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MONTAG 6

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Nicht nur, dass Nathalie auch in der kommenden Nacht nicht durchschlief; dadurch, dass sie früher eingeschlafen war, war die Nacht für sie bereits um zehn vor sechs zu Ende. Caro holte sie zu ihnen ins Ehebett und versuchte, sie so wenigstens noch zu einem kleinen Nickerchen zu überreden. Die Hoffnung erfüllte sich leider nicht.

Als die Augen nicht mehr so stark brannten, stand Mark auf und unternahm mit Felix eine ausgiebige Joggingrunde durch den angrenzenden Stadtpark. Das und die knackige Februarkälte vertrieben die Müdigkeit weitestgehend, den Rest erledigten die heiße Dusche und die lautstarke Musik während der Fahrt zum Präsidium. Mit dem eingängigen und ironischen Slave to the Wage der Band Placebo aus den Lautsprecherboxen konnte man nur kraftvoll in den Tag starten. Vor allem an einem Montag. Das fand sogar der Moderator der Morgensendung auf Wild FM.

Weniger motivierend war die Geschwindigkeit, mit der Marks alter Desktop-PC aus dem Dornröschenschlaf erwachte. Die Geräusche, die die Kiste dabei machte, klangen besorgniserregend und wiesen auf einen baldigen Ausfall des Lüfters oder Prozessors hin. Möglicherweise beides. Mark nutzte die Zeit für einen Abstecher in die Küche, um Kaffee für sich und frisches Wasser für den Hovawart zu besorgen. Das dauerte etwa fünf Minuten, doch auch danach war der PC nicht einsatzbereit.

Mark suchte den Schreibtisch nach neuen Ausdrucken oder von der Spurensicherung gebrachten Beweismitteltüten ab. Da bei Christoph Schwarz’ Leiche weder Brieftasche noch Schlüssel oder Smartphone gefunden wurden, gab es diesmal offenbar nichts, was Nicole hatte vorbeibringen wollen. Von der IT-Abteilung lag ebenfalls keine Rückmeldung vor. So früh hatte Mark damit allerdings auch noch nicht gerechnet.

Wer hingegen schon abgeliefert hatte, war Rechtsmediziner Dr. Ziegler. Sein vorläufiger Untersuchungsbericht war am späten Sonntagabend per E-Mail eingegangen. Laut dem Doc war Christoph Schwarz zum Zeitpunkt seines Todes in relativ guter Verfassung gewesen. Die etwa fünf Kilogramm Übergewicht schlugen bei einem Mann seines Alters nicht besonders zu Buche. Der Umfang seiner Arm- und Beinmuskeln legten zumindest gelegentliche Fitnessübungen, vermutlich Joggen und Liegestütze, nahe. Seine inneren Organe befanden sich in einem dem Alter entsprechenden Zustand. Der toxikologische Befund stand noch aus, allerdings hatte der Rechtsmediziner beim Schnelltest keinerlei Anzeichen von übermäßigem Alkoholgenuss oder Betäubungsmittelmissbrauch festgestellt.

Gestorben war Christoph Schwarz durch die Einwirkung scharfer Gewalt auf den Halsbereich und einer daraus resultierenden Luftembolie. Durch die aufrechte Körperposition entstand durch die Eröffnung der Halsvenen ein negativer Druck, der zum Ansaugen von Luft in die Venen führte. Dies hatte eine Embolisierung der Lungenarterien und deren Verstopfung verursacht. Aufgrund der großen Stichtiefe vermutete Ziegler das Einstoßen eines schmalen, spitzen Gegenstandes. Die Wundform war deutlich tiefer als lang, glattrandig und spindelförmig. Als Tatwaffe vermutete der Doc einen einschneidigen, spitzen Gegenstand, beispielsweise ein Messer. Das Fehlen von Abwehrverletzungen legte nahe, dass der Angriff unerwartet und abrupt erfolgt war. Die Blutspuren an den Händen ließen vermuten, dass Schwarz versucht hatte, die Finger auf die Wunde zu pressen.

Beim Todeszeitpunkt präzisierte Ziegler noch einmal seine gestrige erste Einschätzung: Das Ableben dürfte am Samstagabend, zwischen 21:00 und 23:00 Uhr, erfolgt sein. Einige postmortale Hämatome, sogenannte Suffusionen, an Rücken, Armen und Beinen bewiesen zweifelsfrei, dass der Körper nach Eintritt des Todes bewegt worden war. Fremde Gewebespuren konnte der Rechtsmediziner nicht nachweisen.

Mark notierte sich die elementarsten Punkte in seinem Notizbuch und nippte an seinem Kaffeebecher, als Dominik schlurfend das Großraumbüro betrat. Der graubraune Anzug und das weiße Hemd hingen an ihm wie ein nasser Sack, auch sonst machte er einen eher verschlafenen Eindruck. Nach all den Monaten ihrer Zusammenarbeit war dies längst zu einem vertrauten Anblick geworden. Es hätte Mark viel eher irritiert, wenn sein Partner adrett gekleidet und putzmunter erschienen wäre.

„Moinsen.“ Dominik ließ sich schwerfällig auf seinen Bürostuhl plumpsen. Während der Computer hochfuhr, fasste Mark die Ergebnisse aus Zieglers Bericht zusammen.

„Leichter macht das unsere Ermittlungen nicht“, befand Dominik anschließend. „Aber wir wollen ja was zu tun haben. Außerdem heißt es ja nicht umsonst: You grow with your challenges.“

„So viel Weisheit, und das noch vor dem ersten Kaffee.“

„Ich habe so meine Momente. Übrigens bin ich letzte Nacht auch nicht ganz faul gewesen.“

„Oje.“

„Nicht das, was du denkst. Ich hab mal das Netz zum Thema Lottogewinn bemüht.“ Er suchte nach der entsprechenden Seite in seinem Notizbuch. „Ah, da ist es: Wenn du beim Lotto gewinnst, kriegst du die volle Gewinnsumme ausgezahlt und musst keinerlei Steuern an den Fiskus abdrücken. Dabei ist es egal, ob du den Tippschein online oder vom Lottokiosk hast. Danach wird es kniffliger. Der Gewinn ist nämlich nur so lange steuerfrei, wie du ihn bei dir daheim bunkerst. Meistens will man die Kohle ja irgendwie in Aktien investieren oder legt sie sich aufs Konto, um von den ach so hohen Zinsen zu profitieren. Sobald das der Fall ist, musst du für die daraus resultierenden Kapitalgewinne eine generelle Abgeltungssteuer blechen, sobald der Betrag das Limit von 801 Euro übersteigt.“

„Damit ich das richtig verstehe: Der Lottojackpot bleibt steuerfrei, aber sobald du damit zusätzliches Geld an der Börse oder durch Zinsen machst, musst du diese Gewinne versteuern.“

„Genau. Wenn du die zwei Mille – oder auch nur sechshunderttausend – clever anlegst, kannst du davon gut leben. Die Steuern werden dann bei der nächsten Einkommensteuererklärung fällig.“

„Ich glaube nicht, dass die Familie Schwarz die für letztes Jahr schon eingereicht hat. Wir haben gerade mal Februar. Außerdem hat er die Kohle ja peu à peu abgehoben. Das klingt nicht nach irgendwas, was versteuert werden müsste. Weder dieses noch nächstes Jahr.“

„Ja, ich denke auch, dass der Mann das Geld eher ... äh ... schwarz ... investiert hat. Sofern überhaupt. Nichtsdestotrotz hat er letztes Jahr für die zwei Mille auf seinem Konto Zinsen eingestrichen. Bei der gemeinsamen Steuerklärung hätte er die mit angeben müssen. Spätestens dabei wäre das mit dem Lottogewinn wohl rausgekommen. Vielleicht hat sich der gute Christoph deshalb unter Zugzwang gesehen und wollte mit dem Zaster lieber jetzt noch was anstellen.“

„Auch das bringt uns wieder zu der Frage, wo diese Kohle jetzt steckt.“

Dominik nickte zögernd. Nachdem er zwei Programme auf seinem Rechner gestartet hatte, drehte er sich wieder zu Mark um: „Gibt es schon eine Rückmeldung von den Streifenbeamten?“

„Vorhin war nichts da. Ich schaue aber noch mal nach.“ Mark klickte die Aktualisierung seines Posteingangs an. „Wow, da ist inzwischen tatsächlich was gekommen.“

„Wusste ich’s doch. Das ist mein sechster Sinn.“

„Ich hätte es ja eher Glück genannt. Aber mit dem Ausdruck muss man bei unserem neuen Fall ja vorsichtig sein. Über das Auto von Christoph Schwarz haben sie nichts geschrieben. Dafür einiges über die Nachbarn der Familie. Sonderlich tiefen Kontakt gab es offenbar nicht. Ab und zu mal ein bisschen Small Talk über das Wetter oder die Müllabfuhr. Dabei sind die Eltern und die Tochter nicht negativ aufgefallen. Das Mädel war manchmal etwas aufmüpfig und zickig, aber welche Siebzehnjährige ist das nicht?“

„Steht da auch was über die Mordnacht?“, fragte Dominik.

„Nicht viel. Der Nachbar auf der gleichen Etage hatte Nachtschicht und war deshalb nicht daheim. Die Leute im Stockwerk darüber und darunter wollen nichts Außergewöhnliches gehört haben. Allerdings hatte einer im Haus die Musik recht laut.“

„Vielleicht in der Wohnung des Opfers?“

„Nein. Da haben die Kollegen von der Streife explizit nachgefasst. Das war einer im dritten Stock. Einer, der öfter mal laut wird. Es gab deswegen anscheinend schon einige Beschwerden.“

„Die aber wie üblich niemanden interessieren.“ Dominik winkte ab. „Klingt auf jeden Fall nicht so, als würden wir damit weiterkommen. Dann werden wir uns also weiterhin an die zwei Angestellten halten.“

Sofort war der Kollege auf den Beinen. Das allein war ungewöhnlich. Noch skeptischer wurde Mark, als ihm das Leuchten in seinen Augen auffiel.

„Täusch ich mich, oder freust du dich gerade tierisch auf den Besuch bei den zwei Zeugen?“

„Noch sind sie ja nicht verdächtig. Außerdem ist es eher die Umgebung, um die es mir geht. In weiser Voraussicht habe ich gestern Abend noch mal meine Plattensammlung durchstöbert. Dabei sind mir ein, zwei interessante Fragen eingefallen.“

„Zu unserem Fall?“

„Natürlich nicht.“

Mark schüttelte den Kopf. „Hätte ich mir ja denken können.“ Insgeheim war er jedoch froh, dass es seinem Partner diesmal offenbar vorrangig um musikalische Belange ging. Das war allemal besser, als wenn er sich für Handwerksfirmen oder geheime Machenschaften interessierte. Davon hatten sie in der letzten Zeit genug gehabt.

Kurz beschlich Mark der Gedanke, sein Kollege könnte ernsthaft bemüht sein, seinen guten Willen zu beweisen. Aber vermutlich war es reine Glückssache, dass es bei diesem Fall um etwas ging, was Dominik fast genauso sehr wie seine Verschwörungstheorien interessierte. Am besten hinterfragte Mark das gar nicht erst.

Während der Fahrt nach Steinbühl plauderte Dominik hemmungslos über seine Plattensammlung und was für Vinylschätze sich angeblich darunter befanden. Zwar besaß er keine der gestern aufgezählten wertvollen Sammlerstücke, dafür aber zahlreiche Raritäten, für die sich echte Fans trotzdem ein Bein ausreißen würden. Darunter einige niemals offiziell erschienene Aufnahmen und Zusammenstellungen von Bands aus den Sechzigern bis Achtzigern. Daher also sein Fachwissen über Bootlegs. Für den bevorstehenden Besuch war das nicht die schlechteste Voraussetzung.

Als sie wenig später mit Felix das Geschäft betraten, war bereits geöffnet. Vier Personen hielten sich im Verkaufsraum auf, alle im magischen Alter zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig. Die Zeit, in der noch alles relativ sorgenfrei ablief.

Ein schlaksiger Typ mit strubbeligen schwarzen Haaren und in einem Shirt der Band My Chemical Romance stand neben der Kasse und hob anerkennend den linken Zeigefinger. „Und los“, sagte er.

Am Tresen nickte ein kräftig gebauter Mann mit gelbbraunem Teint und dunklem Seitenscheitel und drückte eine Taste des CD-Players. Sogleich setzten Schlagzeug und Bass ein, und Farin Urlaub erzählte über die Lautsprecher mit entspannter Stimme, wie das Musikhören am meisten Spaß machte. Beide Leute bewegten ihre Köpfe zögerlich im Liedtakt und gingen richtig ab, als eine halbe Minute später die laute E-Gitarre einsetzte. Auch die beiden anderen Leute im Raum nickten begeistert mit.

„Das Lied spielen wir jeden Morgen. Ist quasi ein Ritual“, erklärte der Strubbelmann vor dem Tresen.

„Was ist das?“, erkundigte sich Mark, nachdem die E-Gitarre leiser wurde.

„Die Instrumente des Orchesters von Die Ärzte. Ein Hammersong. Ihre beste B-Seite überhaupt.“

„Obwohl der Text nicht ganz stimmt“, sagte der Seitenscheitel hinter dem Tresen. Er trug ein weißes Shirt mit dem Gesicht von Jazzsängerin Nina Simone auf der Vorderseite. „Der Lauteste ist nicht immer der Gitarrist. Ich kenne da einen, der spielt Dudelsack. Der übertönt alles.“

„In dem Lied geht es ja auch um die Instrumente der Die Ärzte. Dort gibt es keine Sackpfeifen. Das habe ich dir schon tausendmal gesagt.“

„Und warum heißt das Lied dann Die Instrumente des Orchesters? In einem Orchester sind mehr als drei Leute.“

Darauf wusste er offenbar nichts zu erwidern. Sie lauschten dem Rest des gerade mal zweieinhalb Minuten langen Songs schweigend. Auf die Musik der Besten Band der Welt folgte Oxygen des irischen Trios JJ72. Das Lied hatte Mark neulich erst wieder gehört. Noch immer fand er es bedauerlich, dass sich die Gruppe noch vor dem dritten Album aufgelöst hatte. Die beiden Angestellten griffen sich jeder einen Stapel CDs und begannen damit, sie an den richtigen Stellen des Sortiments einzusortieren. Auch das dürfte zu ihrer täglichen Routine zählen. Die zwei Kunden taten derweil weiter das, weswegen sie gekommen waren: nach neuer Musik suchen. Offenbar hielten die vier die Neuankömmlinge für neue Kundschaft und schenkten ihnen keine weitere Beachtung. Nicht einmal Felix wurde misstrauisch beäugt.

Dies änderte sich erst, als die Kommissare den Angestellten ihre Dienstausweise vorzeigten. Auf einmal wirkten beide merklich blasser, und auch der Hund wurde mit ganz anderen Augen betrachtet.

„Keine Sorge, das ist kein Drogenspürhund“, versicherte Dominik mit schiefem Grinsen.

Obwohl beide tatsächlich nach einem eher laxen Umgang mit Marihuana aussahen, war es ein böses Klischee, ihnen so etwas zu unterstellen. Nicht jeder Musikfan, der in einem Plattenladen arbeitete, war ein Kiffer oder stand auf Drogen. Ebenso wie nicht jeder von ihnen in einer Band spielte oder chronisch pleite war. Dennoch schienen die zwei nach Dominiks Worten erleichtert aufzuatmen.

Mark ließ das mal unkommentiert so stehen. „Wir möchten uns mit Ihnen über Ihren Chef Christoph Schwarz unterhalten.“

„Ja, klar, was ist mit ihm?“, fragte Strubbelkopf.

Anscheinend wussten sie noch nichts von den Neuigkeiten.

„Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?“

Strubbelkopf runzelte die Stirn. „Am Samstag.“

„Bei mir war es am Freitag“, fügte Seitenscheitel hinzu. „Als wir die neue Lieferung Blues-Rock-Platten gekriegt haben. Die Marcus King Band kann ich echt empfehlen.“

„Wie hat sich Herr Schwarz da verhalten?“, fragte Mark.

„So wie immer. Warum wollen Sie das wissen?“

Beide Angestellten blickten sie erwartungsvoll an. Auch die zwei Kunden wirkten mit einem Mal deutlich mehr interessiert. Ihre Ohren schienen mit jeder Sekunde zu wachsen. Ein langhaariger Bursche in komplett grüner Kleidung wechselte extra zwei Tische nach vorn, um näher am Geschehen zu sein. Er wich jedoch rasch zurück, nachdem Mark Felix von der Leine gelassen hatte und der Hovawart in Richtung des Grünträgers spazierte.

Ganz zufrieden war Mark noch immer nicht. Er kannte zwar die Bilder aus dem Polizeicomputer, wollte aber dennoch sichergehen. „Wer genau sind Sie beide eigentlich?“, fragte er an die Angestellten gewandt.

Erneut zögerten sie.

„Ich heiße Jakob Lichtermann“, stellte Strubbelkopf sich vor.

„Und ich Satish Malhotra“, sagte Seitenscheitel. „Wollen Sie unsere Ausweise sehen?“

Bevor einer der Kommissare etwas darauf antworten konnte, öffnete Malhotra ein Portemonnaie mit Klettverschluss und streckte ihnen seinen Personalausweis entgegen. Seufzend folgte Lichtermann seinem Beispiel und wies sich ebenfalls als der aus, der er war.

„Vielen Dank“, sagte Dominik. „Wisst ihr, ob El Chefe am Samstagabend nach Ladenschluss noch mal hier war?“

„Nee, keine Ahnung“, antworteten beide.

„Kommt er manchmal abends hierher?“

„Gelegentlich“, sagte Malhotra. „Wenn wir mit der Arbeit nicht fertig geworden sind. Oder er für ’nen Kunden was raussuchen will.“

„Was habt ihr beide am Samstagabend gemacht, so ab 20 Uhr?“

„Bandprobe“, sagte der Lichtermann. „Das ging bis in die frühen Morgenstunden.“

„Wir hatten einen Auftritt im Muz-Klub“, sagte Malhotra mit einer Spur Überheblichkeit in der Stimme. „Vor Mitternacht sind wir da nicht rausgekommen.“

„Ach, ihr spielt beide in Bands?“ Dominik sah beeindruckt aus. Mark fühlte das komplette Gegenteil. Für seinen Geschmack wirkten die zwei Männer durch solch eine Aussage gleich noch schablonenhafter. So als hätte ein Autor überlegt, wie viele abgenutzte Eigenschaften und Hobbys er bei den Charakteren noch unterbringen könnte. Was würde als Nächstes kommen? Ein abgebrochenes Soziologie- oder Kunststudium oder eher ein vorzeitiger Schulabgang? Oder dass sie den Job hier nur übergangsweise machten, bis sie mit ihrer Musik voll durchstarten würden?

Den zwei Ladenhütern schien derartiges Schubladendenken vollkommen fremd zu sein.

„Ich bin Sänger bei den Gentlemen Gaunern“, sagte Malhotra. „Wir spielen eine Mischung aus Folk, Rock und Country. Wir wollen uns da vom Stil her nicht so festlegen.“

Lichtermann verdrehte die Augen. „Ich spiele Gitarre in einer Punkband. Wir haben noch keinen Namen.“

„Ihr seid nicht mal ’ne Band“, widersprach Malhotra. „Da sind nur du und der Drummer.“

„Mehr brauchen wir nicht. Wir machen genug Krach für fünf.“

„Genau, Krach.“ Malhotra schaute wieder zu den Kommissaren. „Wieso fragen Sie uns denn all die Sachen. Ist was mit Chris?“

Die Polizisten warfen sich einen Blick zu. „Wir haben leider schlechte Nachrichten für euch“, sagte Dominik. „Chris ist tot. Wurde ermordet. Am Samstagabend.“

Erneut wich sämtliche Farbe aus den Gesichtern der Angestellten. Auch die zwei Kunden vergaßen einen Moment lang, zwischen den Alben herumzukramen. Das einzige Geräusch war die Musik aus den Lautsprechern. Beth Hart sang über ihr California, fand jedoch keine Beachtung.

„Is nich wahr.“ Lichtermann schüttelte den Kopf.

„Wer sollte ihn denn umbringen?“, fragte Malhotra. „Was genau ist passiert?“

Dominik nickte mit sauertöpfischer Miene. „Wenn wir das wüssten, wären wir nicht hier. Wann ist denn der Chef am Samstag gegangen?“

„So um vier. Wir haben da ja eh bloß bis sechse offen.“

„Hat er erwähnt, wohin er danach gehen wollte?“

„Nach Hause, nehme ich an“, sagte Lichtermann. Sonderlich überzeugt klang er dabei nicht. „Was wird denn jetzt aus dem Laden?“

„Da fragt ihr den Falschen. Das ist leider nicht so ganz unsere Baustelle. Hat sich das Verhalten vom Chef in den Tagen und Wochen davor eigentlich irgendwie verändert?“

„Nee. Der war drauf wie immer“, fand Strubbelkopf Lichtermann.

„Na ja, ein bisschen anders hat er sich schon benommen“, widersprach Seitenscheitel Malhotra. „Er war angespannt und ein bisschen launisch. An einigen Tagen hat er auch aufgekratzt gewirkt.“

„Ich dachte, das wäre wegen dem eBay-Angebot gewesen.“ Lichtermann zuckte mit den Schultern und setzte die Erklärung fort, als er die fragenden Gesichter der Beamten sah: „Da hat so ein Typ eine ganze Kiste mit alten Stones-Platten angeboten. So Zeug aus den Sechzigern. Da hat Chris Blut und Wasser geschwitzt, dass ihn keiner überbietet.“

„Hat er die Kiste gewonnen?“, fragte Dominik.

„Hat er. War zum Ende hin richtiggehend knapp. In den letzten Sekunden hat der Preis noch mal ordentlich angezogen.“

„So ist es doch immer. Sind die Platten schon da?“

„Ich glaube, nicht, oder, Sati?“

„Nein, noch nichts da. Wir warten seit Tagen darauf.“

Mark räusperte sich. „Wir kommen vom Thema ab. Hat Chris irgendwelche Probleme oder Streits erwähnt? Daheim oder mit Freunden?“

„Nö. Da war nix.“ Ladenhüter Nummer eins schaute zu Nummer zwei, wahrscheinlich um sicherzugehen, nicht erneut etwas übersehen zu haben.

„Also eigentlich …“, begann Malhotra, „… hat er erzählt, dass es mit seiner Frau öfters mal Streit gibt. Wenn er das eine will, will sie das andere. An manchen Tagen ist er länger geblieben, weil er nicht heim wollte. Mit seiner Tochter, der Sina, war es auch nicht immer einfach. In der letzten Zeit hat sie kaum auf das gehört, was er ihr gesagt hat. Selbst wenn er sie gebeten hat, mal den Müll rauszubringen oder ihr Zimmer aufzuräumen, ging das nie ohne Ärger vonstatten.“

Lichtermann schüttelte ungläubig den Kopf. „Ey, Alter, worüber redet ihr alles, wenn ich nicht da bin?“

„Über alles Mögliche. Wir sind schließlich Kollegen. Da merkt man doch, wenn einer nicht ganz so gut drauf ist.“

„Mir ist da nix aufgefallen.“

Malhotra grunzte verächtlich. „Du würdest es nicht mal mitkriegen, wenn jemand heulend neben dir sitzt. Es hat auch nicht jeder ein Schild umhängen, auf dem dick und fett das Wort Probleme geschrieben steht.“

Nur schwer widerstand Mark dem Drang, zu Dominik zu schauen. Sein Partner war ein ähnlicher Haubentaucher, wenn es um Empathie ging, und hätte dem Punkgitarristen dazu mühelos die Hand geben können. Um gar nicht erst Gefahr zu laufen, zu schmunzeln oder ihm einen vielsagenden Blick zuzuwerfen, sah er lieber mal nach, was Felix machte. Der Hovawart schlenderte zwischen den einzelnen Tischreihen umher, schnüffelte hier und da. Und schlich gerne um den zweiten Kunden herum, um diesen aus dem Konzept zu bringen. Jedes Mal, wenn der Vierbeiner in seine Nähe kam, verkrampfte sich der Zweibeiner und streckte den Rücken durch.

„Hat der Chef mal was über Geldsorgen, Geldsegen oder teure Anschaffungen fallen lassen?“, erkundigte sich Dominik.

„Geldsorgen?“ Lichtermann wies mit der Hand auf den Laden. „Sie sehen ja, wie viel hier los ist. Eine Goldgrube sieht anders aus. Wenn es mal einen Geldsegen gegeben hat, dann war es, weil wir bei irgendwelchen Auktionen oder Ausverkäufen ein paar Sammlerstücke ergattert haben. Teilweise waren echte Liebhabersachen darunter, für die die Leute bereit waren, ein kleines Vermögen auszugeben. Aber auch das sind meist ältere Leute, die seit zig Jahren Fans von den Bands oder Künstlern sind. Musik läuft heutzutage nicht mehr so, neues Zeug sogar noch weniger. Deshalb haben wir auch kaum aktuelle Sachen da. Es lohnt sich einfach nicht. Warum sollte es jemand hier kaufen, wenn er es übers Internet jedes Mal für ein paar Euro billiger kriegt? Dafür muss er noch nicht mal vor die Tür gehen. Das ist schon praktisch.“

„Was hat der Chef mit den Gewinnen aus solchen Liebhaberverkäufen gemacht?“

„In den Laden beziehungsweise gleich in die nächsten Auktionen investiert. Irgendwer bietet immer irgendwas an. Da gibt es mehrmals im Jahr Schallplatten- und CD-Börsen, überall in der Republik. In Nürnberg immer in der Meistersingerhalle. Da waren wir jedes Mal dabei.“

„Hatte Christoph Schwarz irgendwelche Feinde?“, fragte Mark.

Wieder grunzte Malhotra verächtlich. „Praktisch jeden, der Musik mag und sammelt.“

„Wie steht es um Konkurrenten?“

„Es gab da schon ein paar, über das ganze Land verstreut. Es will eben jeder der Erste sein.“

„Und hier im Umkreis?“

„Da hat er sich manchmal mit Manni in den Haaren gehabt. Der hat einen An- und Verkauf in Fürth. Die beiden haben sich öfter mal um Schnäppchen bei irgendwelchen Wohnungsauflösungen gestritten. Aber das waren eher freundschaftliche Duelle. Manchmal haben sie danach auch ein Bier zusammen getrunken.“

„Manni? Wie heißt er mit vollständigem Namen?“, fragte Dominik mit Notizbuch und Stift in der Hand.

„Manfred Irgendwas.“ Lichtermann schaute Hilfe suchend zu seinem Kollegen. „Keine Ahnung, wie der richtig heißt. Für uns war das immer der Manni. Aus Fürth.“

„Er heißt Manfred Wittmann“, korrigierte Malhotra ein weiteres Mal. „Sein Laden ist das A&V-Center am Rand der Innenstadt.“

„Vielen Dank“, sagte Dominik, während der Kugelschreiber weiter über das Papier sauste. „Seine Frau erwähnte, dass ihr und Chris auch nach Feierabend mal zusammen losgezogen seid.“

„Ja, ab und zu sind wir nach der Arbeit was trinken gegangen“, sagte Lichtermann. „Oder waren bei Konzerten.“

Malhotra nickte. „Im Januar sind wir im Hirsch beim Auftritt von Gisbert zu Knyphausen gewesen. Den kann ich ebenfalls sehr empfehlen. Ist ein deutscher Singer/Songwriter. Seine Stimme geht echt unter die Haut. Und die Texte erst …“

Das konnte Lichtermann offenbar so nicht stehen lassen: „Ach, alles Betroffenheitslyrik. Ohne fette E-Gitarren. Da gehört ordentlich Bumms dahinter.“

„Banause!“ Malhotra schüttelte den Kopf. „Für dich zählt nur, wenn es laut ist.“

„Ey, seit wann hast du denn den tiefen Teller erfunden? Manche Sachen müssen einfach laut sein.“

Inzwischen schien Felix seine Schnüffeltour abgeschlossen zu haben und kam zu Herrchen zurück. Eventuell ahnte er, dass sich das Gespräch seinem Ende näherte. Fürs Erste fielen Mark keine weiteren Fragen ein. Ein Blick zu seinem Partner bewies ihm allerdings, dass dieser anderer Meinung war.

„Was habt ihr denn zurzeit für Raritäten auf Lager? Gibt es irgendwas, was für die Konkurrenz interessant sein könnte?“

Erneuter kurzer Blickwechsel zwischen den Ladenhütern.

„Wir haben so einiges“, sagte Lichtermann mit Überzeugung in der Stimme. Auf dem Gebiet kannte er sich anscheinend besser aus. „Limited Editions, Importversionen mit Bonus-Tracks. Box-Sets, vergriffene Record-Store-Day-Platten, Bootlegs, rare Studioaufnahmen. Alben, die out of print sind. Die Auswahl ist riesig.“

Mark ahnte, worauf sein Kollege abzielte. Das Leuchten in seinen Augen nahm zu. „Nennt uns doch mal ein paar Highlights.“

Offenbar war das ebenso das Stichwort für den Punkrocker. Mit geschäftiger Miene ging er durch die einzelnen Tischreihen. „Hier haben wir das Suicide Handbook von Ryan Adams – das Album gibt es offiziell gar nicht. Da eine Unplugged-CD von Radiohead aus den Neunzigern, inklusive Yes I am. Das eingestampfte Slut-Album mit der kompletten Dreigroschenoper, das die Jungs aus Ingolstadt wegen der Weill-Erben nicht rausbringen durften. Einige frühe Aufnahmen von Oasis, bevor sie ihren Plattenvertrag bekamen. Eine Platte von Bruce Springsteen mit der E-Gitarren-Fassung von Nebraska. Die verlorenen Green-Day-Demos aus der Vor-Idiot-Session. Und das sind nur die regulären Sachen. Den richtig wertvollen Kram haben wir im Raum hinter dem Tresen. Damit es nicht einer einfach so einsteckt. Man weiß ja nie.“

Dominik klebte dem Verkäufer förmlich an den Lippen. Er wirkte wie ein kleines Kind im Spielzeugladen, das gar nicht wusste, wohin es zuerst schauen sollte. „Was denn für wertvolles Zeug?“

Die Begeisterung blieb auch dem Punker nicht verborgen, und er ging nur zu gern darauf ein. „So was wie die Unearthed-Box von Johnny Cash. Die erschien zwei Monate nach seinem Tod und war ratzfatz vergriffen. Oder die Beatles-Stereobox mit sämtlichen Alben. Die kriegst du auch bei Amazon nicht unter 300 Euro. Wir haben sogar eine der begehrten USB-Fassungen. Die ist derzeit ’nen Tausender wert.“

Das klang wirklich beeindruckend. Mark hätte gerne etwas darauf erwidert, bekam jedoch keine Gelegenheit. Dominiks Augen wurden immer größer, und er schaute mit einem fast schon sehnsüchtigen Blick zu seinem Kollegen. Darf ich die bitte haben, Mama, kam es Mark in den Sinn. Allerdings waren sie nicht zum Shoppen, sondern dienstlich hier. Daher sollten sich ihre Gespräche eigentlich ausschließlich um die Aufklärung ihres aktuellen Falles drehen. Doch bevor Mark dazwischengehen konnte, waren Dominik und sein Gegenüber vollkommen in ihr Gespräch abgetaucht und fachsimpelten über Raritäten und die Aufnahmequalität von Bootlegpressungen.

Da wollte sich Mark nicht einmischen. Er gönnte dem Kollegen großzügigerweise seine fünf Minuten (in der Hoffnung, dass dieses Thema dadurch während der Rückfahrt nicht mehr auftauchen würde) und streichelte stattdessen Felix. Er hoffte, Malhotra nebenbei noch ein paar indiskrete Informationen entlocken zu können, aber der zweite Verkäufer hatte nichts in petto, was sie nicht bereits wussten.

Der unglückliche Glückspilz

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