Читать книгу Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019 - Stanislav Aseyev - Страница 8
Kapitel 3: Angst
ОглавлениеDie Angst nimmt einen besonderen Platz im System des Gefangenenlebens ein. Vor allem deswegen, weil es kein Leben ist, sondern ein System, das dazu berufen ist, die Persönlichkeit mittels Repressionen und Zwang zu unterdrücken, sie in dem allgemeinen Kessel der Wendungen aus "Gesicht zur Wand!", "Kopf nach unten!" aufzulösen und einem einheitlichen Verhaltensmodell zu unterwerfen. Und in diesem Modell existiert nur eines – der Wille der Administration. In der Tat, wenn es gelingt, dieses Gefühl im Innern eines Menschen anzusiedeln – das Gefühl ständiger Betäubtheit –, dann verwandelt sich die Persönlichkeit in gefügigen Ton, aus dem man alles Beliebige formen kann. Eine Ausnahme stellen die Fälle dar, in denen die Furcht vor Schlägen oder Folter es einem Menschen nicht einmal erlaubt, das Kommando zu befolgen, das ihn scheinbar vor genau diesen Schlägen bewahren kann. In diesem Fall erlebt der Mensch eine vollständige Lähmung des eigenen Willens und selbst äußere Anreize – wie Schläge oder Drohungen – können ihn nicht immer aus diesem Zustand zurückholen. Somit war die Hauptaufgabe der Administration der Isolation, den Menschen das Fürchten zu lehren – systematisch und rund um die Uhr (manchmal trat die Angst als nächtliche Albträume auf oder darin, dass man auf nächtliche Besuche wartete), Folter und Erniedrigung waren schon eine Folgeerscheinung.
Entgegen der verbreiteten Meinung kann man sich auf unterschiedliche Arten ängstigen. In der Isolation empfand ich eine solche Vielzahl von Schattierungen der Angst – vom Schrecken beim Gedanken an den Tod, als ich plötzlich merkte, dass ich nicht einmal atmete, bis zu Unruhe – sodass ich mich nicht entscheiden kann, was vorherrschend war. Jedoch tritt die tiefste Angst nicht während der Folter auf, sondern als psychologische Schleife in einer relativ ruhigen Umgebung, wofür meine eigene Erfahrung als Beispiel dient. So erlaubte ich mir, nachdem wir aus dem Keller des Kontors in die helle Zelle der Isolation mit Toilette und Waschbecken verlegt worden waren, nicht einmal unnötige Bewegungen, obwohl ich es im Keller des Kontors geschafft hatte, die mir zustehenden sechs Schritte der Zellenlänge – vom Gitter bis zum Bett – zu rennen. In der Isolation jedoch war es uns verboten, Richtung Fenster zu sehen (obwohl sie mit weißer Farbe überstrichen waren), ebenso wenig zu den Videokameras und zur Futterluke, einem kleinen Fensterchen in der Tür, durch das das Essen ausgegeben wurde. Nachdem mit diesen Objekten fast alle Seiten des Raums erschöpft waren, musste man direkt vor sich starren, auf die Wand oder den Boden, in absoluter Stille und ohne sich zu rühren. Letzteres war keine Anweisung der Administration, aber die Furcht beherrschte mich so sehr, dass ich mir nicht erlaubte, einmal zu oft zur Toilette zu gehen. Warum? Die Antwort ist einfach: Ich wusste, wohin genau sie uns gebracht hatten.
Noch als ich im Keller des Kontors gesessen hatte, hatte ich von denen, die schon in der Isolation gewesen waren, viel über sie gehört. Besonders tief beeindruckt hatte mich die genaue Erzählung über einen Menschen, dem sie nicht nur einfach den Hodensack während der Folter mit Strom zerrissen, sondern ihn auch in einem Sarg vernagelt und nach draußen getragen hatten und dann begannen, Schotter oben drauf zu werfen – um einen "Gogol-Effekt"1 zu erzielen, wie sich einer der Beteiligten ausdrückte. Jetzt kann ich darüber offen sprechen, da sowohl Zeuge als auch Opfer diese Hölle überleben konnten und schon in Freiheit sind. Aber in diesem Moment, nachdem sie mich gefoltert hatten und ich im Keller saß, war ich so betroffen von den Vorgängen im "Donezker Dachau" (wie mein Nachbar jenseits der Wand die Isolation nannte), dass die Angst, dorthin zu geraten, mich schon völlig erfasst hatte. Und obwohl sie uns mit Säcken und Plastiktüten über den Köpfen aus dem Keller führten, verstand ich, der ich Donezk gut kenne, anhand der Abzweigungen, die das Auto nahm, dass sie uns nicht ins Untersuchungsgefängnis brachten.
Auch die Worte eines "Spartaners" (ein Mitglied des sogenannten Bataillon "Sparta"2), den sie aus dem "Dachau" in den Keller zurückgebracht hatten, brachten keine Hoffnung. "Wenn du deine Gesundheit bewahren willst, darfst du nicht in die Isolation." Ich fragte naiv nach der Stromfolter, weil ich dachte, dass es darum ginge, worauf er antwortete: "Das ist schon Schnee von gestern. Sie können dich nackt ausziehen, dich mit ausgestreckten Händen an die Wand stellen, und von hinten schlagen sie dir mit einem speziellen Rohr auf Eier und Glied, bis die anschwellen wie bei einem Stier." Die Position an sich hieß "die Wand halten", die Handflächen waren oberhalb des Kopfs auf die Wand zu legen, und man musste so stehen bleiben, bis Beine und Arme einschliefen und man einfach auf den Boden fiel, was in der Isolation tatsächlich als leichteste Strafe praktiziert wurde. Und während ich mir im Keller des Kontors, nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, Gedanken über Abstraktes erlauben konnte (und sogar sie aufzuschreiben, was ein klarer Indikator für psychische Stabilität ist), so war in der Isolation düstere Angst über mehrere Monate meine einzige Realität. Essen und uns fürchten waren alles, wozu wir damals in der Lage waren.
Es wäre ein Fehler zu meinen, dass Gefangene vor rein körperlichen Schmerzen oder sexueller Gewalt Angst haben. Eine Beobachtung der Ereignisse über viele Monate überzeugte mich davon, dass wir uns alle im Zustand eines psychologischen Komas befanden – unabhängig davon, ob in dem jeweiligen Moment unmittelbarer Zwang gegen uns angewandt wurde oder nicht. Diesen Gedanken veranschaulicht die Situation eines Menschen, der jeden Tag in der Isolation ein sogenanntes "Lungenröntgen" verpasst bekam. Während der Essensausgabe hielt er seinen Brustkorb vor die schon erwähnte Futterluke und nach einiger Zeit, nicht sofort, traf ihn ein gewaltiger Faustschlag durch die Tür. Schließlich wurde es zum Vergnügen, ihn einfach an der Tür stehen zu lassen, mit zusammengekniffenen Augen und am ganzen Körper zitternd, aber einen Schlag erhielt er doch nicht. Wenn man es etwas weiter fasst, dann geschah etwas Ähnliches mit uns allen: Unabhängig davon, ob sie uns schlugen oder nicht, mussten wir alle zittern, weil wir sekündlich einen Schlag erwarteten.
Wie es bei jeglichem Extrem der Fall ist, verwandelte sich auch die pathologische Angst eines Bewohners der Isolation ab einem bestimmten Zeitpunkt in pathologische Gleichgültigkeit. Jedoch folgt daraus überhaupt nicht, dass wir alle zu Helden wurden. Nein. Ein Held ist die Summe aus Angst plus Tat. Wir waren Gleichgültigkeit plus Kollaps. Ein ständiger Reiz wird nicht mehr gespürt – daran sollte jeder denken, der vorhat, Menschen über einen langen Zeitraum zu quälen. Genau deswegen rief der Schlag mit dem Gewehrkolben gegen die Tür (eines der beliebtesten nächtlichen Vergnügen) irgendwann nur noch einen gläsernen Blick bei denen hervor, die noch kürzlich bei jedem Klicken zusammengezuckt waren.
1 Der Schriftsteller Nikolaj Gogol, Narkoleptiker, hatte Angst davor, lebendig begraben zu werden. (A.d.Ü.)
2 Bewaffnete Formation aufseiten der "Donezker Volksrepublik" (A.d.Ü.)