Читать книгу Im Auge des Betrachters - Sören Jochim - Страница 7

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“Hallo Richard, du wolltest mich sprechen.” Richards Büro ähnelt dem aller anderen, hat aber nur einen Arbeitsplatz. Es ist sehr überschaubar eingerichtet, ein paar immergrüne Pflanzen, eine Couch und ansonsten die zwei Schreibtische, das war es. Neben der Eingangstür stehen für den Bedarf noch zwei weitere Stühle. Die Wände sind mit allerlei Urkunden geschmückt, die Erfolge der Zeitung aufweisen, Bilder gibt es keine, auch nicht auf dem Schreibtisch. Richard hat Familie, so viel weiß ich, zwei Söhne glaube ich, aber die Seite seines Lebens trennt er strikt von seiner Arbeit und ich habe gelernt, nicht weiter nachzufragen. “Guten Morgen Rolf, du sahst schon mal besser aus, schlecht geschlafen?” Mit den Jahren kennt mich Richard sehr gut. “Ja”, antworte ich, “mal wieder dieser Traum. Aber ich war schon laufen heute Morgen, ist schon fast wieder vergessen. Was hat das jetzt mit diesem Musiker auf sich?”

Er durchsucht die Blätter auf seinem Schreibtisch, scheint aber auf Anhieb nicht zu finden, wonach er sucht. “Wie schon gesagt, Christian und Evelyn fallen aus und ich brauche jemanden, der sich um die Sache kümmert. Du bist meine erste Wahl. Es geht ganz grob um einen Rapper namens Johnny C., bei dem einem seiner Bandmitglieder Vergewaltigung vorgeworfen wird. Irgendwie sowas. Außerdem haben die jüngst auf einem Festival gespielt und einen neuen Song präsentiert. Daher gibt es genügend Material, um daraus eine gute Story zu machen.” Der Rechtsbezug macht den Fall für mich gleich interessanter. Kriminalfälle haben mich immer schon fasziniert und wenn ich mal Zeit für Fernsehen opfere, dann für einen der rar gewordenen, guten Krimis. “Interessant. Eine Vergewaltigung habe ich noch nicht behandelt, woher hast du die Info? Ich hätte bestimmt schon davon gehört, wenn das schon öffentlich wäre. Johnny C. ist ja durchaus bekannt bei uns in der Stadt.”

Richard sucht weiter in seinen Papieren. “Die Info basiert auf internen Quellen, mehr kann ich dir gerade gar nicht sagen. Ein bisschen selbst recherchieren wirst du noch müssen, aber meine Quelle sagt, dass der gesamte Vorfall hoch brisant ist und Karrieren zerstören wird.” Er flucht kurz, “Ich finde das Übersichtspapier grad nicht, tut mir leid. Ich reiche es dir nach, sobald es mir in die Finger fällt. Du kannst ja mit ein wenig Online-Recherche anfangen. Tanja wird dich unterstützen, kommt heute aber noch etwas später als gewöhnlich, weil sie noch einen Arzttermin hat. Ach ja, und ab Morgen ist noch eine Praktikantin bei dir, eine Anna oder Anne Friedrich, sie bleibt für sechs Wochen.” Das auch noch, der muss ich dann bestimmt wie der letzten Praktikantin erst mal wieder viel erklären. Die war echt der totale Reinfall. “Waren wir uns nicht einig, dass erst mal keine Praktikanten mehr zu mir kommen?”, frage ich. “Die hier ist anders, glaub mir, die hat echt was auf dem Kasten, du wirst sie mögen.” Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. “Na, wenn du meinst.” Richard blickt plötzlich ernst: “Wenn du diesen Artikel schreibst, mach deutlich, dass wir als Zeitung uns ganz klar gegen jede Art der Vergewaltigung und was da nicht sonst noch passiert ist, richten. Wir haben einen Ruf in der Stadt und dem Umfeld und es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden.” Ich stutze etwas, denn solch eine Aussage kommt von Richard nicht oft. Wenn ich mich richtig erinnere, gab es so etwas sogar noch nie. Perplex nicke ich leicht. Er lächelt und wechselt das Thema. “Wie war dein Date neulich?”

Von Zeit zu Zeit probiere ich es eben noch einmal. Meine Oma mit ihren stolzen 87 Jahren wünscht sich ja so sehr ein Ur-Enkelkind. Natürlich wäre eine Frau zu finden schon eine tolle Sache, aber so richtig funken will es einfach nicht. Eine Kollegin aus der Sportabteilung hatte das Date am letzten Samstag verkuppelt. Sie hatte mir im Vorfeld gesagt, dass Tina eine reizende Persönlichkeit hätte, total lieb sei und mir auf Anhieb gefallen müsse. Sie sei lediglich Single, weil sie sich immer die falschen Männer aussuche. Damit sollte jetzt ein für alle Mal Schluss sein. Wie kommst du dann auf mich, hatte ich lachend gefragt.

Jedenfalls trafen wir uns in einem Café in der Innenstadt, nicht weit entfernt von der Kirche. Wir hatten abgemacht, dass sie einen roten Pullover und ich eine schwarze Weste tragen würde. Natürlich hatten wir auch im Vorfeld Fotos voneinander gesehen, dafür hatte meine Kollegin gesorgt, aber auf Fotos kann man ja heutzutage nicht mehr so sehr vertrauen. Wenn ich an den Anblick heute Morgen im Spiegel denke, würde ich das Foto, das Tina zu Gesicht bekommen hatte, für absoluten Fake mit ganz viel Bearbeitung und Zeitversatz von vielleicht zehn Jahren halten. Tina trug eine runde Brille, hatte die dunklen Haare offen, ungefähr schulterlang und wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, als ich am Café eintraf. Auf ihrem roten Pulli stand in großen Buchstaben Tierfreund, ein erstes Statement. Wir hatten nie Haustiere als ich klein war, vielleicht habe ich auch deshalb nie verspürt, mir ein eigenes anzuschaffen. Ehrlicherweise hätte ich aber auch gar keine Zeit für ein Tier, die Arbeit macht sich schließlich nicht von selbst und ganz fest sind die Arbeitszeiten ja ohnehin nicht. Da gibt es sicher bessere Herrchen, bei denen ein Hund - wenn überhaupt, dann käme ein Hund in Frage - aufgehoben wäre.

“Bist du Tina?”, hatte ich trotz der eindeutigen Zeichen gefragt. Sie nickte und sah dem Foto, das ich bekommen hatte, gar nicht so unähnlich. Sie wirkte lediglich ein ganz kleines bisschen rundlicher und die offenen Haare ließen sie jünger wirken. “Hi, äh, ich bin Rolf. Schön dich kennenzulernen.” Ich streckte ihr die Hand entgegen. “Hallo Rolf, gleichfalls, ein bisschen was habe ich ja schon über dich gehört.” Sie lächelte und schüttelte mir dabei kurz die Hand. “Sollen wir uns draußen einen Tisch nehmen, drinnen ist es immer so laut.”, schlug ich vor. “Klar, kein Problem.”, antwortete sie und zeigte auf einen freien Tisch: “Den da vielleicht?” Ich nickte und wir setzten uns. Ich schaute in die Getränkekarte, suchte mir ein alkoholfreies Radler aus und blickte zu ihr. Sie schien etwas verstört, sagte aber nichts. Ich hielt ihr die Karte hin und sie suchte sich selbst etwas. Worüber sollte ich bloß mit ihr sprechen? Das ist immer wieder mein Problem bei diesen Dates, ich will ja nicht die ganze Zeit von meiner Arbeit reden und aktuelle Politik besprechen, soll beim ersten Date nicht so gut ankommen. Da würde ich mich aber wenigstens auskennen. “Ich nehme eine Rhabarberschorle.”, verkündete sie stolz. Das habe ich mir auch nur merken können, weil ich Rhabarber absolut unausstehlich finde. “Gut. Was machst du beruflich?” Dem irritierten Ausdruck in ihrem Gesicht entnehme ich, dass die Frage wohl zu früh kam, dennoch antwortet sie, “Ich bin Tierpflegerin im Tierheim in der Nordstraße. Kümmere mich um streunende Katzen und Hunde und päppele sie auf.” Das Tierheim kenne ich nicht, die Nordstraße sagt mir etwas, aber ganz genau einordnen kann ich sie nicht. “Ah, okay, du magst Tiere wohl? Ich arbeite als Journalist beim Stadtblatt. Du weißt schon, in dem großen Hochhaus mit den ganzen Firmen.” Sie nickt. “Ja, klar, weiß ich von Manuela, sie arbeitet ja auch dort. Wie gefällt dir die Arbeit? Und ja, ich mag Tiere über alles, die sind so knuffig und treu. Ich habe selbst einen Hund, eine Katze, zwei Kanarienvögel und ein Aquarium mit diesen Guppies, kennst du die? Herrliche Geschöpfe.” Manuela hieß die Kollegin aus der Sportabteilung, richtig, mir war der Name entfallen. “Ja, schon mal davon gehört.” Der Kellner kommt und nimmt unsere Bestellung auf. Es blieb bei dem einen Getränk. Wir haben dann irgendwie den Faden verloren und hatten uns fortan nicht mehr viel zu sagen. Sie schien sich auch gar nicht für mich zu interessieren.

“Hätte besser laufen können.”, antworte ich Richard, nachdem er sich geräuspert hatte und mir auffiel, dass ich in Gedanken versunken war. “Also war jetzt eher ein Flop. Wir hatten uns nichts zu sagen und sie kannte kein anderes Thema als ihre Haustiere. Ich bin ja jetzt nicht gegen Tiere, aber”, beginne ich. “Aber was?”, fragt Richard. “Ich weiß auch nicht, hat einfach nicht gefunkt.” Mein Chef zieht die Mundwinkel nach unten und nickt. “Es funkt ja auch nicht immer gleich beim ersten Mal. Du wirst schon noch jemanden finden, bist schließlich ein netter Kerl, der eine Menge auf dem Kasten hat. Trefft ihr euch trotzdem nochmal?” Nochmal? Nein, danke. Ich kann meine Zeit besser vertreiben als jemanden anzuschweigen. “Ich denke nicht. Wahrscheinlich wird das nichts mehr mit der Ehe und den Kindern. Das Gute ist, dass mich dann niemand von der Arbeit ablenken kann. Außerdem halten Beziehungen ja ohnehin nicht, die Statistik über die Scheidungsraten lügt ja nicht und von Jahr zu Jahr werden es mehr.”, füge ich hinzu. “Ach Rolf, lass den Kopf nicht hängen, zu jedem Topf gibt es auch einen Deckel. Aber wenn du die Arbeit schon ansprichst. Deadline für den ersten Entwurf ist in 48 Stunden. Wir wollen hier schnell handeln und dann bei der nächsten größeren Teamsitzung alles Weitere besprechen.” 48 Stunden ist nicht viel Zeit für ein Thema, von dem man gar keine Ahnung hat. Irgendwas scheint an diesem Bericht anders zu sein. “Puh, das wird aber eng. Ich schaue mal, was sich machen lässt.” Richard setzt wieder sein ernstes Gesicht auf. “Rolf, der Artikel wird wichtig. Ich setze dich ran, weil du der Beste für den Job bist. Mal schauen reicht da nicht. Verstehst du?” Ich sage ja, irgendwas ist anders, so kenne ich Richard gar nicht. Es gehört sich aber nicht, seinem Chef länger zu widersprechen. Ich seufze und stimme zu. “Ich bekomme das hin. Dann mache ich mich auch mal an die Arbeit. Hoffentlich kommt Tanja nicht allzu spät heute.” Richard erläutert, “Tanja ist beim Arzt, hab ich doch vorhin gesagt. Sie wird später kommen und dir heute nicht so viel helfen können. Ich suche gleich nochmal nach dem Dokument und lasse es dir rein reichen.” Beim Arzt, ausgerechnet heute. “Ah, okay.” Ich stehe auf, drehe mich um und verlasse das Büro.

Zurück in meinem Büro angekommen, fahre ich die elektrischen Jalousien zu, die Sonne blendet aus diesem Winkel für die nächste Stunde. Ich denke über das Gespräch mit Richard nach, vor allem die Art und Weise wie er das mit der Vergewaltigung ausgedrückt hat und wie der Standpunkt der Zeitung ist. Es gibt Dinge, die können wir nicht schönreden, hatte er gesagt. Eine komische Aussage, ich bin gespannt, was die Recherchen über diesen Johnny C. und seine Band ergeben werden. Richard lässt mir bei meinen Artikeln sonst sehr viel Freiheiten, an einen Hinweis auf die konservative Haltung unserer Zeitung kann ich mich nicht erinnern. Und es gab auch schon Artikel, in denen ich ziemlichen Schwachsinn fabriziert habe. Allen voran der Text über die geplante Abschaffung des Studententickets, was sich als völlige Ente erwies. Damals war ich natürlich noch recht unbeholfen und zu meiner Verteidigung hat das Zwei-Quellen-Prinzip in dem Fall versagt. Beide Informanten hatten sich über Umwege auf dieselbe Ausgangsperson bezogen, was ich mit etwas mehr Zeit wohl auch herausgefunden hätte. Leider wollte ich mir diese Zeit selbst nicht geben und unbedingt eine echte Schlagzeile produzieren. Richard hat mich damals geschützt und sich hinter meinen Artikel gestellt, das kam nicht überall gut an. So wie heute habe ich ihn noch nicht erlebt. Mach deutlich, dass wir uns gegen jede Art der Vergewaltigung richten. Seine Informationen müssen verdammt gut sein, vielleicht kennt er das Opfer selbst. Das würde natürlich sein Verhalten erklären. Mal sehen, wann Tanja kommt, sie ist in den Anfangsrecherchen deutlich schneller als ich und mit dem Computer kommt sie auch besser zurecht. Ich fange am besten trotzdem schon mal an. Wo ist nochmal der Browser… Da. Richard, wieso kannst du mir nicht mehr verraten? Naja, er wird schon wissen, was das Beste für die Zeitung ist, das hat er oft genug bewiesen.

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