Читать книгу Im Auge des Betrachters - Sören Jochim - Страница 8

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Eine knappe Stunde später bin ich nicht viel schlauer als vorher und Tanja ist auch immer noch nicht wieder da. Das Telefon klingelt, ich hebe ab. “Hallo Herr Truggenbrot, könnten Sie nochmal kurz zum Chef rein? Er möchte Sie noch einmal sprechen.” Natürlich. Wahrscheinlich hat er das Dokument gefunden, nachdem er vorhin gesucht hatte und möchte mir noch etwas persönlich dazu sagen. In Richards Büro angekommen, fällt mein Blick auf einen der drei Zeitungsausschnitte, die eingerahmt in randlosen Bilderrahmen an der Wand hängen. Serienkiller Matthias S. endlich gestoppt - Entscheidende Hinweise durch Bevölkerung, ist dort in der Überschrift zu lesen. Unsere Zeitung hatte entschieden zur Aufklärung beigetragen, da wir den Kontakt zur Zeugin herstellen konnten. Das ist auch zwischen den Zeilen zu lesen, aber offensichtlicher wollte es Richard damals nicht haben. Er sagte, ihm sei genug, dass er wisse, wie sehr wir zur Aufklärung beigetragen haben und dass wir die Welt zu einem etwas besseren Ort gemacht hätten. “Danke, dass du nochmal reingekommen bist.”, eröffnet Richard das Gespräch. “Gar kein Problem, die fünfzig Schritte schaffe ich grad noch.”, entgegne ich. Er lächelt kurz. “Ich finde das Papier einfach nicht, wahrscheinlich liegt es bei mir zu Hause, dann bringe ich es dir morgen mit. Ich habe es wohl in der Hektik heute vergessen. Du musst also die nächsten Stunden ohne vorgefertigte Planung und Kontakte vorankommen.” Das ist nicht das, was ich hören wollte. “Oh Mann, ich hab eben schon eine Stunde gesucht und bin kaum schlauer geworden. Tanja ist immer noch nicht im Haus. Ich weiß nicht, ob das mit den 48 Stunden wirklich klappen wird unter den Umständen.” Eine gewisse Verzweiflung mischt sich dabei in den Ton meiner Stimme, ich hasse es, Richard zu enttäuschen. Beruhigend antwortet er, “Rolf, bleib ganz ruhig. Ich weiß doch, wozu du fähig bist. Und den Standpunkt der Zeitung kennst du ja bereits, hangle dich daran entlang. Videos und Artikel zum Rapper selbst sollte es ja genug geben, er ist ja kein Unbekannter.”

Mir brennt auf der Zunge zu fragen, was so Besonderes an diesem Fall ist. Ich würde ihm gern sagen, dass er sich so komisch verhält und mir das Sorgen bereitet. Aber bin ich der Richtige, diese Fragen zu stellen? Zweifel machen sich breit. Richard bemerkt, dass ich mit mir hadere. “Was ist los, Rolf? Irgendwas möchtest du doch noch sagen.”, ermutigt er mich, den Mund zu öffnen. “Nichts Wichtiges. Kannst du mir nicht noch mehr über den Fall sagen? Ein paar mehr Ansatzpunkte wären schon wichtig.”, ist alles, was ich hervorbringe. Klartext schreiben geht, aber Klartext reden, damit habe ich manchmal so meine Probleme. “Ich kann dir wirklich nicht mehr sagen. Die Sache kommt von oben. Ja, ich bin der Chefredakteur hier und kann eine Menge bestimmen, aber auch ich berichte meinem Chef und muss mich an Vorgaben halten. Der hat den Artikel ganz oben auf die Agenda gesetzt und Zeitdruck gemacht. Das ist aber wirklich alles, was ich noch sagen kann. Vertrau mir, mach deinen Job und zeig, was du drauf hast. Ich weiß, 48 Stunden ist echt knapp, aber wenn es unter den Umständen einer hinbekommt, dann du.” Er war schon immer ein motivierender Mensch, das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich ihn so schätze. “Okay, ich frage nicht wieder nach und mache mich an die Arbeit. Bis später vielleicht.”

Die Zusammenhänge in den Hierarchien im alltäglichen Leben sind einem manchmal einfach nicht bewusst. Natürlich hätte ich mir denken können, dass mein Chef auch seine Anweisungen von oben bekommt. Wer bekommt die schließlich nicht? Das ist ja etwas ganz Natürliches. Die Welt funktioniert nunmal in dieser Pyramidenform. Die Menschen an der Spitze geben die Richtung vor und je tiefer man nach unten kommt, desto weniger wissen die Menschen dort, über die Beweggründe für diese Richtung Bescheid. Es macht ja auch alleine aus dem Grund schon Sinn, weil die Intelligenz der Menschen unterschiedlich ist. Was der eine innerhalb weniger Sätze versteht, dafür braucht ein anderer Monate. Jeder muss deshalb seinen Platz in der Pyramide finden. Mein Platz ist unter Richard. Habe ich immer noch das Gefühl, dass er mehr weiß, als er mir verrät? Ja, irgendwie schon, aber es wird legitime Gründe geben, warum er mir nicht mehr sagen kann. Die Sache kommt von oben. Wahrscheinlich weiß er selber nicht alles, weil ihm sein Chef auch nur einen Teil sagen kann. Das macht zwar die Arbeit für mich nicht leichter, aber die Suche nach der Wahrheit hat ja auch was für sich. Schließlich ist das der Hauptgrund, warum mich Journalismus Tag für Tag immer wieder reizt.

In der Mittagspause vertrete ich mir ein bisschen die Beine an der frischen Luft. Es ist angenehm warm, ohne ins Schwüle überzugehen. Vor ein paar Minuten rief Tanja kurz an. Sie schaffe es heute erst nach dem Mittag reinzukommen, weil sie trotz ihres Termins ungewöhnlich lange bei ihrem Arzt warten musste. Immerhin hat sie Bescheid gesagt. Ein paar grundlegende Dinge über die Band Johnny C. habe ich erfahren, aber das gehe ich dann mit ihr alles nochmal kurz durch, wenn sie da ist. Der Rapper selbst heißt eigentlich John Seeberger und Johnny C. ist offenbar Englisch zu verstehen, im Sinne von Johnny Sea, als Kurzform für seinen Namen. Die Leute kommen auf Ideen. Über die sonstigen zwei Bandmitglieder aber ist außer den Namen Manuel und Steven nicht viel herauszufinden. Selbst die Nachnamen sind bislang ein Rätsel. Vielleicht gehört sich das so, wenn es einen Star gibt, der im Rampenlicht steht. Außerdem ist Tanja in diesen Online-Recherchen viel besser, ich stochere nur rum und Suche die Nadel im Heuhaufen. Meine Zeit kommt, wenn es um die Zusammenhänge geht. In meinem Kopf bastle ich schon an den Tafeln und Pinnwänden zu Hause, ziehe Verbindungen, ergänze versteckte Informationen. Bleibt die Frage, ob die Zeit bis übermorgen ausreicht, um tiefer einzusteigen. Zur Not muss ich mir doch das ein oder andere aus den Fingern saugen. Wäre auch nicht das allererste Mal.

Es ist eines der großen Probleme, die wir als Tageszeitung haben. Vieles dreht sich darum, schnell zu reagieren und in kürzester Zeit, Artikel zu veröffentlichen. Man möchte schließlich so tagesaktuell wie möglich sein. Schafft man das nicht, sind andere Zeitungen schneller und ehe man sich versieht, ist die Nachricht schon wieder so veraltet, dass eine Veröffentlichung sich gar nicht mehr lohnt. Dann wäre die ganze investierte Arbeit umsonst. Magazine haben es da leichter. Die können ihre Beiträge über Wochen oder gar Monate vorbereiten und sind dadurch auch deutlich faktenbasierten. Sie können immer wieder prüfen, Quellen abgleichen, nochmal prüfen, Zusammenhänge klären und wieder prüfen. Wir von der Tageszeitung hingegen brauchen auch Bauchgefühl. Das lernt man in diesem Geschäft, wenn auch manchmal auf die harte Tour. Die Magazine mögen akribischer sein, aber letztlich ist für einen guten Journalisten wichtig, dass er seiner Intuition in den richtigen Momenten folgt. Die wirklichen Top-Journalisten arbeiten im Tagesgeschäft. Hilfreich ist, wenn man gute Quellen besitzt, denen man vertrauen kann. Das ist wieder wie mit der Pyramide. Man muss eben die richtigen Leute über sich kennen, dann kommt man auch an die notwendigen Informationen. Ich muss mir allerdings eingestehen, dass ich in diesem Fall hinsichtlich Informanten aus der Musikbranche leider etwas mau besetzt bin. Höchstens Herrn Preis könnte ich mal anrufen, der weiß am ehesten etwas oder kann mich zumindest weiterleiten. Das werde ich nach der Pause mal in Angriff nehmen, nachdem ich mein belegtes Brötchen gegessen habe. Oder besser noch etwas später, wenn ich Tanja, sofern sie dann endlich da ist, aufgeklärt und an die Arbeit geschickt habe.

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