Читать книгу Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019 - Stanislav Aseyev - Страница 9

Kapitel 4: Das absolute Böse

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Wenn ich über die Isolation spreche, vermeide ich bewusst Nachnamen und sogar Vornamen. Gegenüber denen, die diesen Ort durchlebt haben, wäre jeder Name nicht angebracht. Stellen Sie sich eine Frau vor, die Folter und Vergewaltigung erfahren hat, und für die allein der Gedanke an die Vergangenheit ein Trauma ist. Und plötzlich erkennt sie sich auf diesen Buchseiten. Das Gleiche gilt auch für Männer. Für die Administration wären ihre Namen ein Geschenk – bislang wurde niemand bestraft und sie foltern nach wie vor weiter. Glauben Sie mir, ich weiß, dass niemand bereut hat und jedes Wort nur ein Witz für sie ist.

Aber es existiert eine Ausnahme. Das ist der Chef der Isolation, den alle hier Palytch nannten. An diesem Menschen kommt man nicht vorbei. In gewissem Sinne gäbe es die Isolation ohne ihn nicht, und als er verschwand, als er im Februar 2018 endlich selbst im Keller eingeschlossen wurde, atmeten wir alle erleichtert auf. Denn es endete das, wovon es schien, dass es hier nie enden würde.

Was kann man über einen solchen Menschen sagen? Als Erstes kommt mir nur Pathetisches in den Sinn: Verbrecher Nummer Eins, das absolute Böse. Aber das ist zu abstrakt für den, der das Leben von hunderten von Menschen in physische und psychische Asche verwandelt hat. Ein überzeugter Sadist, ein Gewalttäter, ein Henker und Alkoholiker mit klassischer Psychopathie. Dabei ein subtiler Psychologe und Manipulator mit einem guten Sinn für Humor. Genau er hatte das System in der Isolation so aufgebaut, dass die hier Gefangenen einander zu hassen begannen, wodurch sogar die kleinste Andeutung eines Aufstandes ausgeschlossen war. Genau er konnte einen Menschen halbtot schlagen und danach das gleiche mit denjenigen veranstalten, die ohne sein Einverständnis dem Opfer auch nur ein Haar krümmten. So erreichte er seine Ziele, so machte er sich die erbittertsten Feinde gewogen, zurrte sie mit der Peitsche fest, ohne ihnen das Zuckerbrot aus dem Mund genommen zu haben. Ein Mensch, der Nachts über unsere ganze Zelle hergefallen war, uns wie Kegel auf den Boden warf. Und am Morgen mit einem Sack abgelaufener Pralinen kam und sie an die gesamte Isolation verteilte, wobei er uns weiterhin unflätig beschimpfte, allein dafür, dass er "gezwungen" gewesen war, so zu handeln.

Ja, er hielt uns für schuldig, aber nicht wegen der uns vorgeworfenen Taten oder unserer Ansichten – Politik war ihm völlig egal. "Das Neutralitätchen muss gewahrt bleiben", so sagte er mir immer, sobald die Rede auf Derartiges kam. Nein, er hasste uns dafür, dass er selbst hier gefangen war. Versunken in unserem Blut konnte er sich nicht einmal erlauben, das Fabrikgelände zu verlassen – aus Angst vor der Rache derer, die er einst gefoltert hatte. So lebte er im ersten Stock, über uns, und wiederholte von Zeit zu Zeit: "Nicht ihr sitzt mit mir, ich bin es, der mit euch sitzt."

Das erste Mal hörte ich von Palytch im Keller der Isolation, in den sie mich schon am dritten Tag nach der Verlegung aus dem Keller des Kontors gesteckt hatten. Ich hatte nur zwei Tage oben verbracht, in einer recht hellen und warmen Zelle, wonach ich mich – noch mit neun weiteren Männern – erneut unten wiederfand. Ich hatte schon anderthalb Monate Kellerleben hinter mir, zudem unter wesentlich schlechteren Bedingungen, sodass mich der Keller an sich nicht störte. Zudem gab es hier einen Kübel – eine große Toilette – und einen ebenso großen Ventilator, der die Feuchtigkeit nach außen zog, sodass nur Wasser und die Menschen ein Problem waren. In anderthalb Monaten Einzelhaft war ich überhaupt niemanden mehr gewohnt, ganz zu schweigen von einer Konstellation mit "Aufständischen", die sie von Zeit zu Zeit zu uns in den Keller warfen.

Und einmal in der Nacht teilte einer der Zellengenossen mir fast wie ein Geheimnis mit: "Weißt du, wer an diesem Ort der Verantwortliche ist?", zischte er mir mit einer Art Grabesstimme ins Ohr.

In diesem Moment beunruhigte mich nur eines – der Ort an sich, sodass die Frage nach der Leitung mich am wenigsten beschäftigte. Ungefähr das sagte ich meinem Pritschennachbarn auch, worauf dieser auflachte und antwortete, dass das nur hieße, dass ich immer noch nicht verstanden hätte, wo ich gelandet sei.

"Dieser Ort und der Leiter sind fast dasselbe", fuhr er zischend fort, die Lippen mit den Händen bedeckt, damit unser Gespräch nicht über die Videokamera zu bemerken war. "Er heißt Palytch. Ihr werdet euch noch kennenlernen. Er macht sich mit jedem bekannt. Ist gut, lass uns ausruhen."

So kam es auch tatsächlich. Nach einigen Tagen meines Aufenthalts im Keller der Isolation, direkt vor dem Zapfenstreich, öffnete sich plötzlich die Tür und ich hörte mit Schrecken meinen Nachnamen. Warum mit Schrecken? Weil ein Aufruf mitten in der Nacht an diesen Orten nur eines bedeutete: Folter. Wenn Sie mit einer Plastiktüte über dem Kopf im Keller stehen und keine Ahnung haben, was hinter Ihrem Rücken vorgeht, ist es natürlich das Schlechteste was vor dem Schlafengehen geschehen kann, seinen Namen und den Satz "Zum Ausgang!" zu hören.

Ich bewegte mich langsam in Richtung Tür, wobei ich die Tüte so weit anzuheben versuchte, dass ich den Boden unter mir sehen konnte, bekam aber plötzlich den unerwarteten Zuruf: "Nimm schon diese Tüte ab!" Das war ein weiterer Trick, mit denen Palytch glänzend spielte. Die Tüte oder der Sack über dem Kopf der Gefangenen war nämlich ein integrales Attribut des Lebens für alle Neuankömmlinge. Alle, die frisch in die Isolation gekommen waren, liefen in Tüten umher. Einmal wurde einer von uns mitten am Tag für Arbeiten nach oben geholt. Wie sich herausstellte, sollte er anderen Gefangenen beim Transport von Ziegelsteinen auf einen Karren helfen. Er tat dies also in eben dieser Tüte, die abzunehmen ihm Palytch nicht einmal während des Tragens der Ziegelsteine erlaubte. Zum Teil wurde das zur Einschüchterung gemacht; zum Teil, damit man einen Gefangenen "besonders" begünstigen konnte, wenn man ihm erlaubte, ohne Tüte umherzugehen, wodurch man eine psychologische Nähe schaffte. Aber in meinem Fall war dies eine einmalige Aktion und meine Tüte würde ich erst nach acht Monaten abnehmen. Davor hatte ich so sogar die fünfzehn Meter von der Zelle bis zum Platz für den Hofgang getragen.

Ich muss sagen, dass die Angst unter der Tüte geringer war als nach dem Abnehmen. Ich sah einen Zwei-Meter-Mann in Tarnkleidung mit einer AK-47, der mich mit einer Hand am Hals packte und gegen die Wand drückte, während er mit der anderen die Kellerzelle verschloss. Dieser Mensch hatte solche Ausmaße, dass ich unwillkürlich dachte: "Warum braucht er überhaupt ein Maschinengewehr?" Ich erfuhr, dass unsere Zelle hier nicht die einzige war. Ich sah zwei weitere Türen, von denen eine, wie sich später herausstellte, in den Stehkarzer führte, die andere in die Einzelzelle. Die Finger an meinem Hals griffen wieder fest zu und ich wurde langsam nach oben geschleppt. In diesem Moment empfand ich erneut die Vorzüge einer Fortbewegung unter einer Tüte. Denn ich hatte nicht vermutet, wie düster hier alles aussieht: Eine gewaltige Eisentür mit einem Drehschloss wie auf einem U-Boot, dicke Wände, Feuchtigkeit und Halbdunkel. Aber was ich buchstäblich eine Minute später sehen sollte, nahm mir endgültig jede Hoffnung auf einen Sinn.

Während mich also ein Mensch in Tarnkleidung und Armeestiefeln hinaufgeführt hatte, sah ich jetzt hier oben einen sich lässig auf dem Sofa fläzenden Menschen in kurzen Hosen, T-Shirt und Badelatschen, der ein Maschinengewehr in der Hand hielt und damit herumspielte. Mein Begleiter setzte sich neben ihn und verhielt sich klar zurückhaltender, so wie in Gegenwart eines Vorgesetzten. Ich setzte mich auf den zugewiesenen Stuhl und verstand nicht wirklich, wer mein Gegenüber war und was jetzt geschehen würde.

"Stellen Sie sich vor: Nennen Sie Ihren Namen und Ihre Straftaten." Zwischen uns stand ein riesiger Monitor, der in ein Dutzend Quadrate aufgeteilt war, in denen die Gefangenen in ihren Zellen einschließlich unseres Kellers wie Ameisen wuselten. Genau hier, im Monitorraum, entschieden sich die Schicksale der Menschen: Wer heute unter die Pritsche geprügelt wurde und wessen Zelle man in Ruhe ließ. Ich stellte mich wie befohlen vor und fragte, mit wem ich spreche: "Sie sind, wenn ich richtig verstehe, der Schichtleiter?" Worauf der Mann im T-Shirt lachte und erwiderte: "Ich bin hier überhaupt der Leiter, mir untersteht alles." Erst in diesem Moment verstand ich, mit wem ich spreche und dass der Mensch in Schlappen, lustigem T-Shirt und mit Maschinengewehr der berühmte Sadist war, von dem mir hier schon erzählt worden war. Es ist erstaunlich, aber er siezte mich weiter, während er an dem Gewehr herumfummelte, als sei es ein Spielzeug. Während unseres gesamten kurzen ersten Treffens schrie mich Palytch nicht an und er beleidigte mich kein einziges Mal. Obwohl er Gefangene prinzipiell dadurch erniedrigte, wie er sie ansprach, wobei "Vieh" und "Päderast" am harmlosesten waren.

"Seien Sie offen: Gab es Selbstmordgedanken?" Meine Verwunderung, die ich über diese Frage empfand, war eindeutig Folge einer mangelnden Gefängniserfahrung, die vorrangig lehrt, dass alles Ohren hat, sogar die Wände. Palytch verfügte natürlich nicht nur über das durch das Kontor erstellte offizielle Profil über mich, sondern auch über die Denunziationen von Informanten, unter denen auch Leute waren, die zusammen mit mir aus dem Keller von dort hier angekommen waren. Ich verstand, dass Leugnen keinen Sinn machen würde, und sagte direkt: "Ja, die gab es." "Hier tut man so etwas nicht. Ich warne von vorneherein: Das macht es nur schlimmer. Ist das klar?" Ich nickte zur Antwort, obwohl ich in diesem Moment nicht verstand, was schlimmer als ein Suizid sein könnte und wie diese Aussage überhaupt auszulegen sei. Zwei Jahre später wird ein Mensch, der jetzt auf einem kleinen Quadrat des Monitors ruhig von Wand zu Wand lief, im Nachbarkarzer sein. Seine Psyche wird so zerrüttet sein, dass er beginnen wird, sein Gesicht mit einem stumpfen Metalllöffel zu schneiden und sich gegen die Gitter im Keller zu werfen. Und danach werden sie ihn in den Karzer werfen, wo er eine Fliese zerbrechen und sich mit ihr die Vene aufschneiden wird. Sie werden ihn sofort verbinden, zusammenschlagen und mit der gesunden Hand an die Karzertür fesseln, wo er eine weitere Woche in seinen eigenen Fäkalien verbringen wird, bevor sie ihn ins Untersuchungsgefängnis bringen werden. Das also bedeutete "das macht es nur schlimmer", aber zu diesem Zeitpunkt lag in diesen Worten noch nicht die Einsicht aus zwei Jahren.

Palytch erhielt, was er wollte: Mein erster Eindruck von ihm unterschied sich komplett von dem, was ich schon in ein paar Wochen zu sehen bekam. Außerdem streute er Gefangenen diesen Sand noch deshalb in die Augen, falls der Mensch Glück haben sollte und bald aus der Isolation ins Gefängnis oder in Freiheit kommen würde. Ein solcher Glückspilz schaffte es nicht zu "ernüchtern" und blieb bei seiner ersten, falschen Meinung über die Geschehnisse, die er mit anderen Leuten teilen konnte.

Aber schon einige Wochen später werde ich diesen Menschen aus einem ganz anderen Blickwinkel sehen – wenn er mitten in der Nacht zusammen mit ihm ergebenen Gefangenen in den Keller kommen und befehlen würde, einen von uns zur Folter nach oben zu schleppen. Diese Episode hatte ich in meinem Geist schon ein paar Tage nach dem Vorfall "aufgeschrieben", sie zu Papier zu bringen entschied ich mich erst, als Palytch selbst im Keller eingesperrt worden war. Später werden sie mir diese Skizze zusammen mit den anderen Manuskripten in der Isolation wegnehmen und ich werde den Text erst rekonstruieren können, nachdem ich ins Gefängnis gekommen bin. Ich will ihn hier so anführen, wie er als separater Entwurf noch im Keller in meinem Geist entstanden ist. Er ist recht kurz, präsentiert dem Leser aber umfassend, was in dieser Nacht passiert ist und was für ein Mensch Palytch war.

Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019

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