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Vorwort
ОглавлениеForever Young – Wer ist Bob Dylan und wie viele?
»Come gather ’round people / Wherever you roam«: Wir haben Bob Dylan beim Wort genommen und aus Anlass seines 80. Geburtstags viele Persönlichkeiten zusammengebracht, die sein Leben begleitet haben. Weggefährten und Freundinnen wie Joan Baez, Patti Smith, Elvis Costello oder Gene Simmons, Kollegen und Konkurrenten wie Robert Plant und Pete Townshend. Und Menschen, die ihn ein Leben lang bewundert haben wie Ursula von der Leyen, Otto Schily, Carla Bruni, Navid Kermani, Daniel Cohn-Bendit, T.C. Boyle, Martina Gedeck, Jean-Michel Jarre, Wolfgang Niedecken, Dan Brown, Suzanne Vega oder Reinhold Messner. Sie alle schildern, warum es ihnen guttut, seine Songs immer wieder zu hören. Selbst dann, wenn sie sich über ihn ärgern oder ihn manchmal nur schwer ertragen können.
Von Stefan Aust und Martin Scholz
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Wolfgang Niedecken kommt zu spät. Zu spät zu einem Konzert mit Bob Dylan – und das mit Absicht. Erst als das Hallenlicht in der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Halle erlischt, geht er unauffällig zu seinem Platz. Ein Ritual, das er immer dann befolgt, wenn er sich bei Dylan-Konzerten in Deutschland unter das Publikum mischt. »Es ist besser so«, flüstert Niedecken uns zu, »inzwischen kommt es oft vor, dass mich die Leute um Selfies mit ihnen bitten. Das hört dann manchmal gar nicht mehr auf, so was verleidet mir dann den Konzertgenuss.« Der Sänger und Mitbegründer der Kölner Rockband BAP gehört seit mehr als 40 Jahren zu den erfolgreichsten Rockmusikern Deutschlands – als Dylan-Koryphäe ist er längst ebenso bekannt. Dass Niedecken seinem amerikanischen Idol ein wenig ähnlich sieht, macht es für ihn nicht leichter, das Konzert unerkannt zu erleben. Es ist der 31. März 2019, Dylan tritt im Rahmen seiner unendlichen Konzert-Weltreise, der Never Ending Tour, wieder einmal in Deutschland auf. Neben Niedecken sitzt an diesem Abend der Schriftsteller Navid Kermani, der über den Umweg seiner großen Leidenschaft für Neil Young zum Dylan-Kenner wurde.
Wir hatten die beiden wegen einer Dylan-Hommage in der Welt am Sonntag zu dem Konzert in Düsseldorf eingeladen und sie gebeten, im Anschluss darüber zu sprechen, was er ihnen heute bedeutet. Ein Update der jahrelangen Verbundenheit, ausgehend von einem aktuellen Konzert. Ein paar Tage später, am 4. April, werden sich Ursula von der Leyen, damals noch Verteidigungsministerin, sowie der ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily diesem Projekt anschließen und sich sein Konzert in Berlin ansehen. Die amerikanische Folkikone Joan Baez, Dylans zeitweilige Freundin und Wegbegleiterin in den Anfängen, hatten wir bereits 2018 in Frankfurt gesprochen. Ihre Kollegin, die amerikanische Rockpoetin Patti Smith, die Dylan bei den Feierlichkeiten zur Verleihung des Literaturnobelpreises in Stockholm vertrat, äußerte sich im April 2019 am Telefon.
Jede und jeder von ihnen verbindet mit diesem größten lebenden Dichter unter den Rockmusikern besondere Momente, die die Zeit überdauert und ihre Leben geprägt haben. Die einen erinnern sich an kuriose oder bewegende Begegnungen mit ihm, andere an jene Augenblicke, als es losging mit ihrer Bewunderung für ihn und seine Songs. Manchmal sind es die einfachen Fragen wie jene nach dem ersten Dylan-Konzert, die eine große Wirkung haben und ungewöhnliche Einblicke gewähren in ein Leben, zu dem die amerikanische Musikikone den Soundtrack schrieb. Für Ursula von der Leyen und Otto Schily beispielsweise war der Besuch des Konzerts in Berlin eine Premiere – sie hatten ihn beide noch nie zuvor live gesehen. Seine Musik aber war ihnen immer präsent gewesen. Von der Leyen hatte sogar eigene Mixkassetten mit seinen Songs für Autofahrten aufgenommen.
Unsere ersten Gespräche mit Patti Smith, von der Leyen, Schily, Kermani und Niedecken waren eine Initialzündung für ein größeres Projekt – das sich zu einer einzigartigen Reise durch Dylans Leben anlässlich seines 80. Geburtstags auswuchs. Im Rahmen dieser Reise erzählten uns schließlich 13 weitere Persönlichkeiten aus der Welt der Musik, des Films und des Sports, der Literatur und Politik, warum ihr Leben ohne Bob Dylan und seine Musik ganz anders verlaufen wäre.
»Come gather ’round people / Wherever you roam« – das klappte auch in Zeiten von Corona. US-Thrillerautor Dan Brown meldete sich per Videoschalte aus seiner Bibliothek in New Hampshire, Dylans zeitweiliger Duettpartner Elvis Costello sprach von der Terrasse seines Hauses auf Vancouver Island zu uns, Songwriterin Suzanne Vega meldete sich aus ihrem Arbeitszimmer in Manhattan – und zog spontan ihr geliebtes Dylan-Songbuch aus dem Bücherregal hinter sich. US-Schriftsteller T.C. Boyle schaltete sich aus seinem Haus im Pazifikküstenstädtchen Montecito zu, Kiss-Derwisch Gene Simmons aus Los Angeles – er fing fast immer, wenn er einen Dylan-Song zitierte, an, ihn zu singen. Es wurde, ganz im Sinne Dylans, fast eine »Never Ending«-Gesprächsreihe. Der deutsche Filmstar Martina Gedeck sprach zwischen Dreharbeiten unter Lockdown-Bedingungen ebenfalls via Zoom aus Berlin mit uns, Bergsteigerikone Reinhold Messner meldete sich per Skype von seinem Wohnsitz auf Schloss Juval, einer spätmittelalterlichen Burganlage, die einer von sechs Standorten der Messner Mountain Museen in Südtirol ist. Carla Bruni und Elektropop-Pionier Jean-Michel Jarre riefen uns aus dem Lockdown in Paris an, Led-Zeppelin-Frontmann Robert Plant telefonierte von seiner Farm in den britischen Midlands mit uns, The-Who-Gitarrist Pete Townshend rief aus dem Lockdown in London an. Nur einer, Daniel Cohn-Bendit, langjähriger EU-Abgeordneter der deutschen wie der französischen Grünen, kam mit dem Fahrrad und FFP2-Maske zum Gespräch ins Frankfurter Büro der Welt.
Wie die meisten Dylan-Fans zeigten sich all unsere Gesprächspartner als weitgehend schockerprobt von den unverhofften Aussetzern und Richtungswechseln dieser ebenso genialen wie unberechenbaren Musiklegende. Und dennoch hat seine Musik sie alle nie wieder losgelassen.
Viele sind ihm als Mensch und Musiker nahegekommen – Joan Baez, Patti Smith, Elvis Costello, ja sogar Gene Simmons. Aber niemand von ihnen würde für sich in Anspruch nehmen, den Menschen Dylan zu kennen. Er bleibt ein Enigma. In den Gesprächen blicken sie auf ihn als einen Protagonisten des Wandels, der sich stets seine Skepsis und Kritikfähigkeit bewahrt hat, auch dem eigenen Mythos gegenüber. Ein Mythos aber ist er doch – auch für die, die in diesem Buch über ihn sprechen.
Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 als Sohn einer Familie deutsch-jüdisch-ukrainischer Einwanderer in Duluth im Norden der USA an der Grenze zu Kanada geboren. Damals hieß er noch Robert Allen Zimmerman, er liebte den Rock ’n’ Roll von Buddy Holly und Chuck Berry, und sein Ziel war es, bekannter als Elvis zu werden. Mit 18 legte er sich den Künstlernamen Bob Dylan zu, zog nach New York und entdeckte die Musik von Folkikonen wie Woody Guthrie, den er besuchte, als dieser todkrank in einer Klinik lag. Von Guthrie hatte sich Dylan viel abgeguckt. So lernte er von ihm, dass es wichtig war, die eigenen Songs immer wieder zu variieren und zu verändern. Dylan spielte die Nächte durch in den Folkclubs im Greenwich Village in Manhattan. 1962 erschien sein erstes, nach ihm benanntes Album, das größtenteils aus Coverversionen bekannter Folklieder bestand. 1963 folgte das zweite, The Freewheelin’ Bob Dylan. »Freewheelin’« – freilaufend, der Name war Programm – mit »Blowin’ in the Wind«, »Masters of War«, »A Hard Rain’s A-Gonna Fall« und »Don’t Think Twice, It’s All Right« waren gleich vier eigene Kompositionen darauf, die zu Hymnen des 20. Jahrhunderts werden sollten, mit Texten, die heute als Weltliteratur gelten. In atemberaubendem Tempo ging es in den nächsten Jahren weiter. »Er platzt vor Talent aus allen Nähten«, schrieb Robert Sheldon seinerzeit in der New York Times. Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards formulierte es prosaischer: »Bob Dylan hat mehr Songs geschrieben, als ich warme Mahlzeiten zu mir genommen habe.«
Dylan hat das Literarische, das Intellektuelle in die populäre Musik gebracht. Er wurde ein Dichtermusiker, der im Laufe seine Karriere Identitäten angesammelt und wieder abgelegt hat wie andere ihre T-Shirts. Er wechselte vom Folk zum Rock, wurde zur Stimme jener Protestgeneration stilisiert, die gegen Vietnamkrieg und Rassismus demonstrierte. Und als ihm die Heldenverehrung zu viel wurde, ließ er sich taufen und wurde zum singenden Kreuzritter des Christentums – eine Haltung, die er nach ein paar Jahren ebenfalls wieder ablegte. Ein Zerstörer der eigenen Legendenhaftigkeit, ein ewig Rastloser.
Jede und jeder unserer Gesprächspartner*innen sieht einen anderen Dylan. Otto Schily fremdelte ein bisschen mit ihm während seines späten ersten Dylan-Konzerts 2019, weil er Mühe hatte, die »Texte akustisch zu erfassen«. Martina Gedeck dagegen war von ihrem ersten Dylan-Konzert in Düsseldorf, obschon es lange zurückliegt, noch immer so beeindruckt, dass sie ihn mit Verve gegen all jene verteidigte, die ihm vorwerfen, ein Nuschler und Nöler zu sein. Nichts da: Dylan habe eine kongeniale Stimme, die Erzählbögen erschaffe.
Die Frage nach dem ersten Dylan-Konzert, sie führt Cohn-Bendit zurück nach New York, wo er Anfang der sechziger Jahre Joan Baez sah, die plötzlich einen jungen, damals noch unbekannten Musiker auf die Bühne holte – eben Bob Dylan. Um diese Erfahrung werden ihn viele beneiden. Die Frage nach dem ersten Dylan-Konzert hat natürlich auch uns Autoren, Jahrgang 1946 und 1963, umgetrieben. Es geht dabei immer auch um einen Einstieg in seine Welt, es ist nicht der einzige, aber einer, der oft von Turbulenzen gestört wird.
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Herr Aust, reden wir über Ihre Dylan-Premiere. Wann und wo haben Sie ihn das erste Mal im Konzert erlebt?
Das weiß ich noch ziemlich genau: Das war am 1. Juli 1978, als er vor 80000 Zuschauern auf dem Nürnberger Zeppelinfeld auftrat, dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände der Nazis. Es war Dylans erste Deutschland-Tournee überhaupt. Da wollte ich unbedingt dabei sein, obwohl ich eigentlich kein großer Freund von riesigen Konzerten bin. Da sind mir einfach zu viele Leute auf einem Haufen. Ich war im Sommer ’69 in New York und hatte eine Karte für das Woodstock-Festival. Da bin ich nicht hingefahren – einfach zu viele Menschen, und dann hat es auch noch geregnet. Im Mai davor war ich in Los Angeles und hatte bei Freunden den berühmten Film von D.A. Pennebaker über Bob Dylan, Dont Look Back, gesehen. Als ich danach in San Francisco war, nahmen Freunde mich mit zu einem Konzert von The Band. Und wir hofften alle, dass Bob Dylan plötzlich mit auf der Bühne stehen würde, was er gelegentlich tat. War aber leider nicht so. Also musste ich dann die nächste Chance ergreifen. Das war in Deutschland, ausgerechnet in Nürnberg.
Für Bob Dylan selbst verlief seine erste Deutschland-Tournee zunächst allerdings nicht sehr erfreulich. Ein paar Tage vor Nürnberg hatte er in West-Berlin gespielt, in der Deutschlandhalle. Von den Zuschauern dort wurde er ausgebuht, mit Wasserbeuteln und rohen Eiern beworfen. Vermutlich, weil er der Menge nicht jenen Protestsänger gab, den sie sich erwartet hatten. Elvis Presley war im Jahr zuvor gestorben, Dylan ging in Berlin in einem Glitzeranzug, wie ihn Elvis bei seinen Las-Vegas-Auftritten trug, auf die Bühne. Das wurde ihm als Stargetue ausgelegt. Zudem hatte er Bläser und einen Chor mit Backup-Sängerinnen dabei, spielte seine Songs mal im Big-Band-, mal im Reggae-Arrangement – das alles kam nicht gut an.
Und wie war es in Nürnberg?
Da hat er auf den Glitzeranzug verzichtet. Er trug Jeans, Lederjacke, den Kragen hochgeschlagen. In Nürnberg hätte der Glitzeranzug nicht gepasst. Es war ein bedeutsamer Auftritt, für ihn, den amerikanischen Juden, und für uns alle im Publikum. Denn diese Tour war die erste, die Dylan hier im Land der Täter spielte. Ich erinnerte mich noch gut an seinen Klassiker »With God On Our Side«, den hatte er bereits 1964 aufgenommen und darin Folgendes gesungen: »The Second World War / Came to an end / We forgave the Germans / And then we were friends / Though they murdered six million / In the ovens they fried / The Germans now, too / Have God on their side«. Und jetzt gab er zum ersten Mal in Nürnberg ein Konzert – an jenem Ort, wo Zehntausende Hitler zugejubelt hatten. Bevor er auf dem Zeppelinfeld dann »Masters of War« sang, sagte er: »Ich weiß, wo und warum ich diesen Song heute spiele.« Fritz Rau, der Veranstalter von Dylans Konzerten in Deutschland, hat ja oft über die nervenaufreibenden und aufgeladenen Stunden vor und nach diesem Konzert gesprochen.
Rau hatte 1960 auch Marlene Dietrich zurück nach Berlin geholt, zu ihrem ersten Konzert, das sie in Deutschland nach Kriegsende gab. Sie wurde als »Vaterlandsverräterin« beschimpft und bespuckt. Sie sei erschüttert gewesen, sagte Rau später, habe aber durchgehalten.
Rau hat einmal auch erzählt, dass Dylan zunächst gar nicht in Nürnberg spielen wollte. »I think Nuremberg is the wrong place«, soll er ihm gesagt und ihm von Leni Riefenstahl und ihrem Film Triumph des Willens erzählt haben, von Albert Speer und seiner gigantomanischen Architektur. Dylan kannte das alles und wusste, wofür das Reichparteitagsgelände steht. Rau hat ihn letztlich überzeugen können, dass es wichtig war, gerade an diesem Ort aufzutreten. Sein Wunsch war es wohl, dass die riesige Menschenmenge auf dem Zeppelinfeld die Schatten der Geschichte hinter sich lassen, die Gebäude und diesen historisch belasteten Ort gewissermaßen zurückfordern würde.
Entnazifizierung durch Rockmusik. Und Sie mittendrin. Haben Sie das damals auch so wahrgenommen?
Es war uns allen klar, dass dies kein Konzert wie jedes andere war. Nun hatte es ja den ganzen Tag über nach Regen ausgesehen. Eric Clapton und Champion Jack Dupree traten vor ihm auf. Aber als Dylan dann auf die Bühne ging, verzogen sich die düsteren Wolken. Da stand er – zunächst allein, mit Gitarre und Mundharmonika – und spielte die ersten Songs. Dann kam noch Eric Clapton zu ihm auf die Bühne, es wurde dunkel, die Scheinwerfer leuchteten auf – und die Hitlertribüne, die der Bühne gegenüber lag, versank in der Dunkelheit. Das Ganze endete mit einem Feuerwerk und »Forever Young«, soweit ich mich erinnern kann. Rau soll unmittelbar nach Konzertende in einer Mischung aus überschwänglicher Freude und Überlastung einen kurzen Zusammenbruch gehabt haben. In der von ihm autorisierten Biographie Buchhalter der Träume wird das genau beschrieben, auch dass Dylan ihn Tage später, als er bereits nach Paris weitergezogen war, anrief und fragte: »Fritz, what happend in Nuremberg? I did not understand.« Woraufhin der deutsche Impresario ihm erklärte, dass man die Bühne ganz bewusst der Hitlertribüne gegenüber aufgebaut hatte. Weil Rau wollte, dass 80000 Deutsche Hitler gewissermaßen den Rücken zudrehten und sich stattdessen Bob Dylan und seiner Musik zuwandten. »Ja«, soll Dylan ihm da geantwortet haben, »so könnte es gewesen sein … maybe.« Im späteren Verlauf dieser Tournee ist Dylan dann ja zum Christentum konvertiert. Er sang dann einige Jahre als äußerst übellauniger Prediger mit viel religiösem Furor, gab regelrechte Bekehrungskonzerte.
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Die Phase, in der Dylan zum Missionar wurde und seine Fangemeinde abermals schockierte – jetzt mit Songtexten, die wie christliche Predigten klangen –, währte nur bis etwa 1981. Dann war die umstrittene Periode wieder vorbei. Diese und die vielen anderen Metamorphosen, sie sind inzwischen in mehr als tausend Büchern beschrieben worden. Kein anderer Pop-Musiker hat darüber hinaus derart umfangreiche intellektuelle Anstrengungen provoziert, seine Texte und ihn zu verstehen. Und immer wieder treffen sich Dylanologen, darunter namhafte Literatur- und Sozialwissenschaftler, auf Kongressen, um das stetig wachsende Werk des Meisters aufs Neue zu deuten, zu sezieren und seine Lieder und ihre Themen miteinander in Verbindungen zu bringen. Das Buch mit dem vielleicht witzigsten Namen erschien bereits 1991 – Oh no, not another Bob Dylan Book hieß die Biographie, die wohl in der nicht ganz ernst gemeinten Annahme veröffentlicht wurde, dass es jetzt auch mal gut sei mit der ewigen Legendenbeschwörung, dass die Geschichte des Bob Dylan jetzt auserzählt sei. Das ist nun auch schon wieder 30 Jahre her. Das war noch bevor er bei Papst Johannes Paul II. spielte, zum abermaligen Schock seiner Fans erst Songs von Frank Sinatra und dann ein Album mit Weihnachtsliedern einsang und den Literaturnobelpreis bekam. Sein 2020 erschienenes Album Rough And Rowdy Ways gelangte dann erstmals nach Jahren wieder auf Platz eins der Charts in vielen Ländern. Kurz darauf machte er Schlagzeilen mit dem spektakulären Verkauf der Lizenzrechte all seiner Songs für 300 Millionen Dollar und damit, dass er einen Film über sich selbst produziert, in dem Timothée Chalamet sein jüngeres Ich spielen wird. Ach ja, die Verfilmung eines John-Grisham-Romans will er demnächst ebenfalls produzieren, George Clooney soll Regie führen. Auserzählt ist seine Geschichte noch lange nicht. Dylan bleibt ein Dauerfaszinosum.
Und das Gute daran ist: Um es verstehen zu können, muss man nicht wie Daniel Cohn-Bendit sein erstes Dylan-Konzert Anfang der Sechziger in New York erlebt haben. Ein Quer- oder Späteinstieg ist jederzeit möglich. Was nicht heißt, dass ein erstes Dylan-Konzert eine sinnstiftende Erfahrung sein muss.
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Wie ist es denn bei Ihnen, Herr Scholz? Als Cohn-Bendit Dylan Anfang der sechziger Jahre das erste Mal live in New York sah, waren Sie ja noch gar nicht geboren. Wann und wo haben Sie ihn das erste Mal erlebt?
Am 28. September 1987 in der Frankfurter Festhalle: Roger McGuinn, Tom Petty und Band und Bob Dylan – alle drei in einem Konzert. Das versprach spektakulär zu werden. Eigentlich. Ich habe sogar das Ticket aufgehoben – warum, weiß ich allerdings nicht. Denn das Konzert war, nicht nur wegen des unterirdischen Klangs in der Halle, eine Katastrophe, zumindest von dem Moment an, als Dylan auf die Bühne schlurfte. Es sah aus, als hätte sich ein Roadie ins Hauptprogramm verirrt. Was er sang, war so gut wie nicht zu verstehen. McGuinn und Petty wirkten hilflos wie Familienangehörige auf einer Hochzeitsfeier, die versuchen, den betrunkenen Onkel irgendwie doch noch einzubinden. Dann verschwimmen meine Erinnerungen – wie bei einem Verkehrsunfall. Ich weiß nur noch, dass ich nach 40 Minuten die Halle verließ. So was hatte ich weder zuvor noch seitdem je wieder gemacht. Ich hielt das einfach nicht mehr aus, ich wollte nur noch raus.
Jetzt übertreiben Sie aber!
Leider nicht. Die Kritiken nach dem Konzert waren alle eher negativ – für mein Empfinden waren sie dennoch viel zu wohlmeinend. Dylans Lustlosigkeit hat mich richtig wütend gemacht. Ganz schlimm fand ich mitansehen zu müssen, wie McGuinn und Petty das ganze Drama und Genöle über sich ergehen lassen mussten. Danach stand für mich fest: Ich gehe nie wieder auf ein Dylan-Konzert.
Okay, verstanden, Sie haben offenbar arg gelitten. Wie ging es weiter?
Erst viele Jahre später, eine Freundin nahm mich 1995 mit zu einem Dylan-Konzert in Aschaffenburg. Ich hatte ja viele seiner Alben, Songbücher und all die Platten anderer Musiker, die seine Songs nachgespielt hatten: Van Morrison, Jimi Hendrix, U2 und viele mehr. Ich hatte den Eindruck, ich müsste das noch einmal versuchen.
Und?
Ich habe das Konzert als eine Art Wiedergutmachung empfunden – kein Vergleich zu dem Fiasko acht Jahre zuvor. Dylan gab sowohl den Frontmann als auch den Bandleader, der mit Leichtigkeit und Spielfreude sein Repertoire bearbeitete. »Tangled Up in Blue«, »I Shall Be Released«, »All Along the Watchtower« – zwar allesamt nicht wiederzuerkennen, aber auf wundersame Weise neu belebt. Seitdem habe ich ihn noch oft live gesehen. Und ich hatte offenbar Glück, denn jedes Konzert war auf die eine oder andere Weise bewegend. Seitdem plagt mich allerdings oft ein schlechtes Gewissen.
Warum denn das?
Ich habe mich öfter gefragt, ob ich damals, in Frankfurt, nicht doch bis zum Ende hätte durchhalten müssen. Der Gedanke trieb mich vor allem 1997 noch mal um, als Dylan nach einer schweren Herzerkrankung im Krankenhaus lag und offenbar tagelang mit dem Tod rang. In den Medienhäusern waren die vorbereiteten Nachrufe in den sogenannten »Giftschränken« der Redaktion vorsorglich schon mal aktualisiert worden.
Ich weiß, Bob Dylan selbst hatte den Ernst der Lage später ja auf die ihm eigene Weise noch mal bestätigt, als er sagte: »I really thought I’d be seeing Elvis soon.«
Ja, er hat diese Beinahe-Todeserfahrung dann auf seinem Album Time Out Of Mind verarbeitet, das heute noch zu den besten seiner Spätphase zählt. Nahezu jeder der Songs zeugt von der Überwindung der Sprachlosigkeit gegenüber dem Tod und dem Älterwerden. »My feet are so tired, my brain is so wired«, »It’s not dark yet, but it’s getting there«, »Tryin’ to get to heaven before they close the door«, »I wish someone would come / And push back the clock for me« …
Klingt deprimierend.
Es geht auf dem Album ja noch weiter: »The Party’s over and there is less and less to say«, behauptet er und singt dann von einem alten Mann, der die Jungen um ihr Jungsein beneidet. Er war damals 56, dem Tod gerade von der Schippe gesprungen – und wurde der wichtigste Protagonist seiner Zunft, wenn es darum ging, das Älterwerden und den Tod in Worte zu fassen. Und vieles, was er seitdem geschrieben hat, liest sich wie die Chronik eines angekündigten Todes. Dass er dabei alles andere als lebensmüde klingt, ist seine große Kunst.
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Das Besondere an Dylans Gesamtwerk ist, dass sich seine Lieder anscheinend ständig neuen Situationen anpassen, dass altbekannte Zeilen immer wieder neue Bedeutungen annehmen. Oder aber er beschreibt Ereignisse in der Vergangenheit, die uns etwas über die Gegenwart verraten. So wie im vergangenen Jahr, als er den 17 Minuten langen Song »Murder Most Foul« veröffentlichte, in dem er den Mord an John F. Kennedy beschreibt und den Rest der Welt daran erinnerte, dass die Vereinigten Staaten schon immer ein düsterer Ort waren – und es nach wie vor sind.
Mehr als sechs Monate später stürmen nach der Wahlniederlage Donald Trumps Tausende seiner gewaltbereiten Anhänger das Kapitol in Washington. Fünf Menschen sterben. Nun muss man sich in solchen Momenten nicht immer gleich reflexhaft einen neuen Song von Bob Dylan wünschen, der dies beschriebe – er hat ja schon so viele Lieder über die Ursprünge solcher Ausnahmezustände geschrieben: über das düstere, unheimliche Amerika, über die Spaltungen zu Zeiten des Bürgerkriegs bis hin zu den rassistischen Morden der jüngeren Gegenwart.
Vor dem Hintergrund der polarisierten Jetztzeit und der Aussicht, dass sich unter Joe Biden nicht gleich alle Amerikaner versöhnlich in die Arme fallen werden, lohnt es sich, den semifiktionalen Martin-Scorsese-Film aus dem Jahr 2019 über Bob Dylans Rolling Thunder Revue noch einmal genauer anzuschauen. Im Herbst 1975 hatte Dylan eine bunt gemischte Künstlertruppe mit Joan Baez, dem Schriftsteller Allen Ginsberg, dem Schauspieler Sam Shepard und anderen um sich versammelt und fuhr mit diesem Wanderzirkus durch die amerikanische Provinz. Er trat in Hotellobbys, kleinen Sporthallen und in Gemeindezentren beim Kaffeekränzchen auf. Dylan, der Superstar, der zuvor durch ausverkaufte Stadien getourt war, ging auf Pilgerfahrt durch ein Amerika, das nach dem Rücktritt Nixons und dem Fall Saigons tief gespalten war. In einem Gemeindezentrum des Tuscarora-Indianerreservats beispielsweise spielte er den Song »The Ballad of Ira Hayes«. Eine Folkhymne über jenen Indianer des Pima-Stammes, der im Zweiten Weltkrieg bei der Schlacht um die japanische Insel Iwojima dabei gewesen war und der mit fünf anderen US-Soldaten Teil des ikonischen Fotos »Raising the Flag on Iwo Jima« wurde. Nach seiner Rückkehr in die USA schlug ihm Feindseligkeit entgegen, Hayes starb als Alkoholiker. In jener Filmszene sieht man den jüngeren Dylan, wie er ganz allein mit der Gitarre, diesen Song singend, durch die Menschenreihen des Gemeindezentrums geht. Auf einigen Tischen stehen Teller mit Kuchenstücken. Später kommt er mit allen ins Gespräch. Ein Troubadour zum Anfassen.
Dann wieder, an anderen Orten, singt er vorwiegend vor schwarzen Zuschauern Protestsongs wie »The Death of Hattie Carroll«, benannt nach jener schwarzen Kellnerin, die 1963 von einem betrunkenen Weißen in einem Hotel in Baltimore so übel verprügelt wurde, dass sie später im Krankenhaus an ihren Verletzungen starb. Dylan singt auch »Hurricane«, seine Hymne über den zu Unrecht wegen Mordes verurteilten afroamerikanischen Boxer Rubin Carter, für dessen Freilassung er sich einsetzte. Selten hat man den Sänger so engagiert, so energiegeladen und so wütend auf der Bühne gesehen wie in den Live-Mitschnitten jener Tournee.
Man sieht ihn, wie er in irgendeinem Provinznest an der Ostküste spielt, vor einem Publikum, das vornehmlich aus weißen Frauen zu bestehen scheint. Auf den Straßen werden Menschen interviewt, die sich fragen, wie es sein kann, dass ein Star wie Dylan in ihrem Kaff auftritt – und die darüber eine kindliche Freude zum Ausdruck bringen. Dylan der Volkssänger, der Freigeist, der die vielen Stimmen Amerikas in sich aufzunehmen scheint – der vor allem ihre Realität zur Kenntnis nimmt.
Bei einem Konzert ruft jemand »Bob Dylan for President«. Die Kamera zeigt den Sänger, wie er hinter der Bühne in sich hineinlächelt, erst mal einen Schluck aus einer Tasse nimmt und dann sagt: »President of what?«
Da ist er dann wieder, der nicht Fassbare, jener Dylan, der sich von niemandem vereinnahmen lassen will. Schon gar nicht von der Politik. Im Grunde hat er das nur einem Politiker je durchgehen lassen. Auch der kommt in dem Scorsese-Film zu Wort: der spätere US-Präsident Jimmy Carter, mit dem ihn bis heute eine freundschaftliche Zuneigung verbindet. 1976 verweist Carter auf dem Parteitag der Demokraten in seiner Nominierungsrede darauf, dass es Künstler wie Bob Dylan sind, die helfen, die dunklen Seiten Amerikas zu überwinden: »We have an America, that, in Bob Dylan’s phrase, is busy being born, not busy dying.«
Es ist Carters Hommage an einen Humanisten. Sie gilt noch heute.