Читать книгу Der unglückliche Glückspilz - Sören Prescher - Страница 7

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Je näher sie dem Dienstwagen am Straßenrand kamen, desto besser wurde der Handyempfang. Mark nutzte die Gelegenheit, um daheim anzurufen. Das traf sich gut, weil es Felix sowieso noch mal in die Büsche verschlug. Anscheinend ging der Hund von einer längeren Autofahrt aus.

Caro war nach dem zweiten Klingeln am Apparat und verriet ihm, dass Nathalie fast drei Stunden durchgeschlafen hat. Automatisch kochte einen Atemzug lang dumpfe Eifersucht in ihm hoch. Er hätte auch gern drei Stunden Ruhe für sich gehabt. Selbst wenn er einen Großteil davon vermutlich ebenfalls bloß schlafend verbracht hätte. Dann fiel ihm ein nicht ganz so euphorischer Unterton in der Stimme seiner Frau auf. „Irgendwie fühlt sich Nathalie warm an. Hoffentlich brütet sie nichts aus.“

Das war in der Tat kein Grund für Jubelrufe. Mark überlegte, ob ihm die erhöhte Temperatur heute Morgen schon aufgefallen war. Eher nicht. „Vielleicht war sie bloß beim Schlafen zu dick eingepackt.“ Er wollte weiterreden, hörte in dem Moment jedoch seine kleine Tochter ins Telefon brabbeln. Es waren keine richtigen Worte, klangen manchmal aber wie welche. Und sie genügten, um ihm ein verzücktes Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

„Hoffen wir es mal. Wenn nicht, muss ich morgen früh zum Kinderarzt.“

„Haben wir am Mittwoch nicht sowieso einen Termin? Wegen dieser Impfung.“

„Wenn sie Fieber hat, warte ich nicht bis dahin. Grassiert nicht gerade wieder so eine Grippe?“

Es war eine rhetorische Frage, und Mark fühlte sich nicht zu einer Antwort veranlasst. Sie hatten Anfang Februar und damit die beste Jahreszeit für einen Infekt oder dergleichen. Caro stimmte zu, die Temperatur im Auge zu behalten und später gegebenenfalls Fieber zu messen. Bei der Verabschiedung erkundigte sie sich, ob er schon absehen könnte, wie lange er heute arbeiten müsste. Leider lautete die Antwort darauf eindeutig Nein. Zu Beginn eines neuen Mordfalls hatten sie stets tausend Sachen auf einmal zu tun. Tage wie diese konnten ziemlich lang werden. Selbst wenn es Sonntage waren.

Nach dem Telefonat brachen sie auf zum Stadtteil Muggenhof in der Weststadt von Nürnberg. Es war eines der letzten Viertel, bevor die nicht überall gleichermaßen beliebte Nachbarstadt Fürth begann. Aus gegebenem Anlass bezeichneten viele Nürnberger deren Bewohner auch gerne als die hinter dem Klärwerk. Gelogen war diese Beschreibung nicht. In Muggenhof betrieb die Nürnberger Stadtentwässerung ein ebensolches Werk. Weil es deswegen dort nicht unbedingt immer nach Veilchen duftete, waren die Mieten der Wohnhäuser rund um das Klärwerk Gerüchten zufolge ein bisschen niedriger als in anderen Gebieten.

Einen olfaktorischen Beweis für diese Theorie erhielten sie bei ihrer Ankunft. Die Muggenhofstraße befand sich direkt gegenüber dem Klärwerk, die klobigen Industriegebäude lediglich abgegrenzt durch einen luftigen Metallgitterzaun, und es roch alles andere als rosig. „Das müffelt schlimmer als in deiner Sockenschublade“, bescheinigte Mark beim Aussteigen.

„Sagt der mit der Windelpuperin daheim. Manche der Gerüche bei euch verstoßen gegen die Genfer Konvention. An manchen Tagen ist bei euch bestimmt nicht mal offenes Feuer erlaubt.“

Da wollte und konnte Mark nicht widersprechen. „Das würde ich hier auch nicht riskieren wollen. Die Anwohner verdienen meinen aufrichtigen Respekt.“

Auch der Hovawart rümpfte die sensible Hundenase. Wenn ihnen der Geruch dermaßen auffiel, wie musste es dann erst ihm ergehen? Mark wollte nicht einmal mutmaßen.

Mit dem Vierbeiner zwischen ihnen gingen sie auf den fünfstöckigen Altbau mit blauer Fassade und weiß gerahmten Fenstern zu. Laut dem Schild an der Eingangstür wohnte die Familie Schwarz im ersten Stock. Auf ihr erstes Klingeln reagierte niemand, und nach dem zweiten dauerte es ebenfalls einige Sekunden, bis jemand den Summer zum Treppenhaus betätigte. An der Wohnungstür erwartete sie ein vielleicht siebzehnjähriges Teenagermädchen mit langen braunen Haaren und Silber im Blick. Als sie die zwei Polizeiausweise sah, wich sie erschrocken rückwärts in die Wohnung zurück. Die Kommissare folgten ihr mit vorsichtigem Abstand durch ein kurzes Korridorstück. Ein leicht chemischer Geruch lag in der Luft.

„Wer war da an der Tür?“, krähte eine kräftige Frauenstimme.

„Da … da ist … die Polizei“, brachte das Mädchen mühsam hervor, ohne sich von ihnen abzuwenden. Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer. Eine Frau in den Vierzigern mit schulterlangen Haaren stand vom Sofa auf. Sie trug eine große Jogginghose und ein weites Oberteil. Die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter war unverkennbar. Dasselbe runde Gesicht mit spitz zulaufender Nase, dünnen Lippen und hohen Wangen. Lediglich das Haar der Frau war nicht mehr ganz so kraftvoll wie das des Mädchens und zeigte erste graue Strähnen.

„Wer sind Sie? Was …“ Sie stockte und starrte die zwei Männer mit dem Hund ausdruckslos an.

„Wir kommen von der Kripo Nürnberg“, stellte Mark sie vor. „Ich bin Kriminaloberkommissar Mark Richter, das ist mein Partner Dominik Waldmayer.“ Nebenbei schaute er sich routinemäßig im Raum um. Mittelklasse-Einrichtung mit Schrankwand, Fernseher, Musikanlage und allerlei Nippes. An den Wänden hingen gerahmte Bilder aus Franken und einem Südseeort mit Strand und Palmen. Der Fußboden bestand aus birkenfarbenem Laminat, auf dem ein Sofa sowie zwei Stoffsessel in demselben farbenfrohen Dunkelgrau standen. Nicht zu vergessen, der hölzerne Beistelltisch mit abgetragenen Ecken. So weit, so bürgerlich.

„Und der Hund?“

„Das ist unser Diensthund Felix. Wir bilden zusammen ein Team.“ Fast hätte er noch ein Trio mit vier Pfoten hinzugefügt, besann sich jedoch rechtzeitig auf den Grund ihres Besuches. „Sie sind …?“

„Ich bin Ramona Schwarz.“ Ihr Blick wanderte von den Polizisten zu der Jugendlichen. „Das ist meine Tochter Sina. Worum geht es?“

Das Mädchen stellte sich neben seine Mutter. Beide schauten sie die Ermittler fragend an.

„Kennen Sie Christoph Schwarz?“

„Das ist mein Ehemann“, bestätigte die Frau. „Wieso?“

„Leider kommen wir mit schlechten Nachrichten zu Ihnen. Ihr Mann ist tot. Offenbar wurde er Opfer eines Angriffs.“

„O nein!“ Ramona Schwarz hielt sich an der Lehne des Sofas fest, von dem sie gerade aufgestanden war. „Was ist passiert?“

Neben ihr verbarg Sina Schwarz das Gesicht hinter den Händen und begann zu schluchzen.

„Das versuchen wir herauszufinden“, sagte Dominik und zog behutsam sein Notizbuch hervor. „Wir haben ihn in einem Waldstück in Erlenstegen gefunden. Haben Sie eine Ahnung, wie er dorthin gelangt sein könnte?“

Die Mutter sank kraftlos auf die Sofakante zurück.

„Nein … wie … ich meine, was …“ Fassungslos starrte sie zu den Polizisten. „Ich habe keine Ahnung, was er dort gemacht hat.“

Darauf ging Mark nicht ein. „Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“

„Gestern. Am frühen Abend. Das muss so gegen sieben, halb acht gewesen sein. Er meinte, er muss noch mal weg. Dann ist er gegangen. Wohin, weiß ich nicht.“

Das irritierte Mark. Wenn Caro abends wegging, nannte sie ihm in der Regel den Ort und mit wem sie dahin wollte. Beziehungsweise hatte sie das früher getan. Seit Nathalies Geburt war keiner von ihnen beiden abends privat weg gewesen. Wenn in ferner Zukunft irgendwann wieder ein Ausgehen anstehen würde, würden sie ohne jeden Zweifel dem jeweils anderen Bescheid geben. Das gehörte zum Ehe-Gesamtpaket dazu. Insbesondere wenn gemeinsame Kinder mit im Spiel waren. „Und Sie haben deswegen nicht nachgehakt?“

„Nein.“

Okay. Mark warf einen Blick zu Dominik, um zu sehen, ob nur ihm das merkwürdig vorkam. Auch sein Partner wirkte irritiert. „Hat er so was öfter gemacht?“

„Gelegentlich. Ich hatte angenommen, dass er noch mal zum Laden wollte. Christoph hat so ein schrulliges Plattengeschäft, nicht weit vom Bahnhof entfernt.“

„Einen Plattenladen?“, fragte Dominik hörbar interessiert.

Sie nickte. „Manchmal hat er dort am Abend noch Sachen sortiert. Oder hat sich mit irgendwelchen Leuten getroffen, die ihm ihren alten Krempel andrehen wollten.“

„Was haben Sie am Abend gemacht?“

„Ferngesehen. Da kam dieser alte Fantomas-Film mit Louis de Funès. Ich bin dann irgendwann eingepennt.“

„Und heute Morgen haben Sie sich nicht darüber gewundert, dass er nicht da war?“ Mark überließ Felix ein bisschen mehr Leine, damit der Hund herumstromern konnte. Sogleich begann der Hovawart damit, das Laminat und den Tisch vor dem Sofa zu beschnüffeln. Auf Letzterem waren es zwei verschlossene und ein offenes Fläschchen mit grünem Nagellack sowie eine Flasche mit Nagellackentferner, die seine Aufmerksamkeit erregten. Daneben lagen einige Lack beschmierte Küchentücher. Wahrscheinlich ging der leicht chemische Geruch von ihnen aus. Die Fläschchen schienen der Tochter zu gehören. Zweieinhalb Nägel ihrer linken Hand waren bereits grün lackiert.

„Es kommt – also vielmehr: Es kam – immer mal wieder vor, dass er morgens schon weg war. Wieder in den Laden. Chris war eher so der Frühaufsteher, ich hingegen schlafe gern aus. Bin heute erst um kurz nach neun aufgewacht.“

„Wann hast du deinen Vater das letzte Mal gesehen?“, fragte Dominik mit Blick zu Sina.

Das Mädchen brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass er mit ihm sprach. Sie murmelte etwas, was hinter ihren Händen nur schwer zu verstehen war. Wie ihr gleich darauf selbst bewusst zu werden schien. Sie ließ die Arme sinken und entblößte eine Rotzglocke an einem linken Nasenloch. „Gestern früh. Ich war letzte Nacht nicht zu Hause. Ich habe bei einer Freundin übernachtet.“ Sie schniefte geräuschvoll, und die Blase verschwand halb in ihrer Nase.

„Wie ist der Name der Freundin?“

„Doro. Dorothea Friedrich. Sie wohnt zwei U-Bahnstationen von hier in Fürth. In der Karolinenstraße.“

Dominik notierte das. „Wann bist du heute nach Hause gekommen?“

„Vorhin erst. Doro musste mit zu ihrer Oma nach Hersbruck.“

„Und bei deiner Ankunft hast du dich nicht gewundert, wo dein Vater steckt?“

„Doch, schon. Ich dachte, er kommt bald.“ Das Mädchen schaffte es, gleichzeitig knallrot und kreidebleich zu werden, was eine höchst bizarre Mischung war. Vor allem mit ihren halb lackierten Fingernägeln. Derweil schnüffelte Felix vom Nagellack weiter zu den Sesseln. Auf dem linken fielen Mark einige kreisrunde Flecken auf der Oberseite auf. Von der Größe her könnte es sich um schlecht entfernte, schon ältere Cola- oder Bierflecken handeln. So was war kein Beinbruch. Allerdings hätte Mark eine Decke oder etwas anderes darübergelegt, um den Makel zu kaschieren.

„Hast du deinen Vater ...“ Dominiks Kopf drehte sich zur Mutter um. „… respektive haben Sie nicht versucht, Ihren Mann auf seinem Handy anzurufen?“

Die Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, das hätte keinen Sinn gehabt. Das Ding hat er in der Küche liegen lassen.“

„Wenn das so ist, hätten wir es gerne für unsere Ermittlungen.“

Einen Moment lang wirkte sie irritiert, dann stand sie auf und verließ den Raum. Felix dackelte ihr hinterher, und Mark nahm es zum Anlass, ihnen zu folgen, um so einen Blick in die anderen Räume werfen zu können. Rechts befand sich die nur angelehnte Tür zum Schlafzimmer. Während die Mutter weiter zur Küche lief, drückte Mark die Schlafzimmertür auf und linste hinein. Drinnen war es bemerkenswert ordentlich: Das Ehebett gemacht, keine Sachen auf dem Boden. Ein klobiger schwarzer Kleiderschrank mit Spiegel an der hinteren Wand. Felix schnüffelte kurz in den Raum, verließ ihn aber sofort, als Herrchen zur Küche ging. In dem anderen Zimmer konnte man genauso gut schnuppern und sich umsehen.

Ramona stand vor einer in die Jahre gekommenen, L-förmigen Einbauküche, an deren hinterem Ende ein weißer Kühlschrank eingebaut war. An dessen Wänden hingen einige mit Magneten befestigte Fotos und Schreiben, das Kühlschrankdach in Marks Augenhöhe hingegen fungierte als Ablagefläche für alles Mögliche. Kugelschreiber und Ohrringe hatten dort ihren Platz gefunden, genauso wie eine kleine Schale mit verschrumpelten Äpfeln. Außerdem hatte dort offenbar das schwarze Smartphone gelegen, das die Witwe nun in den Händen hielt. Sie betrachtete das Telefon einen Moment lang wehmütig, ehe sie es Mark reichte.

„Wie lautet der PIN-Code?“

„1709. Sein Geburtstag.“

Mark probierte die Zahlenkombination aus und gelangte ins Hauptmenü. Ein Schwarz-Weiß-Foto der Rolling Stones zierte den Hintergrund.

„Lassen Sie uns über den Laden sprechen. Wo genau befindet der sich?“

„In der Bogenstraße. Das ist in Steinbühl.“

„Hat Ihr Mann etwas von Sorgen oder Problemen im Geschäft erzählt?“, fragte er sie auf dem Weg ins Wohnzimmer.

Ramona schüttelte im Laufen den Kopf. „Der Laden lief nicht gut. Die meisten Kunden waren irgendwelche Freaks und Spinner. Aber ich wüsste nicht, dass er sich mit einem von ihnen in den Haaren gehabt hätte. Erwähnt hat er nichts.“

„Wie kam er mit seinen Kollegen klar?“

„Er hat nur zwei Angestellte. Beides Halbtagskräfte und genauso Musikfreaks wie er. Die konnten stundenlang darüber diskutieren, wie man eine Plattensammlung richtig sortiert oder welche fünf Lieder am besten zu einem bestimmten Anlass passen. Das ist echt unglaublich.“

Fehlt nur noch, dass sie sich nachts im Traum mit Musikern unterhalten, überlegte Mark, ohne es auszusprechen. Ramona Schwarz hätte die Anspielung vermutlich ohnehin nicht verstanden. „Von den beiden brauchen wir Namen, Telefonnummer und Anschrift.“

Sie nickte und schrieb die Daten auf ein kariertes Blatt.

„Mit wem hat sich Ihr Mann privat so getroffen?“

„Sie meinen Freunde und Bekannte?“

Lag das nicht auf der Hand? „Ja.“

„Chris kannte zwar zig Leute, aber wirklich befreundet war er mit kaum jemandem. Die meisten Kumpels hat er ziemlich unregelmäßig gesehen. So eng kann die Bindung da also nicht gewesen sein. Am häufigsten war er mit seinen zwei Leuten aus dem Laden weg. Auf Konzerten, Musikmessen und so was. Manchmal sind sie quer durch die Republik gefahren, für ein paar staubige Schallplatten oder vergriffene CDs.“

„Wie verstand er sich mit den Nachbarn?“

„Eigentlich gut. Chris war eher der ruhige Typ. Er hatte keinen Stress mit jemandem.“

„Mein Vater konnte keiner Fliege was zuleide tun“, fügte Sina mit zuckender Unterlippe hinzu.

„Hat er sich in den vergangenen Tagen oder Wochen auffällig oder ungewöhnlich verhalten?“

Mutter und Tochter schauten einander fragend an, bevor sie vollkommen synchron die Köpfe schüttelten.

„Sollen wir jemanden für Sie verständigen?“, erkundigte sich Mark, weil er nicht wusste, was er noch fragen sollte. „Es gibt Notfallseelsorger, die speziell für Momente wie diesen geschult sind. Die wissen genau, was im Trauerfall zu tun ist.“

Ein weiterer Blickaustausch zwischen den Frauen, ein weiteres Kopfschütteln.

Dann eben nicht, dachte Mark und schaute sich nach Felix um. Gerade kam der Hund zurück ins Wohnzimmer getrottet. „Haben Sie einen Schlüssel für den Laden?“

„Ja, klar. Wofür denn?“

„Wir wollen uns darin umsehen.“ Dass sie noch immer auf der Suche nach dem eigentlichen Tatort waren, sagte er nicht.

„Papa hatte den an seinem Schlüsselbund“, sagte Sina.

„Und wo ist der Schlüsselbund?“, fragte Dominik.

„Keine Ahnung.“

„Wissen Sie, wo er steckt?“, fragte er an die Mutter gewandt.

„N-Nein. Hatte er den nicht bei sich?“

Offensichtlich nicht. „Besitzen Sie einen Zweitschlüssel? Wir möchten ungern die Tür aufbrechen.“ Dass sie genauso gut die zwei Angestellten fragen könnten, erwähnte er nicht. Es hätte den vorherigen Worten ihren Druck genommen.

Ramona Schwarz schien darüber nachdenken zu müssen. „Einen Augenblick bitte“, sagte sie danach und verschwand zu den Schränken im Flur. Die Polizisten und der Hund folgten nach draußen und linsten über ihre Schulter, als sie eine Krimskrams-Schale auf dem Schuhschrank durchwühlte. Haargummis, Feuerzeuge und ein zusammengerollter Zehn-Euro-Schein wurden achtlos beiseitegeschoben. Zwei kleine Schlüssel, die vermutlich vom Briefkasten oder einem Fahrradschloss stammten, tauchten auf und wurden von Ramona Schwarz rasch zurückgelegt. Ganz unten stieß sie schließlich auf den gesuchten Schlüssel: ein messingfarbenes Modell, das an einem viereckigen Anhänger mit dem Bananenlogo von The Velvet Underground hing.

„Ah, da isser.“ Mit einem weiteren Zögern reichte sie Dominik den Schlüssel. „Kann ich den bitte wiederhaben? Wenn ich mal in den Laden muss und so.“

„Sollte kein Problem sein.“ Dominik steckte sein Notizbuch in die Innentasche seiner Jacke zurück und verabschiedete sich. Mark tat es ihm gleich und gab Felix ein Zeichen, ihm nach draußen zu folgen. Auf dem Weg durchs Treppenhaus hörten sie, wie die Witwe hinter ihnen die Wohnungstür schloss. Technisch gesehen waren sie damit unter sich. Doch allein der Klang ihrer Schritte hallte lautstark in dem engen Raum umher, sodass es keine gute Idee gewesen wäre, jetzt bereits ihre Eindrücke auszutauschen. Nicht, wenn sie nicht wollten, dass jeder im Gebäude mithören konnte.

Außerdem zog es Mark im Erdgeschoss nicht zum Vordereingang zurück, sondern zu der Tür, die zu den Kellern hinabführte. Unten roch es muffig und nach altem Holz, den Tatort eines Verbrechens entdeckten sie jedoch hinter keinem der käfigartigen Kellerabteile. Es sei denn, mehrere Stiegen Konservendosen mit Erbsenpüree und Linseneintopf erfüllten inzwischen ebenfalls einen Straftatbestand. In Marks Augen wäre es durchaus legitim.

Nach dem erfolglosen Ausflug in die Unterwelt verließen sie das Gebäude durch den Hinterausgang. Vor ihnen lag ein längliches Wiesenstück, das zu den anderen Nachbarhauseingängen führte und im Sommer vermutlich als Wäscheplatz diente. Durch eine kleine Mauer abgetrennt, lag dahinter der Parkplatz vom nächsten Grundstück. Auf diesem Wege das Treppenhaus zu betreten dürfte nicht besonders schwierig sein. Spuren, die auf einen Einbruch oder einen Tatort wiesen, erblickten sie keine. Mark schaute vom Rasen aus kurz zur ersten Etage hinauf. Auch da war nichts Auffälliges zu erkennen. Schweigend kehrte er mit Felix und Dominik zum Wagen zurück.

Vom Stadtteil Muggenhof nach Steinbühl ging es kilometerlang nur geradeaus, immer die Fürther Straße entlang nach Osten, bis hinter dem Plärrer das gewaltige Gebäude des Hauptbahnhofs in Sicht kam. Die Strecke war dermaßen einfach, dass sie selbst ein Blinder hätte fahren können. Für Mark genügte es, während der Fahrt nach vorne zu schauen und gelegentlich zu bremsen, wenn rote Ampeln oder Sonntagsfahrer es notwendig machten. Ansonsten konnte er sich voll und ganz auf die Auswertung des zurückliegenden Familienbesuchs konzentrieren.

„Die Frauen waren beide komisch“, begann Dominik das Gespräch. „Es verlangt ja keiner, dass die nach so einer Todesmeldung am Boden zerstört sind, aber die zwei haben reagiert, als hätte Dieter Bohlen verkündet, dass er nach dem Abgang bei DSDS seine eigene private Castingshow aufzieht: Man ist bestürzt und vergießt auch ein paar Tränen, gleichzeitig weiß man aber, dass man es überleben wird.“

„Vielleicht hat es die Familie nicht so mit Herzlichkeit. Der Vater scheint ja auch ein eher ruhiger Typ gewesen zu sein. Das klingt so, als würden die alle zum Lachen in den Keller gehen.“

„Dort waren wir. Da ist kein Platz zum Lachen. Geschweige denn irgendwas anderes.“

„Vielleicht waren Mutter und Tochter bloß total geschockt. Es reagiert eben nicht jeder gleich auf so eine Nachricht.“

„Hatte ich auch überlegt. Aber denen schien das Fehlen des Familienoberhaupts bis zu unserem Auftauchen gar nicht aufgefallen zu sein. Nicht mal der Tochter. Und das, obwohl er seit fast einem Tag spurlos verschwunden ist. Ich frag mich, wann die eine Vermisstenanzeige aufgegeben hätten. Nach einer Woche? Oder zwei? Wahrscheinlich erst, wenn sich der Müll daheim türmt und ihn keiner zur Tonne rausbringt.“

„Vielleicht war der Mann ja tatsächlich oft und lange weg.“

„Ach, du mit deinen vielen Vielleichts! Selbst wenn der Papa ein Arbeitstier ist, das sämtliche Energie in einen maroden Shop investiert, fragt man sich irgendwann, wo der Kerl steckt. Aber dort? Nada!“

„Wir wissen ja nicht, was die für ein Verhältnis untereinander haben. Und selbst wenn die Leute daheim bloß das Nötigste miteinander bequatschen und alles andere egal ist, macht sie das nicht automatisch zu Mördern.“

„Ihre Unschuld beweist es genauso wenig. Mal schauen, was wir rausfinden, wenn sich die Jungs von der Streife in der Nachbarschaft umhören.“

„Mir fällt glatt noch ein Vielleicht ein: Vielleicht sind die Leute in der Gegend alle ein bisschen komisch drauf. Wenn man jahrelang neben dem Klärwerk wohnt, muss das irgendwelche Auswirkungen haben.“

„Schöne Theorie. Dem sollte man glatt mal nachgehen.“

Bei jedem anderen wäre dies bloß ein schlechter Witz gewesen. Dominik war prädestiniert für diese Art von Humor. Gleichzeitig gab es vermutlich keine noch so absurde Überlegung, die er nicht zumindest im Ansatz für möglich hielt. Aus dem Mund seines Partners hatte Mark schon ganz andere verrückte Theorien gehört. Früher hatte er darüber gelacht und sie mit einem Kopfschütteln abgetan. Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen war das nicht mehr ganz so einfach.

Vor dem Bahnhof bogen sie nach rechts in die Unterführung ab und erreichten damit den gewünschten Stadtteil. Ihr Ziel lag in einer kleinen Gasse, abseits der Hauptstraße mit einem Sushi-Lokal und einer Bar an der Ecke. Den Laden fanden sie auf Anhieb, einen Parkplatz nicht. Am Sonntag waren sämtliche Stellplätze von Anwohnerfahrzeugen blockiert. Kurzerhand hielten sie mit Warnblinkanlage vor einer Hofeinfahrt.

Von außen betrachtet bestand das Musicland lediglich aus zwei quadratischen Schaufenstern und einer weiß gerahmten, gläsernen Eingangstür. In der Auslage erspähte Mark ausgebleichte Plattencover, Notenblätter und eine Akustikgitarre. Der Boden der Auslage war mit CDs ohne Hülle belegt.

„Sieht schon mal nicht schlecht aus“, quittierte Dominik.

Mark sperrte auf, und sie betraten den Laden. Der Duft von Staub, Papier und Plastik kroch ihm in die Nase und erinnerte ihn ein bisschen an den von Bibliotheken. Das war nicht die schlechteste Assoziation. Er ließ Felix in den verwaisten Räumen ohne Leine herumstromern, um sich selbst in Ruhe umschauen zu können.

Da waren Tische mit hintereinander gestapelten CDs – haufenweise Tische, die mehrere Gangreihen füllten. Irgendwann wechselte das Angebot von Compact Discs zu Vinyl. In einer Nische direkt neben der Eingangstür gab es zusätzlich zwei Regale mit Kassetten und eine kleine VHS-Ecke. Mark wusste gar nicht, wohin er zuerst blicken sollte.

Erst eine Sekunde später fiel ihm auf, dass die Wände mit zahlreichen Konzertplakaten behängt waren, teilweise mit Autogrammen darauf. Da war ein Poster von der letzten R.E.M.-Tour 2008, eines von Queen live in Mannheim 1986, eines von Creedence Clearwater Revival aus den späten Sechzigern, eines von Paul McCartney, und ganz hinten hing ein Bild der herausgestreckten roten Zunge, dem weltbekannten Markenzeichen der Rolling Stones.

Der Laden war wie ein Schlaraffenland für jeden, der sich für Musik interessierte. Hier war der Name tatsächlich Programm.

Mark konnte nicht anders, als durch die Tischreihen zu schlendern und einen kurzen Blick auf die Alben zu werfen, von denen es hier bestimmt Tausende gab. Aus mehreren Gründen hütete er sich davor, die Sachen anzufassen. Dominik war da weniger zurückhaltend und brauchte nicht lange, bevor er ihm mit einem breiten Grinsen eine Schallplatte von Gov’t Mule entgegenstreckte. Bevor Mark etwas erwidern konnte, zog er ein Vinyl-Album von David Bowie hervor und schwenkte es wie eine Trophäe durch die Luft.

„Junge, Junge, die haben echt alles“, sagte er.

„Wir sind nicht zum Shoppen hier“, erinnerte Mark, dem es selbst zunehmend schwerer fiel, sich nicht mit den interessanten Angeboten um sie herum zu beschäftigen. Das war der Nachteil an einem Schlaraffenland. Es gab von allem viel zu viel. Und die Versuchung war groß.

„Ach, vergiss mal für einen Moment die Arbeit. In dem Laden stehen so viel tolle Sachen. Und nicht nur längst vergriffene Platten. Hier sind auch einige ziemlich coole Bootlegs.“

„Bootlegs? Du meinst illegale Konzertmitschnitte?“

Dominik schwenkte die flache Hand hin und her. „Legal, illegal, scheißegal. Das ist alles relativ. Da haben einige Musikliebhaber die Liveauftritte ihrer Lieblingsbands mitgeschnitten und wollen sie uns anderen Fans freundlicherweise zur Verfügung stellen. Oder es sind rare Studioaufnahmen von Songs, die es nicht auf das Album geschafft haben. Schau dir das hier an.“ Er zog eine quietschbunte Beatles-Platte hervor. „Das sind alternative Liedfassungen aus der Sergeant-Pepper-Phase. Probeaufnahmen, experimentelle Versionen. Songs, bei denen John, Paul, George und Ringo den Text oder die Melodie variiert haben. Nur weil sich die Musiker für eine andere Finalfassung entschieden haben, bedeutet es nicht, dass die anderen Aufnahmen deswegen schlecht sind. Manche von diesen Mitschnitten wollten die Musiker wegwerfen, weil sie die für minderwertig hielten. Kannst du dir das vorstellen? Die haben dann die Fans wagemutig aus den Mülltonnen gerettet, bevor die Aufnahmen für alle Ewigkeit vernichtet worden wären.“

„Danke für den interessanten Exkurs. Ich will das gar nicht verurteilen ...“

Dominik flitzte von den Schallplatten zu den CDs und hielt auch dort in Windeseile ein Album in die Höhe. „Oder das da. Das ist eine Aufnahme vom legendären Rooftop-Konzert der Fab Four. Dem letzten Beatles-Konzert ever! Wenn die Plattenfirmen so was nicht offiziell veröffentlichen, muss man es einfach inoffiziell herausbringen. Das ist ein Dienst an der Menschheit.“

„Das glaube ich dir ja. Aber was willst du jetzt hier tun? Alles einsacken, was dir gefällt?“

„Nun ja, wir könnten es beschlagnahmen. Weil manches ja nicht ganz legal ist …“

„Oder wir kommen irgendwann noch mal hierher, wenn der Laden tatsächlich offen hat. Dann kannst du mit den Verkäufern darüber fachsimpeln. Jetzt sind wir hier, weil wir auf der Suche nach dem Tatort sind. Falls du das vergessen haben solltest.“

„Habe ich nicht vergessen. Siehst du hier irgendwelche Spuren, die auf einen Mord hinweisen? Ich sehe bloß Platten, die es wert wären, dafür einen Mord zu begehen. Also sinnbildlich gesprochen. Oder … hm … vielleicht ist genau das ja unser Mordmotiv.“

„Jemand hat den Mann umgebracht, weil er an seine Plattensammlung wollte?“

„Es muss ja nicht explizit die Plattensammlung sein. Vielleicht irgendwas, was damit zusammenhängt. Manche von diesen raren Aufnahmen sind ein Vermögen wert, wenn nicht mehr. Und da sind die ganzen Fehlpressungen und vergriffenen Alben nicht mal mitgerechnet.“

„Wir können das ja als mögliche Spur mit aufnehmen. Für den Moment bringt uns das in dem Laden allerdings nicht weiter.“ Mark drehte sich um und suchte die Gänge zwischen den einzelnen Tischreihen ab. Als er dort nichts Auffälliges fand, inspizierte er den Bereich hinter dem Verkaufstresen. Dort sah es ein bisschen wie früher im Media Markt aus. Mehrere Stapel CDs warteten darauf, einsortiert und etikettiert zu werden. Dazu drei CD-Player mit Kopfhörern zum Anhören der Discs. Die Kasse war abgeschlossen und zeigte keinerlei Spuren eines Aufbruchversuchs.

Während Dominik damit beschäftigt war, mit seinem Smartphone Fotos vom Verkaufsraum zu schießen, betrat Mark den kleinen Raum hinter der Kasse, der mit weißen Metallregalen vollgestellt war. Am Boden erblickte er Mineralwasserkästen und aufgestapelte alte Musikzeitschriften mit Namen wie Visions, Classic Rock, NME und Rolling Stone. Direkt davor hockte Felix und beschnupperte alles mit seiner Spürnase.

„Hast du schon was gefunden?“

Der Hund knurrte leise, was vermutlich Nein bedeutete. Auch Mark entdeckte keinerlei Spuren. Er überprüfte den restlichen Regalinhalt, der vorwiegend aus CDs und Büchern mit Künstlerbiografien bestand. Auf der gegenüberliegenden Seite stand ein Schreibtisch mit einem zugeklappten Notebook darauf. Das könnte interessant sein, überlegte Mark und nahm den tragbaren Computer samt Ladekabel an sich. Hinter dem Tisch befand sich ein weiteres Regal mit Aktenordnern. Laut den Beschriftungen handelte es sich um Abrechnungen und sonstige Kaufbelege. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass nichts zwischen den Seiten versteckt war, verließ er den Raum wieder. Auf dem Weg nach draußen sah er, dass hinter der Bürotür ein Besen und ein Wischmopp standen, ebenfalls ohne Spuren eines Kampfes.

Der unglückliche Glückspilz

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