Читать книгу Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019 - Stanislav Aseyev - Страница 6
Kapitel 1: Ankunft
ОглавлениеSie laden uns einzeln aus. Den einen sind die Hände mit Klebeband gefesselt, meine mit fest eingerasteten Handschellen, alle haben einen Sack oder eine Plastiktüte über dem Kopf. Alles, was ich aus dem letzten Keller mitgenommen habe, ist mein Manuskript, alle anderen Sachen habe ich an. Sie stellen uns, die Köpfe noch unter den Tüten, an die Wand, durchsuchen uns sorgfältig, die Papiere in der alten Mappe mitzunehmen, erlauben sie.
Das ist die Ankunft und jeder von uns versteht mit der Zeit, dass er nicht in ein Gefängnis geraten ist. Genauer gesagt, nicht in ein offizielles Gefängnis, wohin Menschen normalerweise gebracht werden. An diesem Ort sind die Tatvorwürfe ganz andere: Spionage, Terrorismus, Extremismus. In der Zukunft wird es zwei Urteile gegen mich geben, jedes zu fünfzehn Jahren, jedes auf der Grundlage von sieben Strafrechtsparagraphen. Sechs davon werden mit meiner beruflichen Tätigkeit als Journalist verbunden sein und nur einer mit Spionage. So sieht das Bild bei fast jedem hier aus: Ein Gefängnis für "besonders Gefährliche" – so hat die Administration unser Kontingent eingestuft. Wir werden in die Zellen geführt: Alle Türen sind dick schwarz gestrichen, die Fenster mit weißer Farbe übermalt, in jeder Zelle brennt rund um die Uhr Licht, man darf es nicht einmal tagsüber ausschalten. Kaum öffnet sich die Tür, springen auch schon alle von ihren Pritschen auf, ziehen die Plastiktüten über die Köpfe, verbergen die Hände hinter dem Rücken und drehen sich mit dem Gesicht zum Fenster. All das geschieht innerhalb von zwei, drei Sekunden. So sind die Regeln: Weder zu liegen noch in Richtung Fenster oder Videokamera zu sehen ist erlaubt.
Das ist also die Isolation. Straße des Hellen Wegs Nr. 3. Wir sind auf dem Gelände der früheren Fabrik für Isoliermaterialien im Zentrum von Donezk angekommen. Hier ist ein Militärstützpunkt und – in Doppelfunktion – eines der grausamsten Gefängnisse der sogenannten "DVR1". Dieses Gefängnis fällt in keine Kategorie, offiziell existiert es nicht, inoffiziell befinden sich in den Kellern und Zellen Dutzende Menschen. Rundum Beton und Armierungseisen; das ist der Fertigungsbereich der Fabrik, den ich persönlich erst in einem Jahr sehen werde, als sie mir endlich erlauben werden, die Tüte abzunehmen – bevor es in die Dusche geht. Aber vorerst können wir uns nicht daran gewöhnen, dass in der Zelle ein Waschbecken und ein Klo sind. Bei uns schält sich immer noch die Haut ab nach dem Keller des Kontors2, in dem ich anderthalb Monate verbrachte habe, andere mit weniger Glück waren über zweihundert Tage dort. Die Haftbedingungen verwirren uns, sie verwirren jeden, der von diesem Gefängnis hört. "Ein Konzentrationslager mit Klimaanlage? Machen Sie Witze?" So eine Frage habe ich später, schon wieder in Freiheit, oft gehört, wenn ich zu erklären versuchte, was dieses Gefängnis für uns war.
Nun … Sie werden tatsächlich von kleinen Blumen unter den Fenstern begrüßt, wenn Sie in der Sommerzeit ankommen, und in einigen Zellen können Sie eine Klimaanlage finden. Das ist die Wahrheit, aber nicht die ganze. Mein innerhalb eines Monats ergrauter Nachbar wird Ihnen noch ihren anderen Teil erzählen: Eine Woche konnte er nicht sprechen wegen seiner verschwundenen Stimme, die er in nur einer Nacht verloren hatte – während er schrie, mit an seinen Genitalien befestigten Stromdrähten. Elektrischer Strom und ein Hodensack, von dem sich die Haut abschält, erzählen so viel mehr über die Isolation als eine Klimaanlage.
Hier ist alles symbolisch. Wenn Sie in der Isolation ohne Sack oder Tüte über dem Kopf umhergehen – und ein solches Recht kann man sich nach Monaten verdienen –, dann sehen Sie Leninbilder, die direkt am Kellerabgang hängen, und ebenso seine Büste. Früher einmal war das Gelände der ehemaligen Fabrik für Isoliermaterialien ein bedeutendes Kulturzentrum. Hier versammelten sich Maler und Angehörige der Kunstszene, Ausstellungen und Installationen wurden organisiert. Mit der Ankunft der Russischen Welt und des FSB in Donezk haben Lenin und sein "Heller Weg" gesiegt. Der Weg in ein kommunistisches Paradies hat sich zum wiederholten Male in Keller und Hölle verwandelt. Die Anlage der Bombenkeller des früheren Werks, die noch aus sowjetischer Zeit stammt, hat sich in ein System für Folter verwandelt, und die Hangars und Abtrennungen mit den einst in ihnen hängenden Bildern wurden mit Panzern und hunderten Minen angefüllt.
Aber die Isolation wurde nicht nur als ein Gefängnis für Andersdenkende geschaffen. Viele meiner Zellengenossen gerieten für "den falschen Briefwechsel" oder Äußerungen in sozialen Netzwerken, in denen sie die Ukraine in diesem Krieg unterstützt hatten, hierher. Eine derartige Haltung fiel sofort in die Kategorie "Extremismus" und zog automatisch eine Strafe ab fünf Jahren nach sich. Ich übrigens werde fünf Jahre aus meiner Gesamthaftstrafe für einfache Anführungszeichen in meinen Reportagen erhalten – Anführungszeichen, die ich um das Wort "Donezker Volksrepublik" gesetzt hatte und damit ihre Nichtanerkennung durch die Internationale Gemeinschaft und sogar Russland meinte. Diese Anführungszeichen ziehen sofort Ihre Unterschrift auf einem Papier nach sich, das stolz das Fassen eines Verbrechers verkündet, der "die staatliche Souveränität der DVR negiert". Einmal werde ich meinen Ermittler fragen: "Sie haben mir sieben Paragraphen zur Last gelegt, die fast lebenslänglich nach sich ziehen. Deswegen spielen diese Anführungszeichen schon keine Rolle mehr für mich. Aber tut es Ihnen wirklich nicht leid, die Leben derer zu zerstören, die lediglich einen Satz geschrieben haben? Allein dafür soll ein Mensch fünf Jahre absitzen?" Worauf der Ermittler recht offenherzig antworten wird: "In der Regel finden wir bei denen, die das Wort 'DVR' in Anführungszeichen setzen, bestimmt auch Spionage." Diese Maschinerie ist hier unendlich: Ein nicht abreißender Strom an "Spionen" und "Extremisten" gibt die Möglichkeit, aus seinen Opfern alles herauszusaugen, was man nur kann. Autos, Geld, Wohnungen, Eigentum und in meinem Fall sogar Küchenmesser und einige Parfümflaschen. (Letztere wurden bei einer illegalen Hausdurchsuchung gestohlen. Die Erben der sowjetischen Tschekisten, ähnlich ihren Vorvätern in Kunstlederstiefeln und langen Mänteln, schrecken in Donezk vor nichts zurück).
Und doch ist das nur die eine Seite des Lebens derjenigen, die in die Isolation geraten sind. Die andere ist mit den Schicksalen derer verknüpft, die für dieses System gekämpft haben und jetzt selbst von ihm zermalmt werden. In den achtundzwanzig Monaten meines Aufenthalts hier gab es keinen Tag, an dem ich nicht mit jemandem von den hiesigen Milizen in einer Zelle gesessen hätte, wobei diese Keller alle Dienstgrade gesehen haben, vom Generalmajor bis zum einfachen Soldaten. Kaum hatte die Isolation im Jahr 2014 die Bilder und Kunstobjekte gegen Stacheldraht und Maschinengewehrnester ausgetauscht, verwandelte sie sich in eine Foltereinrichtung für die sogenannten "Kosaken". Deren Banden wurden entwaffnet und von den früheren "Waffenbrüdern" bis ins Jahr 2016 hinein hierher verbracht. An den Wänden meiner Zelle konnte man ihre Felsmalerei in Form ihrer Kampfnamen und Angaben des Zeitraums, den sie hier verbracht hatten, finden. Wobei in die Hütte3 die Glücklichen gerieten, die Mehrzahl wurde einfach im Keller festgehalten, auf Holzpaletten, und ein Teil wurde physisch vernichtet. Über die Zahl der Leichen auf dem Gelände der Isolation gibt es bis heute keine genauen Daten. Aber man braucht nur zur Sommerdusche zu gehen, vorbei an der Ventilation eines Schachts, und sofort sticht der hartnäckige Geruch sich zersetzender Körper in die Nase.
Ab den Jahren 2017 bis 2018 arbeitete das System nicht mehr so hemdsärmelig. Während sich früher niemand großartige Gedanken um offizielle Anklagen gemacht hatte, wurde den eigenen Milizen jetzt reihenweise "Landesverrat" und "illegale Aufbewahrung von Waffen" vorgeworfen. Ich saß mit Vertretern fast aller hiesigen Brigaden und Bataillone bis hin zu Stabschefs und stellvertretenden Brigadekommandeuren. 2017 wurden sie Welle für Welle in die Keller gesteckt und später in die Zellen hochgeholt; schon gebrochen und ohne mehr zu verstehen, wofür sie denn noch ein Jahr zuvor hier ihr Blut vergossen hatten. Einige besonders Störrische brachten sie gemeinsam mit ihren Ehefrauen hierher, damit die Ehemänner redebereiter waren und schneller die Dokumente unterschrieben, die gebraucht wurden.
So sieht die äußerliche Seite dieses Ortes aus. Aber die werde ich erst später verstehen, vorerst fühle ich nur, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Nein, ich bin noch weit von der Erkenntnis entfernt, wohin genau sie uns gebracht hatten, und was mir und Dutzenden anderer Gefangener bevorstehen würde, aber bereits in den ersten Minuten fühle ich etwas Seltsames. Mir wird nicht sofort klar, dass sie von den leicht geöffneten Fenstern herrührt. Aber natürlich: Das sind Autos! Vor unseren Fenstern ist eine große Straße, und von dort kommen die Geräusche des vorbeifahrenden Verkehrs. Diese Erkenntnis betäubt mich. Im vorherigen Keller war das einzige Geräusch, das wir hörten, das des fahrenden Aufzugs – kaum war es verschwunden, um danach erneut aufzutauchen, verstanden wir, dass die Nacht vorüber war. So maßen wir die Zeit, und als im Keller – nur ein einziges Mal – das Licht wegen eines Stromausfalls erlosch und sich die rote LED der Videokamera einschaltete, fühlten wir uns tatsächlich wie lebendig zwischen diesen kalten Wänden begraben.
Aber jetzt ist alles anders. Dieses "anders" stürzt uns in eine der gefährlichsten Illusionen, die einen Menschen hier erwarten: Es wirkt, als bedeuteten all diese Geräusche und das Tageslicht, dass dieses Gefängnis etwas Vorübergehendes, nicht für lange, wäre. Ich höre den vorbeifahrenden Verkehr und denke, dass ich jetzt sicher bald hier rauskommen werde; denn dort, hinter dem Fenster, nur einige Meter entfernt, existiert immerhin eine ganz andere Welt. Im Keller schien es uns oft, dass es sie schon nicht mehr geben würde, dass weder Autos noch Menschen noch Sonne noch Wind weiter existierten. Mit uns war etwas geschehen, aber dieses " etwas" war sicher auch ihr, dieser alten, abgenutzten Welt widerfahren. Es konnten nicht nur wir in diese Finsternis versetzt worden sein. Natürlich sprachen wir darüber im Scherz, aber manchmal dachte ich: Wie lange muss man eigentlich hier sitzen, um so etwas zu glauben? Wie viel Zeit im stummen Halbdunkel braucht es, bis diese Gedanken kein Lächeln mehr bei uns hervorrufen?
Jetzt aber stellt sich heraus, dass das Leben nirgendwohin verschwunden ist. Erstens begegnen uns hier, in dieser Zelle, neue Menschen. Es gibt also mehr als Einzelhaft, und man kann jemand anderen sehen außer der Heiligen auf der verschimmelten Ikone, wenn man die Plastiktüte abnimmt. Zweitens fährt ja jemand in diesen Autos, lenkt einen Bus, mit dem die Menschen irgendwohin eilen. Ihr Leben fließt weiter, aber wissen sie, dass es uns hier gibt? Natürlich wissen sie nichts über uns, aber dieses Gefängnis ist bestens bekannt. Einige Monate später wird sich einer der Bewacher damit brüsten, dass sogar Busse sich bemühen, nicht in der Nähe der Isolation anzuhalten. Die traurige Berühmtheit des "Donezker Konzentrationslagers" ruft bei seinen Gründern echten Stolz hervor. Sie sind die Schöpfer der Angst, das einzige Produkt, das diese einstige Fabrik jetzt herstellt.
All diese Gedanken zerbröseln wie Glassplitter bei einem Schlag mit dem Gewehrkolben gegen die Metalltür. Ich springe buchstäblich von meiner Pritsche auf, wie auch etwa ein Dutzend solcher wie ich, und höre meinen Nachnamen: "Plastiktüte überziehen! Gesicht zur Wand! Kopf tiefer! Hände nach hinten! Rechts um – zum Ausgang!" Es beginnt die medizinische Untersuchung bei der Aufnahme. In diesem Moment wusste ich noch nicht, dass uns einer der grausamsten hiesigen Sadisten untersuchen würde. Aus einer finsteren Ironie heraus hatte dieser Mensch hier den Posten eines Arztes inne. Er erlaubt mir, die Plastiktüte vom Kopf zu nehmen, während er selbst in einer schwarzen Sturmhaube da sitzt und fragt, ob es Klagen über den Gesundheitszustand aufgrund der vorherigen Unterbringung gebe. Ich antworte, dass ich die Knöchel an den Daumen, wo sie mir die Stromdrähte befestigt hatten, immer noch nicht spürte. "Das ist nicht schlimm. Gibt es etwas von Bedeutung?" "Von Bedeutung" ließ sich bei mir nichts finden.
Vorausgreifend erzähle ich, dass dieser Mensch immer zu hören war, wenn er in der Isolation ankam. Normalerweise schrie er die Neuankömmlinge schon auf dem Korridor heftig an, belegte sie mit allen möglichen Flüchen. Nachts aber streifte er – gemeinsam mit dem Chef dieses Ortes – über den Flur und zog Gefangene heraus. Was mit ihnen danach geschah, hing von der Menge des getrunkenen Wodkas und der Phantasie derer, die foltern wollten, ab. Genau dieser Mensch begutachtete am nächsten Morgen die von ihm selbst nachts gebrochenen Rippen und die Brandwunden – meine tauben Finger konnten ihm also nur auf die Nerven gehen.
Aber all das wusste ich in diesem Moment nicht. Außerdem rief die Tatsache, dass ich anderthalb Monate bei jedem Gespräch in einer Plastiktüte gesteckt hatte, jetzt bei mir Unbehagen hervor. Es ist verblüffend, aber ich empfand fast ein Schuldgefühl, weil ich ohne Tüte vor ihm stand, obwohl er selbst mir befohlen hatte, sie abzunehmen. Bereits damals verstand ich, dass ich mich innerlich verändert hatte, obwohl mein Weg in der Isolation gerade erst begonnen hatte. Deswegen fühlte ich Erleichterung, als mir endlich erneut befohlen wurde, meine Plastiktüte überzuziehen, und sie mich in die Zelle schickten. Dort schien die andere Welt immer noch hell durch die Fensterritzen ...
1 Abkürzung für "Donezker Volksrepublik", im April 2014 ausgerufene Entität im Donbass, die international nicht anerkannt ist. (A.d.Ü.)
2 Geheimdienstgebäude, Slangausdruck (A.d.Ü.)
3 Zelle, Slangausdruck (A.d.Ü.)