist Zeit totschlagen, da vieles bereits am Empfang im Erdgeschoss geklärt wird. Vielleicht gibt es die Rezeption weiterhin wegen des ersten optischen Eindruckes. Die Redaktion legt da viel wert drauf, alles ist farblich auf die Blautöne der Zeitung abgestimmt und das helle Mobiliar ist äußerst stilvoll eingerichtet. Große Topfpflanzen zieren die Ecken des Empfangs, überall ist viel Platz, so dass der Raum unheimlich groß wirkt. Auf der linken Seite befinden sich die zwei großen Konferenzräume, die letztes Jahr endlich auch mit Beamern ausgestattet wurden. Wie gesagt, es geht hier ziemlich konservativ zu. Daneben befinden sich noch zwei Mitarbeiterbüros sowie das Büro des Chefredakteurs. Auf der rechten Seite sind außer den Toiletten nur noch Mitarbeiterbüros. Alle sind für maximal drei Personen ausgelegt und meist mit zwei dauerhaft besetzt. Nur wenn es zu gesteigertem Workload für ein Thema kommt, wird der dritte Platz durch Umverteilung gefüllt. Das Prinzip hat sich bewährt und klappt über alle Resorts hinweg vor allem für die Recherche sehr gut. Alle Arbeitsplätze sind mit ergonomischen Stühlen ausgestattet, die keinen Wunsch offen lassen. Leider müssen sich alle Mitarbeiter nach wie vor mit zwei mittelgroßen Monitoren begnügen, während es bei vielen anderen Zeitungen mittlerweile üblich ist, auf drei großen Bildschirmen zu arbeiten. Vielleicht werden ja nächstes Jahr welche angeschafft.
Ich öffne die weiße Tür mit der Nummer acht. Tanja, meine Kollegin, ist noch nicht da. Sie kommt häufig erst eine Stunde später als ich, bleibt dafür aber entsprechend länger. Das hat den Vorteil, dass unser Büro durchgängig besetzt ist, da sich auch unsere Mittagspause in der Regel unterscheidet. Wirklich anders als bei mir zu Hause sieht es auch hier nicht aus. Hunderte Blätter säumen meinen Schreibtisch, der Kopierer blinkt und verlangt nach einem neuen Toner und das Telefon zeigt unbeirrt die 23 Anrufe auf dem Anrufbeantworter. Die sind alle abgehört, aber auf Grund eines technischen Defektes werden seit rund zwei Wochen dennoch 23 Anrufe gemeldet. Es dauert eben immer etwas länger mit diesen technischen Dingen.
Ich starte meinen PC, lege mir meine Dokumente von zu Hause zurecht, werfe einen Blick auf das Faxgerät und mache mir dann erst einmal einen Kaffee. Ein paar Minuten habe ich noch, denn beim Gang durch die Rezeption habe ich gesehen, dass mein Chef, der mich ja zu sich bestellt hat, noch im Gespräch ist. Der Kaffee wird auf jeden Fall nicht schaden. Nach gut drei Minuten ist der Rechner hochgefahren und ich mache mir einen Überblick der eingegangenen Mails. Die Hälfte lösche ich sofort, zwei markiere ich mir als besonders wichtig und den Rest werde ich bearbeiten, falls ich die Zeit dafür habe. Das Icon der App zeigt mir jedoch 124 an, weshalb das mit dem falls ich Zeit dafür habe doch eher utopisch ist. Ich greife zum Telefon und wähle die Kurzwahl der Rezeption. “Ist Richard noch im Gespräch?”, frage ich. “Hallo Herr Truggenbrot, nein, er verabschiedet gerade seinen Gast. Soll ich Sie ankündigen?”, antwortet die Stimme aus dem Telefon. “Nicht nötig, er weiß Bescheid.” Ich lege auf. Einen Schluck Kaffee später erhebe ich mich und mache mich auf den Weg zu ihm.