Читать книгу Forever Young - Stefan Aust - Страница 9
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It Ain’t Me Babe: Joan Baez und Bob Dylan singen 1963 beim Newport Folk Festival. »Joan Baez ist ja oft unterschätzt worden, Bob Dylan hat sie später überstrahlt«, sagt Ursula von der Leyen.
Ursula von der Leyen
»Dylan hat meiner Generation geholfen, Kritik öffentlich auszusprechen, einfach mal durchzuatmen.«
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat eine physische Verbindung zu Bob Dylan, eine, die lange zurückliegt. Ein Gespräch über ihre Begegnung mit Joan Baez, selbst aufgenommene Mixkassetten, Dylans knarzenden Sprechgesang und Lieder, die einen wie warmer Wüstenwind umwehen.
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Ursula von der Leyen ist textsicher, als sie in der Berliner Mercedes-Benz-Halle ein paar Zeilen eines der bekanntesten Songs von Bob Dylan singt: »The answer, my friend, is blowin’ in the wind«. Sie scheint das in diesem Moment nur für sich zu singen, während sie von ihrem Sitzplatz auf den Rängen auf die Zuschauer in der bereits hell erleuchteten Halle schaut, die langsam auf die Ausgänge zu drängen. Die Lieder von Bob Dylan hat sie ihr Leben lang immer wieder gehört, ihn aber bisher noch nie live gesehen. Das Konzert in Berlin im Frühjahr 2019 ist für sie eine Premiere. Zu diesem Zeitpunkt ist von der Leyen noch Bundesverteidigungsministerin. Wenige Monate später wird sie zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt – das Time Magazine nimmt sie 2020 in die Liste der 100 weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten auf, und die Zeit stellt sich die Frage, ob Ursula von der Leyen jetzt der drittmächtigste Mensch der Welt sei.
Mit ihrem aktuellen, bislang höchsten politischen Amt schließt sich für sie ein Kreis, sie kehrt damit an den Ort ihrer Geburt, nach Brüssel, zurück: Dort wird sie am 8. Oktober 1958 als Tochter des CDU-Politikers und späteren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht geboren. Nach dem Medizinstudium lebt sie mit ihrem Mann, dem Medizinprofessor Heiko von der Leyen, von 1992 an vier Jahre lang im kalifornischen Stanford. Seit 1990 ist sie CDU-Mitglied, war in späteren Jahren unter anderem Familien-, Arbeits- und ab 2013 Verteidigungsministerin.
Dass sie am Ende des Konzerts in Berlin noch mal den Text von Dylans ikonischem Song singt, wirkt auch wie ein Akt der Selbstvergewisserung. Wenige Minuten zuvor hatte Dylan ihn noch selbst auf der Bühne gespielt – als Zugabe und, wie ein Kritiker des Rolling Stone später zürnen wird, »verunstaltet als schlieriger Walzer ohne den Hauch der Originalmelodie«. Kann man so sehen. Ursula von der Leyen war über Dylans Umgang mit »Blowin’ in the Wind« ebenso irritiert. Sehr sogar. Ihr Urteil darüber fällt jedoch nicht so vernichtend aus wie das des Kritikers.
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Frau von der Leyen, Sie sollen vor Kurzem auf einer Feier ein Lied von Bob Dylan gesungen haben. Stimmt das?
Ja, ich habe den Dylan-Song »I Shall Be Released« gesungen. Das war auf der Feier zum 60. Geburtstag eines Freundes. Wir sangen das Lied mit verteilten Rollen. Es ist ziemlich schwer, diesen Song zu singen. Wir haben es aber, glaube ich, ganz gut hinbekommen! Ich singe ja leidenschaftlich gern, hab früher viel in Chören gesungen, meistens Klassik. Inzwischen ist meine Stimme tiefer, deshalb kann ich auch andere Lieder singen – sogar Bob Dylan.
Da geht es Ihnen wie Joan Baez, die inzwischen auch eine viel tiefere Stimme hat – und auf ihrer Abschiedstournee nicht nur ihre eigenen, sondern auch die Songs ihres früheren Partners und einstigen Protegés Bob Dylan kraftvoller singt als je zuvor.
Kurios, dass Sie Joan Baez ansprechen, denn sie ist im Grunde meine einzige physische Verbindung zu Bob Dylan.
Wie das?
Mitte der neunziger Jahre traf ich sie zufällig im kalifornischen Menlo Park, das liegt in der Nähe vor Stanford. Mein Mann hatte damals an der dortigen Universität ein Angebot für ein Forschungssemester bekommen. Da stand ich dann also an einem Nachmittag mit meinen fünf kleinen Kindern auf dem Weg zum Spielplatz und war fassungslos, als ich plötzlich Joan Baez sah, die dort Musik spielte.
Was ging Ihnen durch den Kopf?
Erst dachte ich, das sei ein Double. Aber sie wohnte offenbar in der Nähe. Hatte sich dort mit Freunden getroffen. Es war wie ein Familienpicknick auf dem Rasen. Es gab Schnittchen, sie sang dazu, und ich bin einfach mit meinen Kindern dabei gewesen. Ich habe diesen Moment geliebt! Ich habe kurz mit ihr gesprochen, mich aber nicht getraut, sie zu fragen, wie es sein konnte, dass ein Weltstar wie sie einfach so hier in diesem Park auftrat. Ich habe Joan Baez immer bewundert, zu ihr aufgeschaut – zu dieser großartigen Frau! Sie ist ja oft unterschätzt worden. Bob Dylan hat sie später überstrahlt, ist noch weiter gekommen als sie. Ich finde aber, das sollte ihre Rolle nicht schmälern.
Welches ist für Sie der bedeutsamste Song von Bob Dylan?
Ich liebe »Just Like a Woman«, aber auch »Blowin’ in the Wind« – weil er Fragen stellt, ohne Antworten zu geben. Genau deshalb bringt er die Menschen immer noch zum Nachdenken, Menschen, die ganz unterschiedliche Erfahrungen und Meinungen haben. Mit seinen Liedern assoziiere ich das Erlebnis der amerikanischen Weite und diese Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach Aufbruch und Freiheit. Seine Lieder spiegeln für mich aber auch jene wunderbare Wehmut und Sehnsucht, die nur die Jugend hat. Die spürt man auch noch im Alter. Obwohl sie viel blasser geworden ist, wahrscheinlich, weil man weiß, dass dieses Hinaus-ins-Offene-Gefühl nicht grenzenlos ist. Ich muss dabei immer an meinen alten Kassettenrekorder denken: wie ich in meinem ersten Auto, einem Fiat 500, fuhr, und auf dem Beifahrersitz lag der Kassettenrekorder. Autoradios gab es damals noch nicht. Und aus dem Rekorder drang die Musik von Bob Dylan, auch von Leonard Cohen und Simon & Garfunkel. Auf den Kassetten waren »Blowin’ in the Wind« und viele andere Dylan-Lieder. Wenn ich mehrere Stunden unterwegs war, habe ich sie 30-, 40-mal hintereinander gehört.
Haben Sie die Kassetten selbst aufgenommen?
Ja. Kann man sich heute gar nicht mehr richtig vorstellen, oder? Diese kleinen Dinger, und wenn man beim Rausnehmen nicht aufpasste, gab es Bandsalat, weil sich die Bänder verheddert hatten. Es war damals eine kargere Zeit als heute, was Musik und visuelle Medien betrifft. Es gab nicht so ein Überangebot wie heute. Ich habe damals gelernt, mich auf Dylans Stimme zu konzentrieren, einfach weil ich mir »Blowin’ in the Wind« immer und immer wieder anhörte. Diese wunderbare Melodie. Als ich Bob Dylan jetzt in Berlin das erste Mal überhaupt live erlebt habe, war er allerdings nicht so gnädig, diese Melodie zu spielen. Er spielte zwar den Song, aber nicht so, wie ich ihn kenne.
Waren Sie enttäuscht?
Es war ambivalent. Ich war einerseits fassungslos, aber zugleich überwältigt. Denn natürlich hatte ich erwartet, all meine Sehnsüchte in Melodieform aufleben lassen zu können. Und was macht er? Er kommt auf die Bühne. Er spricht kein Wort mit uns. Kein einziges Lied hat er uns geschenkt – jedenfalls nicht so, wie ich es kenne und liebe. Er hat uns nur einen knarzenden Sprechgesang gegeben. Ich war aber gekommen, um jenen Dylan zu hören, den ich kannte. Ich musste mich in dem Konzert also erst mal zurechtfinden, mich damit auseinandersetzen. Das hat etwas gedauert. Durch diese neuen Arrangements hat er aber, glaube ich, eine Disziplinierung auf das Wort erreicht und mich dazu gebracht, dass ich ihm zuhören musste, statt in meinen wehmütigen Erinnerungen an vergangene Zeiten zu schwelgen. Im Rückblick fand ich das grandios. Aber erst im Rückblick. Weil er mich zum Nachdenken gebracht hat. Sie merken ja, ich grüble noch jetzt, warum er mit seinen großen Liedern so umgeht.
Der frühere CIA- und NSA-Chef Michael Hayden hatte sich uns gegenüber auch mal als großer Dylan-Kenner und -Fan geoutet. In einem Moment sprach er begeistert über Lieder wie »Absolutely Sweet Marie« oder »Masters of War« und rechtfertigte dann die umstrittene Verhörmethode des Waterboardings, weil sie wichtige Informationen erbracht habe. Gibt es für Sie innere Konflikte, wenn Sie für Lieder wie »I Shall Be Released« oder »Blowin’ in the Wind« schwärmen, als Verteidigungsministerin aber in ganz anderen Zwängen stecken?
Nein, das Ziel ist ja dasselbe – Frieden. Wenn auch die Ansätze unterschiedlich sein mögen. Die Bundeswehr ist auf dem Weg, stark zu sein, um im Idealfall niemals eingesetzt werden zu müssen. Aus einer Position der Stärke lässt es sich besser mit Aggressoren verhandeln als aus einer Position der Schwäche. Die Sehnsucht nach Frieden ist dieselbe wie in den Liedern von Dylan. Bei »Blowin’ in the Wind« geht es ja auch nicht nur um Krieg. Das Lied stellt Fragen wie: »Wann bist du erwachsen? Wie viele Schreie musst du hören, eh du hinhörst?« Und es stellt eine grundsätzliche Frage: »Wie oft müssen wir von Leid und Unrecht hören, es sehen, ertragen, ehe wir aktiv werden und etwas dagegen unternehmen?«
Das ist eine Frage, die sich zurzeit offenbar viele Jugendliche stellen – nicht nur bei den Fridays-For-Future-Demonstrationen, auch in dem Anklagevideo des YouTubers Rezo, in dem er der CDU, aber auch der SPD und den Volksparteien im Allgemeinen vieles vorwirft – unter anderem, nicht richtig zuzuhören. Welchen Erkenntnisgewinn hat diese Debatte, vor allem die Hysterie darum, für Sie gebracht?
Dass es nicht reicht hinzuhören und Themen wie Klima- und Umweltschutz in Konferenzen zu bearbeiten und fleißig Gesetze zu machen. Wir müssen als Volkspartei auch den Ton treffen und in den Kanälen sein, über die wir alle erreichen. Es geht um Wahrnehmung und Kommunikation auf Augenhöhe. Rezo war eine harte Lektion. Aber wir lernen daraus und werden es besser machen.
Haben Sie Dylan als politischen Künstler wahrgenommen?
Ich sehe es so: Mit seinen Liedern und Texten hat Dylan einer Sehnsucht nach Aufbruch entsprochen, vor allem nach dem Aussprechen von Kritik. Aber es ist schwer, sich jetzt in diese Zeit zurückzuversetzen, in der seine Lieder entstanden sind und wirkten. Was war das doch damals für eine verkrustete, bleierne Zeit! Diese Starre in Deutschland, die das Schweigen über die Verbrechen aus der Nazi-Zeit hervorgerufen hatte. Und in den USA waren es Themen wie Rassismus, die Brutalität gegenüber Afroamerikanern, die Schranken zwischen gesellschaftlichen Gruppen, die viele Menschen aufbrachten. Das ist in dieser Dimension heute so nicht mehr nachvollziehbar. Bob Dylan hat meiner Generation geholfen, Kritik öffentlich auszusprechen, einfach mal durchzuatmen.
Jetzt reden Sie fast wie Joschka Fischer.
Ich!!??
Fischer ist auch ein großer Dylan-Fan. Er sagte uns mal, Dylan sei für seine politische Initiation zentral gewesen und habe ihm eine ganz andere Welt gezeigt als jene Enge im Schwäbischen, in der er aufgewachsen war.
Ja, das meinte ich mit Luftholen, durchatmen, die Lungen aufpumpen! Dieses Schweigen über die Vergangenheit, dieses Nicht-drüber-Reden zu überwinden.
Sehen Sie Dylan als linken Künstler?
Nein, aber ich sehe ihn als einen politischen Menschen. Na gut, ich würde ihn jetzt nicht als rechts bezeichnen. [Sie lacht.] Aber es geht bei Dylan nicht um die gängigen politischen Koordinaten. Es geht bei ihm um dieses Aussprechen, Aufbrechen, sich nach vorn bewegen, die Dinge auf den Punkt zu bringen – und dadurch zu provozieren. Er war nie Agitpropaganda. Er beherrscht die Kunst der Andeutung und der Zwischentöne im mehrfachen Sinne des Worts. Und deshalb könnten wir jetzt wahrscheinlich den ganzen Abend endlos über seine Lieder diskutieren. Weil er es einem so wunderbar schwer macht, sich schnell zu positionieren und sich dann abzuwenden. Ich finde, er hat sich den Kern des Kritischseins bewahrt, der ja darin besteht, seine Meinung ändern zu können, wenn sich die Wirklichkeit ändert.
Könnten Sie für uns folgenden Satz zu Ende führen: »Eine Welt ohne Bob Dylan wäre vorstellbar, aber …«
Hm, das ist schwer. Eine Welt ohne Bob Dylan wäre sehr viel ärmer, weil mir dann dieses Gefühl von Weite und Offenheit fehlen würde, dieser warme Wüstenwind, der über den Boden fegt, Büschel von Steppenläufern vor sich hertreibend. Ja, das würde mir sehr fehlen.