Читать книгу Der unglückliche Glückspilz - Sören Prescher - Страница 8
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ОглавлениеIm Präsidium herrschte am Sonntagnachmittag wenig Betrieb. Der Parkplatz im Hinterhof war halb leer, und im ersten Stock sah es nicht viel besser aus. Die IT-Abteilung war komplett verwaist, als Mark Schwarz’ Laptop und Smartphone auf Zeljkos Platz legte und eine Haftnotiz mit der Nachricht Bitte prüfen. M. darauf hinterließ.
Auf ihrer Etage trafen sie nur eine Handvoll Kollegen, die an diesem Wochenende zur Schicht eingeteilt waren. Abhängig von seiner Funktion, genoss nicht jeder von ihnen den Segen der Rufbereitschaft, durch den er lediglich antanzen musste, wenn wirklich Bedarf bestand. In ihrem Großraumbüro hielt sich außer ihnen exakt ein Kriminalkommissar auf – Kollege Jan Schuster, der hinter einem Stapel telefonbuchdicker Akten kaum zu erkennen war. Sie unterhielten sich kurz, während die Computer hochfuhren, und machten sich dann an die Arbeit. Anfangs schlich Felix noch unschlüssig um sie herum, bis er einsah, dass die werten Partner so rasch nichts wieder von ihren Drehstühlen aufscheuchen würde. Als Konsequenz daraus zog er sich auf seine Decke hinter dem Schreibtisch zurück.
Mark hätte gerne mit ihm getauscht. Kaum befand er sich in der mollig warmen Umgebung des Büros, kehrte die Müdigkeit zurück. Dass er nach dem mehrstündigen Laufen sitzen konnte, machte es nicht besser. Ein Grund, deswegen im Stehen zu arbeiten, war es nicht. Er war beeindruckt, wie schnell Dominiks Finger über die Tastatur flitzten, und wünschte, sein Arbeitseifer würde sich in denselben Sphären bewegen.
Wie aufs Stichwort hörte Dominik zu tippen auf. Er klickte einige Male mit der Maus herum, bevor er sich räusperte. „Hier haben wir es schon: Für manche Schallplatten kannst du richtig Kohle abdrücken. Fangen wir mal vergleichsweise günstig an. Die Originalpressung von Nirvanas Album Bleach wird aktuell für schnucklige 2.500 US-Dollar gehandelt. Von der Single That’ll Be the Day von The Quarrymen gibt es angeblich nur fünfzig Stück, die Paul McCartney für seine Freunde und Familie drucken ließ. Diese Exemplare sind praktisch unbezahlbar. Selbst die Nachdrucke sind jeweils rund 3.500 Piepen wert. Apropos McCartney: Das Debütalbum der Beatles, Please, please me, kostet im Original etwa 4.200 Dolleros, weil bei den allerersten Pressungen der Name der Band in goldener Schrift auf ein schwarzes Etikett gedruckt wurde.“
„Und das erzählst du mir, weil …?“, fragte Mark.
Dominik überhörte es gekonnt und fuhr fort: „God Save the Queen von den Sex Pistols kostet mit dem A&M-Etikett 8.600 Dollar. Das sind aber bloß die Schnäppchensachen. Richtig teuer wird es zum Beispiel bei der Erstauflage vom Weißen Album der Beatles. Das Exemplar mit der Seriennummer A0000001 wurde von Ringo Starr bei einer Wohltätigkeitsauktion für sage und schreibe 790.000 US-Dollar verkauft. Selbst wenn du ein Exemplar mit einer anderen niedrigen Nummer hast, kriegst du dafür um die 14.000 Dollar. Für die ungeöffnete US-Version von Prince’ schwarzem Album musst du circa 43.000 amerikanische Taler berappen. Ebenfalls sehr begehrt ist The Freewheelin’ von Bob Dylan. Wenn du eine Platte hast, deren Seriennummer mit -1A endet und diese vier falsch beschriftete Lieder enthält, ist die 35.000 Steine wert. Gerüchten zufolge sollen auf der ganzen Welt weniger als zwanzig Monoversionen und bloß zwei Stereo-Exemplare existieren.“
„Ich frage noch mal: Warum erzählst du mir das alles? Sosehr ich Musik auch mag, ich würde dafür keine Tausende von Euros hinblättern. Für ein Box-Set von Muse habe ich mal über hundert Euro bezahlt. Das enthielt aber auch neun remasterte CDs, vier Vinylscheiben und ein Buch mit zig Fotos. Da relativiert sich der Preis. Für eine einzige Platte jedenfalls wäre mir das entschieden zu viel Kohle. Die müsste man buchstäblich mit Samthandschuhen anfassen. Und selbst da hätte ich noch Angst, dass sie beschädigt werden könnte.“
„Zu Recht. Solche wertvollen Platten hört man auch nicht an, die lagert man im Safe oder in einer Glasvitrine. Das ist nichts für gewöhnliche Lauscher, sondern für Jäger und Sammler. Und genau das meinte ich vorhin im Laden: Nehmen wir mal an, der Chef ist an so ein begehrtes Sammlerstück geraten. Eventuell sogar zwei oder drei. Meinst du nicht, dass das in Summe einen Mord wert wäre?“
„Nicht nach meinen Maßstäben. Aber ich weiß, was du meinst. Und wie ich vorhin dazu schon sagte: Wir können das gerne als mögliches Motiv in Betracht ziehen. Bevor wir allerdings zu Schritt vier und fünf übergehen, sollten wir erst mal zwei und drei machen.“
„Die üblichen Überprüfungen?“
„Das ist Punkt zwei. Danach kommt die Befragung im Umfeld.“
„Na gut. Dann gehen wir eben wieder strikt nach Schema F vor. Ich wollte das bloß ein bisschen abkürzen. Wenn sich herausstellt, dass der Mann genau aus dem von mir genannten Grund über den Jordan gehen musste, gibst du mir einen aus. Und damit meine ich nicht irgendeine Pilsplörre. Ich will was Schottisches, das liebevoll im Fass gelagert wurde.“
„Die alten Unterhosen vom Highlander?“
„Nicht ganz. Von dem hätte ich gerne das Schwertchen. Du weißt ja: It can be only one.”
Schmunzelnd machte sich Mark wieder an die Arbeit und ließ sich Christoph Schwarz’ Strafregister auflisten. Dass es eine polizeiliche Erwähnung gab, hatten sie bereits im Wald festgestellt. Andernfalls wäre der Mann nicht mit Fingerabdrücken in der Polizeidatenbank gelistet.
Die Zahl und der Umfang seiner Vergehen hielten sich stark in Grenzen. Als Jugendlicher war Christoph Herbert Schwarz einmal in eine Schlägerei mit sechs Beteiligten geraten und im Zuge dessen erkennungsdienstlich erfasst worden. Zu einer Anklage war es nie gekommen. Mit Anfang zwanzig war Schwarz noch einmal wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz aufgefallen – er war mit einigen Gramm Marihuana festgenommen worden. Aber auch das lag bereits eine Ewigkeit zurück und war längst verjährt.
Die übliche Überprüfung des Ehepartners verlief ähnlich unspektakulär. Ramona Elisabeth Schwarz, geborene Heiduck, war im alten Jahrtausend zweimal wegen Ladendiebstahls angezeigt worden, war aber offenbar spätestens nach der Eheschließung wieder auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt. Die gemeinsame Tochter Sina Schwarz – ohne zweiten Vornamen – war in ihren bisher siebzehn Lebensjahren kein einziges Mal polizeilich auffällig geworden.
Christophs zwei Teilzeitarbeitskollegen, Jakob Lichtermann und Satish Malhotra, stellten da ein ganz anderes Kaliber dar. Der eine war durch Fahrraddiebstahl und mehrfache Beförderungserschleichung aufgefallen, der andere hatte durch Stromdiebstahl und Versicherungsbetrug auf sich aufmerksam gemacht. Wie der typische Werdegang eines Mörders las sich das nicht. Es waren allesamt kleinere Vergehen, die gerne mal als Alltags- oder Massenkriminalität bezeichnet wurden, weil sie die statistisch am häufigsten vorkommenden Deliktfälle waren. Dennoch entfernten diese Bagatellen sie nicht automatisch von der Liste der Verdächtigen. Im Gegenteil. Mark machte sich Notizen darüber und druckte sich die Personaldaten der zwei Mitarbeiter aus.
Als er vom Drucker zum Schreibtisch zurückkehrte, hörte er, wie Dominik die Kollegen von der Streife damit beauftragte, zur Muggenhofstraße zu fahren, um die Anwohner zu befragen. Womit auch dieser Punkt fürs Erste erledigt war.
Zufrieden setzte sich Mark an seinen Platz und beschloss, sich als Nächstes mit der wirtschaftlichen Situation des Ladens zu beschäftigen. Hier merkte er schnell, dass Ramona Schwarz nicht untertrieben hatte. Laut den Steuerunterlagen lief das Musicland tatsächlich nicht gut und schaffte es kaum, seine Unkosten auszugleichen. Es glich einem Wunder, dass sich das Geschäft überhaupt die dreizehn Jahre seit seiner Gründung halten konnte. Vor allem in den letzten Jahren schien der Umsatz kontinuierlich rückläufig gewesen zu sein. Woran das lag, konnte Mark bloß mutmaßen.
Dass Christoph Schwarz schlechter wirtschaftete als früher, war zwar nicht komplett auszuschließen, erschien Mark jedoch unwahrscheinlich. Kein Geschäft hielt sich so lange über Wasser, wenn der Chef ein totaler Buchführungslegastheniker war. Außerdem hatte der Laden früher zwar nicht übermäßig, aber zumindest etwas Gewinn abgeworfen. Was also hatte sich in den vergangenen Jahren geändert?
Waren es allgemeine oder persönliche Umstände? Dass es der Musikindustrie nicht besonders gut ging und seit der Jahrtausendwende kontinuierlich weniger Platten verkauft wurden, war kein Geheimnis. Viele Erwachsene – und vor allem Kinder und Jugendliche – kauften heutzutage keine physischen Datenträger mehr. Wieso auch, wenn nahezu alle Alben als Streaming im Internet erhältlich waren? Damit verdienten die Musiker zwar fast nichts mehr, doch ein solches Argument dürfte für die wenigsten Hörer ausschlaggebend sein.
Hinzu kam, dass Musik inzwischen nicht mehr denselben Stellenwert wie vor zwanzig oder dreißig Jahren einnahm. In seiner Jugend hatte Mark mit dem Booklet in der Hand vor dem CD-Player gesessen und die kryptischen Botschaften zu deuten versucht, die die Sänger und Sängerinnen in ihren Liedern verkündet hatten. Stellenweise hatte er kaum ein Wort verstanden, war jedoch stets davon überzeugt gewesen, dass sie elementare Weisheiten enthielten.
Heutzutage war Musik für viele Menschen zu etwas Beliebigem geworden, das im Hintergrund dudelte, während sie Hausarbeiten oder Schulaufgaben erledigten. Kein Wunder, dass sich viele Lieder mittlerweile um völlig belanglose Dinge drehten und ziemlich gleich anhörten. So cool es früher vielleicht einmal gewesen war, einen eigenen Plattenladen zu besitzen, im neuen Jahrtausend war es eher Fluch als Segen.
So gesehen war es Christoph Schwarz hoch anzurechnen, dass er die Bude nicht bereits vor Jahren geschlossen und sich lukrativeren Betätigungsfeldern zugewandt hatte. Vermutlich war der Mann mit ganzem Herzen ein Musikfan gewesen. Höchstwahrscheinlich hatte er mindestens in seiner Jugend in einer Band gespielt.
Mark gab das Wort Musicland im Internetbrowser ein und bekam mehr als drei Millionen Treffer angezeigt. Es überraschte ihn nicht einmal. Der Begriff war ziemlich universell und deckte praktisch viel ab, was mit Gefiedel und Gedudel zu tun hatte. Offenbar war es auch ein sehr beliebter Name für einen Plattenladen. In Europa und Amerika hatten sich zahlreiche Inhaber dafür entschieden, einige sogar in der näheren Umgebung – in Fürth, Erlangen und Bamberg, um genau zu sein.
Viele Treffer beschäftigten sich mit den Musicland Studios in München, einem legendären Tonstudio, das Anfang der Siebzigerjahre vom Platten-Produzenten Giorgio Moroder gegründet wurde und in dem so namhafte Künstler wie Elton John, Falco, Freddie Mercury, Iron Maiden und Deep Purple ihre Alben aufgenommen hatten.
Nachdem er das Wort Nürnberg in das Suchfeld hinzugefügt hatte, reduzierte sich die Zahl der Treffer auf unter 40.000 – und einige davon drehten sich tatsächlich um Christoph Schwarz’ Geschäft in der Südstadt. Mehrere Dutzend Einkäufer hatten den Service und das Fachwissen der Angestellten gelobt, einige von ihnen bemängelten jedoch auch eine gewisse Überheblichkeit, wann immer nicht ganz so geschätzte Interpreten angefragt wurden. Manch einer hatte das Musicland wiederum aus genau diesem Grund besucht.
Auf der offiziellen Homepage hatte der Inhaber seinen Laden persönlich vorgestellt, inklusive Fotos von den Verkaufsräumen und einer kleinen Historie. Beim Überfliegen der Zeilen bekam Mark seinen vorherigen Gedanken bestätigt. Christoph Schwarz war ein Musikfan durch und durch gewesen. An einer Stelle des Begrüßungstextes hieß es sogar: Es gibt nichts Schöneres als Musik.
Einen Verkaufsshop suchte Mark auf der Internetseite vergebens. Es wurden auch keinerlei Raritäten angeboten oder beworben. Stattdessen gab es die Bitte, gerne mal im Geschäft vorbeizuschauen oder sich telefonisch nach gesuchten Alben zu erkundigen. Und den Hinweis, dass ein Ankauf von Tonträgern ebenfalls möglich sei, es sich die Betreiber des Ladens allerdings vorbehielten, Artikel abzulehnen, wenn sie nicht ins Konzept passten. Was genau damit gemeint war, hatten sie offengelassen. Mark tippte auf Schlager, Volksmusik und Neunzigerjahre-Eurodance.
Der Blick auf Christoph Schwarz’ Bankkonto traf ihn unvorbereitet und heftig. Er hatte auf ähnlich düstere Zahlen wie in den Finanzunterlagen des Plattenladens getippt. Es wäre mehr als nachvollziehbar gewesen. Stattdessen war das komplette Gegenteil der Fall.
Beim Lesen der Zahl, die das Barvermögen des Toten umfasste, fiel Mark buchstäblich die Kinnlade herunter. Er musste zweimal hinschauen, um sicherzustellen, sich nicht verlesen zu haben. Eine so lange Zahl hatte er bisher noch bei keiner Kontoübersicht gesehen. Ungläubig suchte er nach der Ursache und wurde bei den Einträgen vom vergangenen Sommer fündig. Im Juli letzten Jahres hatte Lotto Bayern dem Mann nicht zweihundert, nicht zweitausend, sondern satte zwei Millionen Euro überwiesen. Mark keuchte vor Überraschung.
Auf der anderen Seite des Doppelschreibtisches drehte sich Dominik irritiert um. „Alles klar bei dir? Ich hab dir schon mal gesagt, dass du dir die Pornoseiten nicht vom Arbeits-PC aus anschauen sollst.“
„Nix Porno, vielmehr El Dinero.“
„Dinero? Wie Geld, Zaster und Penunzen?“ Stirnrunzelnd stand Dominik auf und kam zu ihm herüber. Als er den Betrag auf dem Bildschirm las, stieß er einen spitzen Pfiff aus.
„Alter Schwede, was ist das denn?“
„Anscheinend war unser Toter zu Lebzeiten ein Lottomillionär.“
„Na, herzlichen Glückwunsch. Man liest zwar immer wieder mal von diesen Glückspilzen, aber getroffen habe ich noch keinen.“
„Hast du technisch gesehen jetzt auch nicht. Und als Glückspilz würde ich Christoph Schwarz ebenfalls nicht bezeichnen. Der Mann ist tot.“
„Das muss nicht zwangsweise mit der Kohle zu tun haben. Geld allein macht nicht unglücklich. Ein schönes Mordmotiv liefert es aber schon.“
Mark nickte. „Für zwei Mille würde mancher seine Großmutter verkaufen.“
„Nicht nur die. Wieso fehlen von der Summe eigentlich bereits Sechshunderttausend?“ Dominik tippte auf den aktuellen Kontostand. „Anscheinend hat man sich das eine oder andere geleistet.“
„In die Wohnung jedenfalls haben sie es nicht investiert.“ Mark scrollte hinab zu den letzten Abbuchungen. „Hier hinten gibt es mehrere größere Abhebungen in der letzten Zeit. Praktisch jeden Tag eine. Jeweils der Maximalbetrag von 9.900 Euro.“
„Hundert Euro mehr und die Bank hätte die Summe dem Finanzamt melden müssen. Wegen dem Geldwäschegesetz und der Indikatoren dafür.“
„Für knapp unter zehntausend Euro musst du trotzdem vorher der Bank Bescheid geben und das Geld am Schalter abholen. So viel haben die standardmäßig nicht mehr vorrätig. Am Automaten ist, glaube ich, bei 1000 Euro Schluss.“
Dominik kratzte sich an der Wange. „Da frage ich mich glatt, was der Mann mit den abgehobenen Piepen vorhatte. Für sechshunderttausend Steine kriegst du schon einiges. In ein neues Auto jedenfalls hat er es nicht investiert. Laut Zulassungsstelle ist auf Schwarz in den letzten Jahren immer nur ein alter Mercedes eingetragen. Und die Frau fährt ’nen fünf Jahre alten Fiat 500X.“
„Vielleicht wollte er sie mit einem neuen Traumhaus überraschen.“
„Und hat die Kohle deshalb tröpfchenweise vom Konto abgezweigt? Sehr unwahrscheinlich. Davon abgesehen kann ich mir nicht vorstellen, dass ein seriöser Bauträger sein Geld in bar haben will. Der muss das ja auch irgendwo einbuchen. Sonst läuft er schnell Gefahr, dass ihn jemand der Schwarzarbeit oder sonstiger Mauscheleien beschuldigt.“
Mark überprüfte die anderen Kontobewegungen der vergangenen sieben Monate. Es waren bloß die üblichen Abbuchungen für Strom, Miete, Werkstattbesuche und sonstige Lebenshaltungskosten. Die Beträge bewegten sich allesamt im normalen Rahmen. Dafür fiel Mark etwas anderes auf: Gemäß der Bankdaten war das Konto ausschließlich auf Christoph Schwarz eingetragen. Seine Gattin besaß keinerlei Zugriff darauf.
Irritiert schaute er sich daher das Girokonto von Ramona Schwarz an. Auf dem sah es nicht halb so rosig aus. Ein Anteil vom neu erworbenen Reichtum tauchte nicht auf. Die einzigen Einnahmen bestanden aus Ramonas nicht gerade üppigem Gehalt. Das reichte kaum, um das Konto vor dem Dispo zu bewahren. Ein Großteil ihres Geldes ging für Einkäufe in allen möglichen analogen und Online-Läden, vorwiegend für Klamotten und Lebensmittel, drauf.
Dass Ehepartner kein gemeinsames Bankkonto besaßen und sich der eine um die Miete und der andere um die restlichen Aufwendungen kümmerte, war nicht so ungewöhnlich. Nur weil Caro und er sich ein Bankkonto teilten, bedeutete es nicht, dass das andere genauso handhaben mussten.
Nachdenklich lehnte sich Mark auf seinem Stuhl zurück. „Mich beschleicht da gerade so eine Idee: Was, wenn die Ehefrau gar nichts von dem Lottogewinn ihres Mannes wusste? Ihr Konto weist keinerlei Zu- oder Abbuchungen in der Größenordnung auf, sondern bloß den üblichen Kram. Bei unserem Besuch hat die Frau den Gewinn auch mit keiner einzigen Silbe erwähnt.“
Dominik schien einen Moment darüber nachzudenken. „Das würde alles in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen und wirft die Frage auf, wieso seine Holde nix davon wusste. Und ob es strategisch klug wäre, wenn wir es ihr sagen?“
„Erfahren wird sie es so oder so. Sofern es kein anderslautendes Testament gibt, dürften sämtliche Vermögenswerte an sie übergehen.“
„Stimmt schon. Bis es so weit ist, könnten noch ein paar Wochen ins Land gehen. Eventuell wäre es gut, diesen Vorteil für unsere Zwecke zu nutzen. Zumindest bis wir wissen, wofür er die Kohle abgehoben hat. Vielleicht hatte der Mann ja gute Gründe, wieso er seiner Madam nichts erzählt hat. Mir kommen da auf Anhieb ein Dutzend Erklärungen in den Sinn, eine plausibler als die andere. Aber wir haben ja gelernt, dass wir uns nicht auf eine Theorie festlegen sollen, bevor wir nicht sämtliche Fakten kennen, gelle.“
„Schön, dass nach all den Monaten was in deinem Kopf hängen geblieben ist.“
„Och, da gibt es so einige Dinge. Erst durch dich habe ich gelernt, dass es durchaus legitim ist, obskure Sex-Partys zu besuchen, wenn es dem Fall hilft. Oder sich ins Aktenarchiv vom Arbeitsamt zu schleichen, um einen Bankräuber zu überraschen. Nicht zu vergessen: den Hund des Mordopfers bei sich aufzunehmen, damit der nicht ins Heim muss.“
Mark hob ermahnend den Zeigefinger. „Erstens konnte der Hund gar nicht ins Heim, weil dort alles besetzt war. Und zweitens sind es immer die Umstände, die bestimmte Vorgehensweisen notwendig machen. Ich habe stets mit bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“
„Ist das nicht die Standardfloskel aller Anwälte? Mein Mandant hat stets nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Er hat gar nicht gewusst, dass die Waffe geladen war.“
„Haha. Sehr witzig. Lass uns mal lieber zu unserem vom Unglück verfolgten Glückspilz zurückkommen. Genauso wichtig wie der Grund, aus dem er die Sechshunderttausend abgehoben hat, ist der Verbleib der Kohle. In der Wohnung wird er sie vermutlich nicht gebunkert haben.“
„Ohne jetzt Nicoles Bericht vorgreifen zu wollen, bezweifle ich spontan genauso, dass wir im Wald eine Spur davon finden werden.“
„Liegt sie eventuell noch in seinem Auto? Wo steht die Karre überhaupt?“
Dominik schnipste mit dem Finger und eilte zu seiner Tischseite zurück. „Guter Hinweis.“ Er griff nach dem Telefonhörer und drückte die Taste für die Wahlwiederholung. Nur Sekunden darauf bat er den Kollegen, mit dem er vorhin gesprochen hatte, in der Muggenhofstraße nach einem elf Jahren alten, dunkelblauen Mercedes Benz C-Klasse Ausschau zu halten. Um Missverständnissen vorzubeugen, gab er ihnen sogleich das amtliche Kennzeichen des Wagens durch.
„Wieso überhaupt genau diese Summe?“, fragte Mark ihn nach dem Telefonat. „Warum nicht achthundert Steine? Oder ’ne glatte Million? Oder alles?“
„Möglicherweise sind die Sechshunderttausend genau der Betrag, den er jemandem geschuldet hat.“
„In dem Fall hat er mindestens versucht, die Kohle abzuliefern. Vielleicht ist der Kreditgeber ja neugierig geworden und wollte mehr.“
„Es könnte bei der Übergabe was schiefgelaufen sein. In diese Richtung könnte es genauso gehen.“
Dominik notierte die Punkte auf dem windschiefen weißen Flipchart hinter seinem Schreibtisch. Direkt unter dem Punkt Teure Schallplatten, den er vorhin schon eingetragen hatte.
„Oder er brauchte die Summe, um damit eine ganz bestimmte Sache zu bezahlen“, rief Mark ihm zu. „Was kriegt man denn alles für so viel Geld, abgesehen von einer Immobilie?“
„Immobilie wäre eh relativ. Hast du mir nicht neulich erst wieder vorgejammert, wie schweineteuer es mittlerweile ist? In manchen Ecken von Nürnberg hätte der Betrag wahrscheinlich gerade mal für ’ne Eigentumswohnung mit drei Zimmern gereicht. Genauso kannst du den Zaster auch in ein kleines Luxusauto investieren. So im Bereich Ferrari und so.“
„Als solch einen Typen schätze ich ihn nicht ein. Der Schwarz braucht so was nicht zum Posen. Der hätte dafür eher das weiße Piano von John Lennon oder ’ne selbst gebastelte Gitarre von Brian May gekauft.“
Dominik schwenkte den Zeigefinger in seine Richtung. „Jaaa. Genau so was könnte es auch gewesen sein.“ Er fügte eine entsprechende Notiz an der Tafel hinzu. „Wo werden denn solche Raritäten versteigert? Und was für Auktionen standen denn in der letzten Zeit dafür an?“
„Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?“
„Warte, das haben wir gleich.“ Dominik beugte sich zu seiner Tastatur hinab und ließ die Finger darüber flitzen. „Vor einiger Zeit wurde die MTV-Unplugged-Gitarre von Kurt Cobain versteigert. Für mehr als fünf Millionen Euro. Bei einem Auktionshaus in Beverly Hills.“
„Zu teuer und zu weit weg. Das war es ganz offensichtlich nicht.“
„Für die blaue Cloud-Gitarre von Prince hat jemand in L.A. 500.000 Euro hingeblättert.“
„Das passt schon eher. Aber ich glaube nicht, dass Christoph Schwarz dafür nach Kalifornien geflogen ist.“
„Das halte ich auch für eher unwahrscheinlich. Auf jeden Fall scheint es keine speziellen Musik-Auktionshäuser zu geben. Es ist eher so wie überall: Die bereits berühmten Läden nehmen die bereits berühmten Sachen mit ins Programm auf. Als No-Name oder ewiger Geheimtipp hast du da kaum eine Chance. Vor allem nicht in Franken.“
„Meinst du das bezüglich Karriere oder Auktionen?“
„Beides. Ich glaube, wenn du hier berühmt werden willst, musst du es erst anderswo schaffen und dann als gestandener Künstler nach Nürnberg zurückkommen. Siehst du ja an den hiesigen Musikern und Autoren. Ich weiß von einer Menge echt talentierter Leute, wirklich wahrgenommen oder gewürdigt werden sie nicht. Aber davon abgesehen ging es mir eigentlich um fränkische Auktionshäuser. Da finden sich durchaus einige in Nürnberg und den umliegenden Städten, auf berühmte Stücke würde ich dort aber nicht hoffen. Dafür musst du nach Berlin oder eher London, Paris und ins Amiland gehen.“
„Was ist mit Online-Auktionen?“
„Die gibt es natürlich. Überall. Groß und klein. Das gute Zeug wirst du aber hauptsächlich bei den etablierten Adressen finden. Den Verkäufern geht es schließlich darum, möglichst viel Gewinn einzufahren. Da entscheidest du dich als Promi für den, der was zu bieten hat, nicht für irgendeine Hinterhof-Bude. Aber wir kommen vom Thema ab.“
„Wir sollten am besten mal die zwei Teilzeit-Ladenhüter danach fragen. Wenn einer was über etwaige Musik-Investitionen vom Chef weiß, dann sie.“
„Fahren wir gleich zu ihnen?“
Mark schaute auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. „Klar, warum nicht? Draußen wird es zwar langsam dunkel, aber der Tag ist noch jung.“
Als sie aufstanden, hob Felix träge den Kopf. Wahrscheinlich hoffte er auf einen Fehlalarm, um weiterschlafen zu können. Weil dies nicht der Fall war, stand der Hovawart müde auf und betrachtete die Kommissare mit auffordernder Miene. Was ist denn nun, schien sein Blick zu fragen. Das wüsste Mark ebenfalls gerne. Sein Partner brauchte einige Momente, um sich umständlich die Jacke überzuziehen und seine Sachen zusammenzupacken. Dass er nebenbei auf die Notizen auf der weißen Tafel starrte, trug nicht zur Beschleunigung bei.
Auf der Straße ging es ebenfalls nicht schnell voran. Mehrere Sonntagsfahrer waren unterwegs und bremsten sie auf ihrem Weg zum Stadtteil St. Leonard permanent aus. Mark nahm es gelassen und drehte die Musik im Autoradio auf. Der Sender Wild FM spielte Hey Bulldog von den Beatles, das zwar nicht unbedingt eines ihrer bekanntesten, dafür mit seiner markanten Bassmelodie aber eines ihrer coolsten Lieder war. Die Fab Four ausgerechnet jetzt zu hören, nachdem sie in den vergangenen Stunden mehrfach über sie gesprochen hatten, kam fast einem Zeichen von oben gleich. Selbst Dominik zauberte es ein Lächeln ins Gesicht und brachte ihn zumindest für drei Minuten zum Schweigen.
Dafür folgte die nächste Enttäuschung gleich bei der Ankunft in der Rothenburger Straße. Auf das Klingeln an Satish Malhotras Wohnungstür reagierte niemand. Auch beim zweiten und dritten Anlauf nicht. „Vielleicht besucht er seine Oma oder spielt Rommé mit der Tante.“
„Hoffen wir es mal.“
Sie fuhren zu Jakob Lichtermann im aufstrebenden Viertel Gostenhof, doch hier herrschte das gleiche Bild. Keine Reaktion auf ihr Anklopfen und Klingeln. Von den Nachbarn wusste ebenfalls keiner, wo er steckte. Das musste nichts zu bedeuten haben und war nicht mal sooo ungewöhnlich. Viele Menschen waren am späten Sonntagnachmittag unterwegs und nutzten den Tag für Ausflüge oder Treffen mit Freunden. In ihren Ermittlungen half es ihnen nicht weiter.
Zurück im Präsidium, war noch weniger los als bei ihrem Aufbruch vor einer Stunde. Schweigend beantragten sie eine Funkzellenortung der Mobiltelefone von Christoph Schwarz, seiner Frau, seiner Tochter und der zwei Angestellten. Das gehörte zum üblichen Prozedere, ebenso wie das Auslesen der Provider-Daten. Ein Blick in den E-Mail-Posteingang zeigte ihnen, dass die vorläufigen Berichte der Rechtsmedizin und der Spurensicherung noch nicht vorlagen.
Dafür knurrte Dominiks Magen lautstark, und auch Marks Arbeitseifer hielt sich in Grenzen. Inzwischen war der Nachmittag in den Abend übergegangen, und sie beschlossen, Feierabend zu machen.