Читать книгу Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019 - Stanislav Aseyev - Страница 7

Kapitel 2: Isolation und Ponjatija1

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Kaum war ich aus der Einzelhaft des Kellers in eine Zelle der Isolation gekommen und kaum hatten sie mir die Plastiktüte abgenommen, hörte ich: "Hier schläft ein Päderast2. Nicht mit ihm reden, nichts von ihm annehmen, keine Sachen auf seine Pritsche legen. Verstanden?" Ich bekam einen Schock, weil ich dachte, in einem echten Gefängnis angekommen zu sein – wäre es nur so gewesen. Aber so war es nicht. Die Isolation entsprach nicht nur nicht den Standards jeglicher bekannten Gefängnisse. Das System der Ponjatija, das heißt der Regeln für das Gefängnisleben, denen man an einem solchen Ort folgte, waren in jeder Zelle eigene, nach dem persönlichen, perversen Geschmack.

Aber bevor man sich der Frage widmet, welche Ponjatija in der Isolation selbst galten, lohnt es sich, allgemein zu umreißen, wie das "klassische" System krimineller Normen aussieht, das das Leben eines gewöhnlichen Straflagers im post-sowjetischen Raum bestimmt. Es sei direkt angemerkt, dass ich mich vor der Gefangenschaft nicht journalistisch mit dem Thema der Ponjatija im Gefängnis befasst hatte, weswegen ich nicht den Anspruch erheben kann, ein professionelles Wissen in diesem Bereich zu haben, der wirklich unendlich umfangreich ist. Im Laufe ihrer Geschichte haben die Ponjatija eine Vielzahl von Veränderungen erfahren – zudem haben sie nie in schriftlicher Form existiert, weshalb Berufsverbrecher bei den typischen Treffen, bei denen kriminelle Angelegenheiten geklärt werden, sich erst einmal darüber verständigen, ob der Gegner der alten oder der neuen Auslegung folgt.

Als der in diesem Sinne letzte korrekte Regelwächter beziehungsweise Dieb im Gesetz3 gilt in einschlägigen Kreisen Wasja der Brilliant, alias Wladimir Babuschkin, mit dessen Tod in dem berüchtigten Straflager "Weißer Schwan" das alte System der Diebe endete. Einem System, in dem der Dieb verpflichtet war, seine Haftstrafe abzusitzen, weder Familie noch Ehefrau haben durfte, kein Eigentum und auch kein Leben in Luxus oder eine Arbeit. Interessant ist, dass mir einer der Kriminellen, der noch die Diebe des alten Schlags erlebt hatte, erzählte, wie er beim Treffen zweier Regelwächter in Odessa mit dabei war. Einer von ihnen lebte nach den alten Regeln quasi in einer Kommunalwohnung: In seiner Wohnung gab es fast keine Möbel und die Tür war nie verschlossen (er ist später dort auf seinem alten Sofa gestorben). Der zweite Dieb hingegen kam aus Moskau zu ihm, mit einem Korso aus teuren Autos und einer ganzen Armee von Bewachern. Worauf sein Kollege in der Branche Kriminalität ihm entgegen warf: "Bist du in den Krieg gezogen oder zu einem Bruder gekommen?"

Es gibt einen weiteren Grund, warum ich mich diesem Thema mit Vorsicht nähere. Mein Zellengenosse, ein Wiederholungstäter, bemerkte einmal mir gegenüber: "Du hast nur ein kleines Randstück dieses Lebens erhascht. Denn anhand der Isolation über das Gefängnis zu urteilen, ist so, als würde man anhand eines Präservativs Rückschlüsse über Frauen ziehen wollen." So ist es tatsächlich. Es war nur ein "kleines Randstück" der Normalität, die Menschen üblicherweise in Lagern erwartet. Ich spreche von Normalität, weil selbst in dem Straflager, in das ich schließlich vor dem Gefangenenaustausch geriet, das Leben ein völlig anderes war. Obwohl unsere Baracke – die Baracke der "Politischen" oder "Deutschen"4, wie sie uns nannten – vollständig von den gewöhnlichen Kriminellen isoliert war (mit Blechen verschweißt und von Stacheldraht umgeben), begegneten wir ihnen doch manchmal, wenn wir in das Waschhaus oder Verwaltungsgebäude gingen. Zudem waren viele Berufsverbrecher auch im Straf-Isolator, wohin man die Autoritäten des Lagers für die Missachtung der Lagerregeln zum "Leiden" schickte. Wir "Politischen" jedoch gerieten direkt bei der Ankunft ebenfalls ins Loch, einzig für die uns vorgeworfenen Straftaten – und erst nach zwei Wochen wurde uns erlaubt, endlich in unsere Baracke umzuziehen.

Selbst ein kurzzeitiger Austausch mit gewöhnlichen Kriminellen ließ also einen früheren Gefangenen der Isolation begreifen, wie sehr er innerlich verkrüppelt war. Die Kriminellen benahmen sich absolut gelassen, verhielten sich der Administration gegenüber selbstsicher und sogar frech, zeigten häufig ihren Sinn für Humor und waren guter Laune – obwohl sie im Gegensatz zu uns nicht die Aussicht auf einen Austausch hatten. Ich war verblüfft, als ich am Tag der Ankunft kurz mit einem Gefangenen sprechen konnte, der der Lageradministration bei der Aufnahme der Neuzugänge half. Es stellte sich heraus, dass er hier eine Strafe von fünfzehn Jahren absaß und schon fast am Ende seiner Haftzeit war. Dabei hielt er sich äußerlich hervorragend: Er war guter Dinge, scherzte ständig und wunderte sich aufrichtig über unsere Paragraphen und die Dauer unserer Haftstrafen, die geringsten zehn Jahre.

Diese verhältnismäßig ruhige Lebenshaltung der Verbrecher wird durch die jahrzehntealten Traditionen der Gefängniskultur mit ihren unausgesprochenen Regeln gewährleistet, die zu übertreten nicht einmal in dem rötesten5 Lager erlaubt ist. Ich erinnere mich, wie ich jeden Tag im Loch korrigiert wurde, weil ich mit meinem Bewusstsein noch in der Isolation war. Wir saßen in einer schmutzigen, kalten Zelle, aber hier musste man nicht mehr unvermittelt aufspringen, wenn die Tür geöffnet wurde. Hier musste man nicht den Blick senken oder die Hände hinter dem Rücken verstecken. Hier konnte man mit "Sie" angesprochen werden. Nach achtundzwanzig Monaten "Viehzeug" und "Päderaste" inklusive des unerlässlichen Blicks auf die Schuhe von jemand anderem fiel es schwer, diese Erwartungshaltung zu korrigieren und sich wieder daran zu erinnern, dass man ein Mensch war.

Wahrscheinlich wird vielen dieser Vergleich unpassend erscheinen, aber die Welt des Verbrechens ist in ihren härtesten Formen – wie Unterbringung unter besonders strengen Haftbedingungen – eine ebensolche Welt der Symbole wie etwa eine Kirche. Ein Christ bekreuzigt sich zum Beispiel, wenn er eine Kirche betritt, und dabei sagen uns seine fünf Finger an der rechten Schulter, dass es sich um einen Katholiken handelt. In den runden Kerzenhalter stellt man die Kerzen für die Gesundung, auf dem viereckigen Tisch mit dem Kruzifix entzündet man die Kerzen für den Ewigen Frieden.

Am Verhalten des Gläubigen wird klar, wie oft er in die Kirche geht, wie sehr er diesem Lebenswandel folgt und wie vertraut er damit ist.

Das trifft auch auf die Welt der Ponjatija zu. Angefangen damit, wie jemand eine Zelle betritt und was er dabei sagt – und schließlich anhand seiner Intonation, seines Gangs, woraus erfahrene Gefangene erkennen, wer vor ihnen steht und ob dieser Mensch zum ersten Mal die Schwelle zum Gefängnis übertreten hat. In der Zelle selbst gibt es keinen Zufall. Die Pritsche des Zellenoberhaupts ist zum Beispiel üblicherweise die, die am weitesten von der Toilette entfernt ist und umgekehrt – näher am Scheißloch schlafen die Leute aus der niedrigsten Kaste. Die ersten paar Fragen in der "Verbrechersprache" geben ebenfalls eine Vorstellung vom Erfahrungsgrad im Gefängnisleben – wenn Sie überhaupt verstehen, wovon die Rede ist, weil sich diese Sprache je nach Region sehr stark unterscheidet.

In der Isolation galt all das nicht. Ich führe nur ein mir bekanntes Beispiel an. Bevor ein Wiederholungstäter in unsere Zelle, die vierte, gebracht wurde, saß er die Nacht zuvor in der Nachbarzelle, der achten. Alle in unserer Zelle hörten, wie er in die "Achter" geführt wurde. Aus Gewohnheit rief dieser alte Verbrecher: "Hütte, Grüße!", und bekam sofort von den ihn umringenden Leuten einige Schläge auf unterschiedliche Körperteile. All das geschah auf direkten Befehl der Administration, die der Ansicht war, dass der neue Gast der Isolation im Gespräch zu frech gewesen wäre und zudem nicht verstünde, dass er eine Plastiktüte über dem Kopf tragen sollte. Das erfuhren wir, als der Mensch am nächsten Tag zurückhaltend und mit den Worten "Guten Tag" aus der "Achter" in unsere "Vierer" kam, weil er wahrscheinlich befürchtete, dass ihn auch hier so ein "warmer" Empfang erwartete. Jede Zelle lebte ihr eigenes Leben – je nach der Zusammensetzung und der Anzahl der Menschen in ihr.

So wurde am ersten Tag allen neu in der Isolation Angekommenen eine der wichtigsten Regeln der Zelle erklärt: "Esst nicht, trinkt nicht!" Für einen Menschen, der zum ersten Mal mit diesem System in Berührung kam, war das ein Buch mit sieben Siegeln. Indes stellte sich heraus, dass man sie jedes Mal auszusprechen hat, wenn man auf Toilette geht. In diesem Fall mussten alle Zellengenossen sofort mit Essen und Trinken aufhören, um nicht in Kontakt zu geraten, was heißt, nicht das Ritual zu verletzen, um nicht in der Rangfolge abzusteigen. Wer dagegen verstieß, den konnte eine Strafe in Form eines Stücks Seife erwarten, die er vor allen essen musste – was auch für einen Menschen galt, der es nur vergessen haben konnte, diese Redensart vor dem Gang auf die Toilette auszusprechen. An diese Absurdität muss man sich gewöhnen. Stellen Sie sich ein Dutzend Leute vor, die Tee oder Wasser trinken und sogleich ihre Krüge auf die Pritschen stellen – kaum dass jemand diese Worte ausspricht. Im Laufe eines Tages konnte man sie dutzendmal hören und es dauerte eine Woche, bis man sich daran gewöhnte und es einem nicht mehr schräg vorkam.

In unserer Zelle endete diese Tradition, als der bereits erwähnte Wiederholungstäter zu uns kam. Wie sich herausstellte, existiert die Regel "esst nicht, trinkt nicht" hauptsächlich an Orten mit einfachen und mittelschweren Haftbedingungen und auch dort nicht überall. Wenn in einer Baracke einige hundert Menschen sind, ist es physisch unmöglich, jeden über seinen Toilettengang zu unterrichten. Unter den strengsten Haftbedingungen, unter denen dieser Mensch zwanzig Jahre gesessen hatte, konnte, seinen Worten nach, ein Gefangener gemütlich mit einem Butterbrot jemandem gegenüber sitzen, der seine Notdurft verrichtete – ohne sich oder anderen das Leben schwer zu machen. Ich muss sagen, dass wir nach sechs Monaten "esst nicht, trinkt nicht" und fast krampfartigem Beobachten, ob die Toilette frei war, noch lange brauchten, um uns von der Anspannung zu entwöhnen, die uns schon ab den ersten Tagen hier wie bei Hunden antrainiert worden war. Aber das trug seine Früchte: Als ich in die fünfte Zelle verlegt wurde, wo ungefähr ein Dutzend Menschen waren, konnte ich die Zellengenossen mit der Zeit davon überzeugen, sich von diesem Ritual zu trennen, was ich damit begründete, dass selbst eingefleischte Verbrecher darüber lachten.

Sauberkeit ist eine weitere Regel im Lager. Wahrscheinlich eine der praktischsten und tatsächlich nötigsten Regeln und die Gefangenen halten sich streng und sorgfältig daran. Wer sie andererseits nicht beachtet, erhält eine spezielle "Einordnung", die diesen Menschen in die Reihen der sogenannten Teufel versetzt, also Leute, die nicht auf ihr Äußeres achten und in der Zelle die ganze Drecksarbeit erledigen (in manchen Fällen werden sie sogar unter den Pritschen gehalten). In der Isolation hatte die Administration diese Regel ad absurdum geführt. Am ersten Tag meines Aufenthalts hier haben wir den Zellenboden acht Mal geputzt – solange, bis das Wasser im Eimer dieselbe Farbe hatte wie das, das aus dem Wasserhahn kam. Außerdem musste zum Beispiel die Gummimatte an der Tür unbedingt im rechten Winkel zu ihr liegen. Sich auf die Pritschen zu legen, war absolut verboten, die Kissen mussten in einer Linie liegen, ebenso wie das Bettzeug auf den Pritschen, auf denen man nur am Rand sitzen durfte. All das beobachteten sie sorgsam durch die Videokamera und gaben den Neulingen zu verstehen, dass jegliche Befehle oder Regeln der Administration – und wenn sie auch absurd waren – rigoros zu erfüllen waren.

Was die untere Gefängniskaste, die sogenannten Erniedrigten, betrifft, so gab es davon in der Isolation einige im Laufe der ganzen Zeit. Sie aßen tatsächlich getrennt von den anderen, traten nicht an den Tisch heran und hatten ihr eigenes (oft beschädigtes) Geschirr. Aber die Sache war, dass die Administration selbst sie in diesen Rang versetzte, aus ihrer eigenen Entscheidung heraus, die in keinem Zusammenhang mit dem Kollektiv in der Zelle stand und erst recht nicht mit den Ponjatija im Gefängnis. Ja, ein Mensch konnte ans absolute Ende der Hierarchie geraten, allein weil er die Mittel nicht kannte, mit denen eine Persönlichkeit hier gebrochen und zum Unterschreiben der nötigen Unterlagen gebracht wurde.

Führen Sie sich dieses Bild vor Augen. Sie sitzen in der sogenannten "Luxus-Suite" – einer Zelle von anderthalb Mal zwei Metern, ohne Ventilation, mit zwei Pritschen und einem Fäkalieneimer. Plötzlich öffnet sich die Tür und noch bevor Sie es geschafft haben sich, wie die Instruktion es erfordert, wegzudrehen und eine Mülltüte über den Kopf zu ziehen (Neulinge bekamen oft ausgerechnet eine Mülltüte) werden Sie heftig in den Rücken geschlagen, begleitet von allen denkbaren Flüchen und dem Schrei: "Unter die Pritsche, Vieh!" Ein Mensch, der dieses System nicht kennt, versteht nicht, dass freiwillig unter die Pritsche zu kriechen um Längen übler ist als buchstäblich darunter geprügelt zu werden. Bei der zweiten Variante droht der Verlust der Gesundheit, während die erste im Endergebnis sowohl die Gesundheit kosten als auch Ihr ganzes Leben hier zerstören wird. Denn nach so etwas wurde der Mensch in eine spezielle Druck-Hütte geführt, also eine Zelle, in der ihn Gefangene mit einem engen Verhältnis zur Administration weiter erniedrigten. Hingeführt wurde er aber bereits mit dem "Hinweis" "der ist von unter der Pritsche", was bedeutete: Dieser Mensch wird in der Zelle die dreckigste Arbeit erledigen und häufig auch getrennt von den anderen leben.

Einmal erkundigte ich mich bei einem erfahrenen Verbrecher, wie solche Fragen überhaupt in Gefangenschaft entschieden werden und ob er sich nicht später in einem Lager gemäß der Ponjatija dafür wird rechtfertigen müssen, mit wem er in der Isolation gemeinsam gesessen hatte. Worauf er sagte:

"Welche Ponjatija? Sollen sie erst einmal diesen Ort definieren. Dass sie Gitter angeschweißt haben, macht daraus noch lange kein Gefängnis. Warum sitze ich mit Militärangehörigen? Warum werde ich von Milizen bewacht? Warum fahren vor dem Fenster Panzer? Warum sind hinter dieser Wand Frauen? Wo sind die vorgeschriebenen Normen für die Ernährung? Wir bekommen nicht einmal Brot. Wo sind Besuchstermine für Angehörige, den Anwalt? Warum sind wir zu fünfzehnt, wo eigentlich nur drei einsitzen sollten? Warum brauche ich eine Plastiktüte, wenn sich die Tür öffnet? Warum sich wegdrehen? Warum müssen wir morgens diese verdammte Hymne singen? Ist das ein Gefängnis? Wir sind im Irrenhaus. Und in einem Irrenhaus gibt es keine Ponjatija. Ich habe mit Leuten gesessen, die damals in den Neunzigern schon dreißig Jahre hinter sich hatten – sie heißen alte Weiber bei uns: Greise ohne Zähne, echte Gewohnheitsverbrecher durch und durch. Glaub mir, die haben viel gesehen, aber von so etwas wie hier hat mir keiner erzählt. Und dann dieses ganze Spiel mit den Erniedrigten ... Hier verstehen sie nicht, dass das unsere Kultur ist, wir sind dafür gestorben, in Lagern leben sie Jahrzehnte danach. Man kann nicht einfach eine Sturmhaube überziehen, ein Maschinengewehr nehmen und jemanden zum Erniedrigten machen. Und überhaupt: Okay, sie haben keinen Penis hinten reingesteckt, sondern eine Elektrode. Irgendwen haben sie gestern gefoltert und ihm hinten eine Elektrode reingeschoben. Danach haben sie ihn in unsere Zelle gebracht. Was ist besser? Was soll man davon halten? Wenn man danach geht, dann müsste die halbe Zelle getrennt von den anderen schlafen und aus angeschlagenem Geschirr essen. Aber wem soll man das hier erklären?"

Wie zu bemerken ist, war es für ehemalige Verbrecher psychologisch alles andere als leicht in der Isolation. Die Regeln ihrer gewohnten Welt griffen hier nicht, die Identität des Gefangenen wurde zerstört. Er verstand nicht mehr, wer und wo er war, wie er sich an einem Ort benehmen sollte, dessen äußerliche Form an ein Gefängnis erinnerte, der aber eigentlich eine Mischung aus Irrenhaus und Armee ist. Dennoch unterschied sich das Verhalten dieser Menschen wesentlich von dem der Zivilisten oder Militärs in der Isolation.

So zeigte sich die Angewohnheit der Verbrecher, sich zuerst dafür zu interessieren, was ein Mensch braucht, auch hier in der Isolation. Noch vor allen Fragen – was der Hintergrund eines neu Angekommenen war, wie und wofür er hierher geraten war – boten die Verbrecher des alten Schlags immer einen starken Tee an, ein Stück Seife (wenn es zu finden war), alte Kleidung. Und erst danach klärten sie im Verlauf des Gesprächs, mit wem sie es bei ihrem neuen Nachbarn zu tun hatten. Dieser Unterschied in der Kontaktaufnahme und dem Verhältnis zu Menschen fiel sofort ins Auge, wenn derjenige, der in der Zelle den Ton angab, jemand von den örtlichen Milizen war. Diese Leute versuchten zuerst, eine Art Verhör mit dem neuen Gefangenen zu veranstalten, um nach den hiesigen Ponjatija zu spielen und abzuklären, welchen Schlafplatz der Neue bekommen sollte und ob er überhaupt ein korrekter Mensch war. Je mehr ich in die Tiefen der Verbrecherwelt und ihrer Regeln vordrang, desto absurder wurde das, was hier vorging. Es hätte sich ja kein einziger Verbrecher vorstellen können, dass die Administration selbst die Zellenoberhäupter ernannte und dann auch noch einen der Milizen, die in ihrem Drang, vermeintlich nach den Ponjatija zu leben, alles auf den Kopf stellten.

Oft provozierte die Administration selbst ein Spiel gemäß der Ponjatija zwischen den von ihr eingesetzten Zellenoberhäuptern und gewöhnlichen Gefangenen. So baten wir einmal im Keller der Isolation um einen Spiegel, worauf uns die Verwaltung riet, öfter in den gefüllten Fäkalieneimer zu schauen, auf dessen Oberfläche man, wenn man sich nicht auf den Inhalt konzentrierte, tatsächlich sein eigenes Spiegelbild erkennen konnte – in Litern von Urin. Natürlich mussten die Gefangenen selbst dieses Behältnis aus dem Keller tragen, was dem Chef der Isolation zur weiteren Erheiterung diente. Hochgeschleppt werden musste es über eine sehr steile Treppe und die Administration zögerte es vorsätzlich hinaus, bis das Behältnis übervoll war und die Fäkalien sich über den ergossen, der von unten trug. Oft wurden frisch angekommene Gefangene für dieses Unterhaltungsereignis zum Tragen herangezogen – mit Plastiktüte über dem Kopf, die sie nur leicht anhoben. Im Ergebnis kehrte der Mensch ganz mit Fäkalien überschüttet in den Keller zurück und hatte keine Möglichkeit, sich normal zu waschen, da das Wasser nicht einmal zum Trinken reichte. Er wurde sofort zum Objekt von Spott und Vorhaltungen vonseiten derer, die die Administration zu Zellenoberhäuptern in diesem Keller ernannt hatte: Jetzt behandelten sie den, der gerade ihre Notdurft hinausgetragen hatte, mit Verachtung und bezeichneten ihn als jemanden, der durch Kontakt mit Unreinem in der Hierarchie gesunken sei, was die Administration nicht ohne Vergnügen über die Videokamera beobachtete.

Warum brauchten wir überhaupt einen Spiegel in diesem Keller? Das hat ebenfalls mit dem Verbrecher-Spiel zu tun. Jeder musste sich eine Glatze schneiden und wegen der Kaste der Erniedrigten, von denen einer ebenso abgetrennt im Keller wohnte, zogen es alle vor, das selbst zu machen. Aber selbst für ein übersehenes Haarbüschel konnte man vom Chef der Isolation Prügel beziehen, weswegen wir das Kelleroberhaupt dazu überredeten, um einen Spiegel zu bitten – wenigstens für einen Tag. Die Antwort kennen Sie.

Im Gefängnis gibt es seine eigenen Vorzüge, so seltsam das ist. Es sind nicht viele, aber es gibt sie. Und einer dieser Vorzüge besteht darin, dass das Wort "Ja" "Ja" bedeutet und das Wort "Nein" "Nein". Es gibt keine Schattierungen. Wenn ein Gefangener, ein Verbrecher, erst "Ja" und danach "Nein" oder "Jein" gesagt hat, dann wird er bis zum Ende seiner Haftzeit Probleme haben. Diese Praxis kommt eigentlich nicht aus dem Gefängnis, sondern noch aus der Bibel ("Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen"), aber sie hat sich in der Gesellschaft nicht durchgesetzt, in einer Gefängnisumgebung gilt sie jedoch recht streng. Bei den in Streitsituationen vorgesehenen Treffen, bei denen über jemandes Schicksal entschieden wird, gehen die Verbrecher nach den klassischen, noch sowjetischen Ponjatija ausschließlich mit kurzen Fragen und Antworten, die sie von den Konfliktparteien einfordern, vor. "Hast du das gesehen?", "Bestätigst du das?", "Hat er das gesagt?", "Warst du persönlich dabei?" – so also eine Aufzählung der simplen Fragen, auf die sie entweder ein "Ja" oder ein "Nein" erwarten. Dabei muss man verstehen, dass jedes Ihrer Worte in einem solchen System Ihre Zukunft auf Jahre hinaus bestimmt. Was ist gemeint?

Ein Geschlossenes, also ein besonderes Lager mit maximaler Sicherheitsstufe für gefährliche Wiederholungstäter, von wo aus diese Ponjatija "diktiert" werden, ist so aufgebaut, dass man mit demselben Menschen zehn und mehr Jahre in einer Zelle sitzen kann. Seine Bewohner, die Geschlossenen, können jahrelang abwarten, bis einer ihrer Feinde unter den Zellengenossen, den sie über Jahrzehnte hassen, einen Fehler macht. Und wenn eine Streitsituation geklärt wird und Sie vor langer Zeit einmal "Ja" gesagt haben und einige Jahre später "Nein", dann können Sie sich sicher sein, dass Ihnen das vorgehalten wird. Die Geschlossenen vergessen nicht und sie verzeihen nicht – sie warten nur und halten ihre Argumente für den passenden Fall parat. Deswegen ist es so wichtig, an jedem Wort zu feilen, das in einem beliebigen Gefängnis ausgesprochen wird.

Einmal wurde mir in der Isolation die Nase gebrochen. Nicht von der Administration, sondern durch einen Zellengenossen, einen eingefleischten Verbrecher, der dreiundzwanzig Jahre unter strengsten Haftbedingungen gesessen hatte und in den Neunzigern und Nullern im Umfeld der sogenannten Diebe im Gesetz unterwegs war. Zu diesem Zeitpunkt war die Atmosphäre in der Zelle bis zum Äußersten angespannt. Buchstäblich einen Tag davor hatte ich gesagt, dass wir bald wegen des Schweigens aufeinander losgehen würden. Keiner von uns hatte noch eine Vorstellung davon, was ihn weiter erwarten würde. Wir waren alle so verschieden, dass die Zusammensetzung der Zelle zeitweise als ein Experiment erschien, ein Surrealismus im digitalen Auge der Videokamera: ein Journalist, ein Geheimdienst-Veteran, ein überzeugter Verbrecher mit Wiederholungstaten, ein LKW-Fahrer, ein früherer ukrainischer Soldat, ein paar sogenannte "Aufständische" und ein gewöhnlicher Bergmann, der inzwischen schon zum "Spion" geworden war. Fehlendes Essen, dreißig bis fünfzig Gramm Brot am Tag; die Weigerung, selbst die von uns ins Gefängnis zu verlegen, die schon verurteilt waren; die Ungewissheit über den Austausch; zudem dieser Ort an sich – alle waren so erschöpft, dass ein Funke im Alltag, ein Nichts, das nicht der Rede wert war, zu so einem Ergebnis führte. Ich sagte ein Wort, er sagte ein Wort. Ich wurde missverstanden, sagte erneut, dass er mich falsch verstanden habe. Worauf ich hörte: "Ich sage dir vor den anderen zum dritten Mal: Wenn du nicht den Mund hältst, schlage ich dir den Schädel ein." Ein paar Sekunden später war ich schon blut- und tränenüberströmt und hatte eine gebrochene Nase, da dieser Mensch mich doch falsch verstanden hatte und ich nicht schweigen konnte. Nachdem man diesen Menschen sein ganzes Leben in den Lagern gelehrt hatte, um jeden Preis zu überleben, versuchte er ferner noch, mir das Auge herauszudrücken. Und ohne ein paar Jungs in der Zelle hätte ich keine Chance gehabt: Einer sprang ihm förmlich an den Hals (man muss wissen, dass mein Gegenüber an die zwei Meter groß war) und zog ihn von mir weg.

Eine halbe Stunde später, als ich schon mit Taschentüchern in der Nase und einem komplett zugeschwollenen Auge auf der Pritsche lag, setzte sich genau dieser Gefangene mit seinem riesigen Metallkrug voll kaltem Wasser (Verbrecher des alten Schlags trinken aus einer Reihe von Gründen nur aus Metallgefäßen) neben mich, hielt ihn mir gegen das Auge und sagte: "Stas, ich habe mich noch nie im Leben bei irgendwem entschuldigt." Er hat sich auch nicht entschuldigt. Aber wir haben einander verstanden, wie Gefangene das tun sollten – ohne unnötige Worte. Haben einander hauptsächlich deswegen verstanden, weil uns beiden klar war: Meine gebrochene Nase und das geschwollene Auge lagen an den Wänden um uns herum und nicht im mindesten an dem, was der eine zum anderen gesagt hatte.

Ich weiß nicht warum, aber ich unterhielt mich gern mit denen, die noch vor der Isolation kolossale Haftzeiten abgesessen hatten. Abgesehen davon, dass diese Menschen oft banale Regeln für das Überleben in einem System aus Haftzellen erklärten, die mit den Besonderheiten des Organismus, insbesondere Atmung und Herz, in einem geschlossenen Raum zu tun haben, hatten sie noch ihre eigenen, besonderen Vorstellungen über eine Wertewelt, die auf fünf bis sechs Meter reduziert ist. Natürlich geht es dabei nicht um derart pragmatische Dinge wie ein sauberes Bettlaken oder eine Dusche, die länger als fünf Minuten währt – all das schätzt jeder Gefangene, der sich plötzlich wieder in Freiheit befindet. Allein die Möglichkeit, in einem weichen Bett zu schlafen und nicht auf rauen Brettern, ist schon ein Segen – ein Gefühl, das ich bis jetzt nicht verloren habe und bei jedem Bettenbeziehen empfinde. Aber ich rede von bedeutenderen Dingen, die über die Ponjatija hinausgehen und einen Sinn für diejenigen stiften, die dazu verdammt sind, jahrelang auf Brettern zu schlafen.

Einmal bat ich einen solchen Menschen um Nitroglycerin; nachdem sie mir ein weiteres Mal die Verlegung ins Gefängnis verweigert hatten. Allein Gott weiß, wie es ihm gelungen war, ein ganzes Gläschen dieser Tabletten in der Isolation aufzubewahren, das sie im schon vor einem Jahr als "Bonus" nach der Folter ausgehändigt hatten. Aber ich wusste, dass er sie hatte und wollte versuchen, einen Herzanfall zu simulieren, um wenigstens in die Krankenabteilung des Gefängnisses zu kommen und diesen verfluchten Ort verlassen zu können. Die Umsetzung hätte nicht in der Isolation stattfinden dürfen, wo solche Sachen keinerlei Reaktion außer Grinsen hervorrufen, sondern während einer Fahrt ins Kontor, die in einigen Tagen für mich anstand. Andererseits kümmerte mich ein möglicher tödlicher Ausgang auch nicht mehr.

Nachdem dieser Mensch mich angehört hatte, sagte er, dass er einmal für einen schweren Raub mit Schießerei seine längste Strafe bekommen habe – elf Jahre, zudem direkt zu den schärfsten Haftbedingungen. Als er in diesem speziellen Lager angekommen war, habe er seine Zelle lange und aufmerksam betrachtet, bis er endlich verstanden hatte, dass er genau in ihr die ganzen elf Jahre würde sitzen müssen. Bis just dieses Verständnis da war, er also das Gefühl erreicht hatte und nicht nur über diese Überlegung nachdachte. Danach entschied er sich zum Selbstmord, wollte aber davor noch mit einem der Diebe sprechen, mit dem er bereits in Freiheit einen engen Kontakt unterhalten hatte. Er rief ihn direkt aus der Zelle an. Ich weiß nicht, was der Dieb ihm gesagt hatte, wie er ihn überzeugt hatte, die ganze vorgesehene Strafe abzusitzen, aber mir sagte dieser Mensch Folgendes:

"Das Gespräch lief darauf hinaus, dass das Wichtigste ist, nicht zu verhärten. Genau darin liegt die Wurzel des Problems bei denen, die jahrelang von Pritsche zu Pritsche wandern. Von diesen elf Jahren unter härtesten Haftbedingungen habe ich neun abgesessen – bin aber nicht hart gegenüber der Welt geworden. Hier sitze ich erst ein Jahr – und ich hasse schon jeden, mich eingeschlossen. Vielleicht willst du einen Anfall simulieren, vielleicht aber auch dich umbringen. Ich werde dir nicht so viele Tabletten geben, weil ich die Antwort auf die Frage nicht kenne: Was genau willst du? Wenn es aber das Zweite ist, dann denke darüber nach: Verhärtet zu sterben ist das Gleiche, wie umsonst zu verrecken. Und an diesem Ort ist das Schlechteste, was du ihnen antun kannst, zu überleben und von allem zu erzählen."

Interessant ist, dass Sie keine größeren Zyniker als diese Menschen finden werden. Die Jahrzehnte hinter Gittern unter den härtesten und gefährlichsten Bedingungen zwingen sie, nicht nur das Leben eines anderen mit aller Strenge zu betrachten, sondern auch ihr eigenes. Manchmal scheint es, dass solche Menschen schon nicht mehr in der Lage sind, an irgendetwas zu glauben: Hier untergebracht für besonders schwere Verbrechen (Raub und Tötungsdelikte) beobachten sie jahrzehntelang, wie Menschen versuchen, hinter diesen Wänden zu überleben. Was immer mit Lüge, Verrat, Angst und Erniedrigung verbunden ist. Aber genau sie, diese Verbrecher durch und durch, werden sich zu Ihnen auf die Pritsche setzen, wenn sie sehen, dass es Ihnen schlecht geht, und beginnen ein Gespräch. Genau sie teilen das Letzte mit denen, die sie selbst ein Jahr später ohne die geringsten Emotionen abstechen können. Und genau bei diesen Leuten habe ich den größten Hass auf die Isolation angetroffen – einen solchen, wie ich ihn selbst fühlte. Sie hassten diesen Ort nicht für die Folter, die man ihnen antat. Und nicht einmal dafür, dass ihre Haftstrafen bei zwölf Jahren begannen – für Spionage, von der die meisten von ihnen nur aus Filmen gehört hatten. Dieser Hass entstand aus dem Absurden – weil dies alles nur ein Spiel war. Wenn sie in den besonders strengen Lagern waren, geschah dort viel von dem, was in der Isolation täglich praktiziert wurde. Sie wurden auch verprügelt, man quälte sie mit Hunger, warf sie in den Karzer, einzig die elektrischen Stromschläge waren eine Neuheit. Aber wie mir einer von ihnen sagte: "Ich wusste immer, wofür etwas mit mir geschieht." Das ist ein Teil des Lebens, eine Herausforderung des Systems, das sie verachteten und das es ihnen mit der gleichen Münze heimzahlte. Darin lag wenigstens ein Sinn. In der Isolation wurden diese Sinnzusammenhänge aufgelöst. Es war unwichtig, wer Sie vor der Gefangenschaft hier waren: ein Verbrecher, ein Bergarbeiter, ein Journalist oder ein Soldat, ein Mann oder eine Frau, jung oder alt. Die Sinnlosigkeit des täglichen Leidens empfanden diese Menschen stärker als die, für die in der Isolation ihre erste Haftzeit begann. Ich gehörte zu den Neulingen, aber in diesem Gefühl ähnelten die Geschlossenen und ich uns.

Ein weiteres Prinzip der Gefängniskultur ist die Überzeugung, dass man ein Gefängnis zerstören muss, nicht aufbauen. Das heißt, dass jegliche Arbeiten, die auf den Bau oder die Verbesserung eines Gefängnisses oder Lagers gerichtet sind, kategorisch verboten sind. Ich saß mit einem Menschen, der über ein halbes Jahr in Straf-Isolatoren verbracht hatte – weil er sich geweigert hatte, im Lager Draht zu flechten, von dem ein Teil später zur Umzäunung eben dieses Lagers verwendet wurde. "Ich werde mich nicht selbst einsperren", so hatte er es der Administration gesagt und lief deswegen noch lange auf den Hofgängen in "Achtern": In seiner Strafzelle wurden die Pritschen morgens hochgeklappt und am Abend abgesenkt und alles, was er tagsüber machte, war, in "Achtern" die zwei Pfosten zu umlaufen, auf die das Bett abgesenkt wurde. Dieser Gang in "Achtern" verfolgte ihn noch lange, selbst nachdem er wieder aus dem Isolator herausgekommen war.

In der Isolation galt diese Regel nicht. Alles – von den Gittern bis zu den Pritschen – war hier mit den Händen der Gefangenen gemacht worden, die zur Arbeit herangezogen wurden, ohne dass jemand sie nach ihrer Meinung fragte. Natürlich wussten die meisten Gefangenen nicht einmal davon, dass es nach den Ponjatija verboten war zu arbeiten. Der morgendliche Signalton zum Wecken, die Schreie "Zum Ausgang!", Schläge schon im Korridor und den ganzen Tag Schweißarbeiten in der Sommerhitze ließen nur Raum für den Gedanken ans Überleben. Die Frage, ob das hier ein Gefängnis oder Kriegsgefangenschaft war, interessierte höchstens Menschen mit früherer Hafterfahrung, von denen einer zudem ein überzeugter Nazi war.

Es ist interessant, dass Tätowierungen mit Nazi-Symbolik – wie Hakenkreuz oder Eisernes Kreuz – in der Gefängniskultur im postsowjetischen Raum bedeuten, dass der Gefangene das Gefängnissystem negiert. So ein Gefangener arbeitet nie und zieht den Straf-Isolator den Befehlen der Administration vor, lebt nach den Ponjatija und strebt in der kriminellen Welt nach oben. Genau mit so einem Menschen war ich einmal in einer Zelle der Isolation, aber mit einer Besonderheit: Er war zudem tatsächlich ein Anhänger des Dritten Reichs. Er verblüffte mich, als er mir aus dem Gedächtnis die kompletten Biografien von Röhm und Hess erzählte oder den örtlichen "Antifaschisten"6 sogar noch mit Paketklebeband gefesselt sagte, dass das Hakenkreuz auf seinem Arm ein Teil des Gefängnisspiels sei.

Ich erinnere mich an genau diesen Menschen nicht zufällig; denn er empörte sich lange Zeit, dass es in unserer Zelle eine Klimaanlage gab. "Ein Gefängnis muss zerstört werden, nicht gebaut. Und ihr habt alles Mögliche hierher gebracht." Weil er sich – wie auch sonst alle, die zuvor im strengen Vollzug waren – durch einen guten Sinn für Humor auszeichnete und wir ein normales Verhältnis hatten, fragte ich ihn sogleich: "Hast du das jetzt als Nazi oder als Gefangener gesagt?" Aber die Rolle eines aalglatten Wiederholungstäters gewann dann doch die Oberhand: Kaum hatte er verstanden, dass die Arbeit im Freien die Möglichkeit bot, näher an der Kantine zu sein, begann er sofort, beim Bau eines Checkpoints zu helfen. Als er schon in eine andere Zelle verlegt worden war – zu denen, die ein enges Verhältnis zur Administration hatten –, trafen wir uns zufällig beim morgendlichen Hofgang.

"Ist es nicht verboten, ein Gefängnis zu bauen?", fragte ich ihn mit einem Lächeln und erinnerte an die Klimaanlage. Worauf er antwortete: "Ich baue kein Gefängnis, ich baue an einer Befestigungsanlage."

Diese Verschwommenheit zwischen Ponjatija und den Lebensumständen in der Isolation machte sich bei allem bemerkbar. In der Zelle konnten alle sagen "Esst nicht, trinkt nicht", aber trotzdem jemanden beim Schlafen stören. Denn nach dem Gefängniskanon ist es verboten, einen Menschen zu wecken, selbst wenn er stark schnarcht. "Der Schlaf ist heilig" kann man oft hören, weil der Gefangene während des Schlafs nicht leidet, sein Bewusstsein ist nicht mit dem Gefängnis verbunden, obwohl die Haftzeit weiter läuft. Nach den alten Gesetzen darf man einen Menschen im Schlaf sogar weder mit dem Messer verletzen noch töten. Und während letzteres in der Isolation kein Problem war, wurde die Regel "nicht wecken" nicht nur nicht beachtet – in den Zellen, die der Administration nahestanden, wurde ein Schnarchender sogar manchmal für die ganze Nacht an die Wand gestellt oder sie stellten einen Erniedrigten für ihn ab, der darauf achtete, dass derjenige die anderen nicht beim Schlafen störte und selbst nicht schlief. Deswegen hielten die Gefangenen mit Vorerfahrung die hiesige Administration und die mit ihnen einsitzenden Milizen für Automatische – mit diesem speziellen Wort bezeichneten sie die, die außerhalb der Ponjatija stehen, nicht selbstständig denken können und nur in der Lage sind, fremde Befehle auszuführen. Kaum lief etwas nicht so, winkte der Wiederholungstäter in Richtung Tür ab und sagte: "Automatische. Was willst du von denen erwarten?"

In diesem Sinne hatten einige Verbrecher auch gegenüber uns Zivilisten eine negative Haltung. Ich erinnere mich, wie wir untereinander erörterten, dass es den Begriff "Mensch" für die Administration nicht gebe. Einer, der früher im strengen Vollzug war, hörte uns lange und schweigend zu und hielt dann eine ganze Rede (ich gebe sie nicht wörtlich wieder, aber der Sinn ist getroffen):

"Ihr sagt 'Menschen, Menschen'. Aber was ist bei euch vom Menschsein übrig geblieben? Denn Menschen benehmen sich nicht so. Wenn ihr Menschen seid, warum zittert ihr, wenn sich die Tür öffnet? Warum lauft ihr sogar in der Zelle mit den Händen hinter dem Rücken herum? Warum vermeidet der da zu oft auf die Toilette zu gehen, um nicht am überstrichenen Fenster vorbeigehen zu müssen? Weil sie ihm gestern in einer anderen Zelle gesagt haben: 'Wenn du noch einmal ans Fenster gehst, dann nehmen wir uns erst deine Nieren und später dich vor.' Das Fenster ist überstrichen, verstehst du? Überstrichen! Da sieht man auch so nichts. Aber ihnen ist es wichtig, dich in Angst zu halten. Eine Flasche klickt – der ganze Keller springt auf, will schon die Plastiktüten über den Kopf ziehen, hat gedacht, die Tür öffne sich. Menschen … Die Betten werden heute nicht mal in der Armee auf Kante gemacht. Und hier hängt ein Stück Bettdecke und schon geht es in den Karzer. Alles soll wie mit dem Lineal gezogen sein? Also gut, dann verbieten sie uns morgen, überhaupt auf den Pritschen zu sitzen, weil alles perfekt gerichtet ist. Das gab es hier schon. Ja, man muss keinen Ärger suchen, das ist besser so. Aber ein wenig kann man dieses System zum Wackeln bringen. Heute hast du einen Tadel für die Bettdecke bekommen, du hast es nicht verbessert – morgen schweigen sie deswegen vielleicht. Du kommst in den Karzer? Ja, unangenehm, aber es wird klar, dass man noch etwa versuchen muss. Sie haben uns selbst so eingeschüchtert, dass wir bald unter die Pritschen kriechen, einfach nur zum Atmen. Ja, ich verstehe euch. Einer lebt schon zwei Jahre hier und hat kein anderes Leben gesehen. Ihr wart nicht im Lager und wisst nicht, wie Menschen leben. Echte Menschen, nicht Gewächse, in die sie uns hier verwandelt haben. Ich habe aber zwanzig Jahre abgesessen und weiß ein paar Dinge. Und ich weiß sicher, dass das hier ein Irrenhaus ist."

Derselbe Verbrecher sagte mir übrigens einmal noch etwas anderes, seine Worte demonstrierten ein weiteres Mal, was die Isolation in den Augen derer war, die, wie es schien, schon alles gesehen hatten:

"In unserer Welt heißt es: 'Habe Respekt vor der abgesessenen Zeit.' Ein Mensch kann zu Recht verurteilt worden sein oder auch nicht. Er kann in dieser Zeit etwas an sich ändern, er kann so bleiben. Aber wenn du sieben, zehn, zwölf Jahre gesessen hast, dann wirst du in unserer Welt schon allein deswegen angehört. Du hast selbst in der Isolation gespürt, was das ist. Du magst mir in vielerlei Hinsicht nicht gefallen. Zudem bist du ein Journalist, ich ein Verbrecher, wir sind aus unterschiedlichen Welten. Aber hier, an diesem Ort, zählt ein Tag wie fünf. Du sitzt ein Jahr – rechne, dass du fünf hinter dir hast. Das sage ich dir, ein Mensch, der das halbe Leben im strengen Vollzug gesessen hat, wo du in eine Zelle kommst und wegen des Rauchs vom Zeitungspapier der Selbstgedrehten nicht einmal die Pritschen siehst. Und trotzdem war das besser als dieser Ort hier. Ich werde dich also immer anhören – wie auch jeden anderen –, allein deswegen, weil ihr hier wart und nicht verrückt geworden seid."

1 Die Ponjatija (hier: "Traditionen") sind Regeln und Hierarchiestrukturen, die sich die kriminelle Welt ab den 1930er Jahren in den Lagern der Sowjetunion selbst gegeben hat und die ihr Verhalten untereinander und gegenüber dem Staat festlegen. (A.d.Ü.)

2 Eine der Bezeichnungen für einen Vertreter der untersten Kaste in der Gefängnishierarchie, i.d.R. nicht wörtlich zu verstehen. (A.d.Ü.)

3 Oberste Autorität in der Welt der Ponjatija (A.d.Ü.)

4 Hier i.S.v. "Faschisten" verwendet. (A.d.Ü.)

5 "Rote" Straflager stehen unter strenger Kontrolle der Strafvollzugsbehörde, während die Unterwelt in "schwarzen" Lagern viele Autonomiebereiche hat. (A.d.Ü.)

6 Die sogenannten "Volksrepubliken" im Donbass sind nach eigenem Bekunden antifaschistisch. (A.d.Ü.)

Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017-2019

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