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Navid Kermani
Оглавление»Dylan ist ein leuchtender Teil jenes Amerikas, an das man glauben möchte.«
Der Schriftsteller Navid Kermani hat Bob Dylan zuletzt 2019 bei einem Konzert in Düsseldorf erlebt – noch nie hat er den mürrischen Sänger so oft auf der Bühne lachen gesehen. Ein Gespräch über die Schrullen des singenden Literaturnobelpreisträgers, Konzertbesuche mit seinen Töchtern und wie Neil Young ihm den Weg zu Dylans Gesamtwerk bereitet hat.
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Navid Kermani hat an diesem Abend seine beiden Töchter mit zu Bob Dylan genommen. Bei dessen Konzert in der Düsseldorfer Mitsubishi-Halle sitzen die drei zwar relativ weit vorne, aber weil sich Dylan oft hinter seinem Klavier verschanzt, sehen sie von ihren Plätzen aus nur seine seltsam erleuchtete Krähennestfrisur, die hinter dem Piano hervorragt. Es wird nicht die einzige Irritation bei diesem Konzert bleiben.
Kermani, als Sohn iranischer Eltern am 27. November 1967 in Siegen geboren, zählt heute zu den wichtigsten Intellektuellen Deutschlands. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2020 den Friedrich-Hölderlin-Preis. Kermani hat Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften studiert, veröffentlichte Bücher über den Koran wie Gott ist schön und autobiographisch geprägte Romane wie Dein Name. Darüber hinaus schrieb er Reportagen, legte beispielsweise 2015 die Flüchtlingsroute von der Türkei nach Budapest in umgekehrter Richtung zurück.
Das Werk Bob Dylans hat Kermani erst spät und über Umwege entdeckt – über seine Liebe zu Neil Young, den er 2002 mit einer philosophischen Erzählung (Das Buch der von Neil Young Getöteten) würdigte. Schon damals gab es da eine Verbindung von der Musik zu einer seiner Töchter: Die Musik Neil Youngs habe nicht nur seine an Koliken leidende neugeborene Tochter beruhigt, schreibt Kermani in dem Buch, sondern sie erzähle alles über das Leben, über das Werden und Vergehen, über das Paradies, die Vertreibung daraus und die Sehnsucht des Menschen nach Wiederkehr. Erst später entdeckte Kermani, dass Young seinerseits von Bob Dylan geprägt worden war. Es war der Beginn einer Spurensuche.
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Herr Kermani, ganz ehrlich, wie lange hat es gedauert, bis Sie auf dem Bob-Dylan-Konzert in Düsseldorf den Song »Like a Rolling Stone« erkannt haben?
Es war ja insgesamt so, dass viele seiner Lieder nicht leicht zu erkennen waren. Ich hatte meine beiden Töchter mitgenommen, sie sind 20 und zwölf Jahre alt. Die berühmten Dylan-Songs kannten sie zwar, aber in Düsseldorf haben sie Dylan zum ersten Mal auf der Bühne erlebt. Ab und zu musste ich sie dann schon mal anstupsen und sagen: »Jetzt spielt er gerade ›Like a Rolling Stone‹.« Erschwerend hinzu kam noch, dass er an dem Abend nicht so viele Klassiker spielte, sondern vor allem Songs aus seiner späteren Phase.
Haben sich Ihre Töchter später bei Ihnen beschwert?
Nein, aber unmittelbar danach waren sie schon leicht enttäuscht. Weil sie sich erhofft hatten, die Songs so zu hören, wie sie das von den Platten kannten. Meine jüngere Tochter hat mir erst am Tag nach dem Konzert gesagt, dass sie nur deshalb mitgekommen sei, weil sie im Fernsehen einen Musikwettbewerb für Schülerinnen und Schüler gesehen hatte, eine Castingshow oder so. Eine Schülerin hatte dort »Blowin’ in the Wind« gesungen. Als meine Tochter mir dann das YouTube-Video davon zeigte, war ich sehr überrascht – und auch beeindruckt, denn diese Version von »Blowin’ in the Wind« war ziemlich gut, mit vollem Pathos. Ich hätte nie vermutet, dass sie auf diese Art eine Verbindung zu Dylan hergestellt hatte.
Dumm nur, dass er dann gerade diesen Song auf dem Konzert ganz anders gespielt hatte. Und wenn man als sehr junge Zuhörerin das Alte, das Altbekannte, nicht wiedererkennt, kann das natürlich irritierend sein. Andererseits hatten sie das Glück, dass Dylan an diesem Abend für seine Verhältnisse unheimlich gut gelaunt war. Ich selbst hatte schon andere Konzerte von ihm erleben müssen, in denen er sich sehr muffig gab. Man weiß bei ihm ja nie, was einen erwartet. Noch nie zuvor hatte ich ihn so oft lachend gesehen wie jetzt in Düsseldorf – ins Publikum schauend, Kontakt aufnehmend, er schien es wirklich zu genießen. Das wiederum hat sich auch auf meine Töchter übertragen – auch das losgelöste Spiel dieser lässigen Band, die einfach großartig war, das haben sie schon gemerkt, und das hat sie ebenfalls beeindruckt: alte Herren zwar, aber verdammt cool.
Unmittelbar vor seinem Auftritt sorgte die Meldung, dass sich Mick Jagger einer Herzoperation unterziehen musste, weltweit für Schlagzeilen. Zum damaligen Zeitpunkt wusste man noch nicht genau, wie das ausgehen würde. In Gesprächen zwischen Zuschauern, aber auch in den späteren Rezensionen war eine gewisse Wehmut zu spüren, dass eben auch die Never Ending Tour eines Bob Dylan irgendwann enden wird.
Ja. Das war auch ein Grund, warum ich meine jüngere Tochter zu diesem Konzert mitnehmen wollte. Aus diesem Gefühl heraus: einmal Bob Dylan auf der Bühne zu erleben. Auch wenn sie das vielleicht unmittelbar danach nicht über die Maßen bewegt hat, wird sie sich vielleicht im hohen Alter, wenn sie 90 und hoffentlich immer noch gesund und glücklich ist, einmal an diesen Moment erinnern. So jedenfalls habe ich versucht ihr das schmackhaft zu machen – dass es nicht nur ein Konzert ist, sondern dass Bob Dylan gewissermaßen zum kulturellen Erbe der Menschheit gehört.
Gehen Sie gerne mit Ihren Kindern auf Rockkonzerte?
Die Jüngere steht nicht so sehr auf Rockmusik, die bekomme ich eher in die Philharmonie. Aber mit der älteren Tochter gehe ich auf jedes Neil-Young-Konzert, beim ersten Mal war sie kaum älter als fünf oder sechs – zum Glück war es solo und akustisch! Als sie ungefähr neun war, sind wir sogar nach Lyon gefahren, um Neil Young zu hören, da wurde es dann auch laut und metallen. Mein Freund Carl Hegemann, der ebenso bekloppt ist wie wir, flüsterte ihr unmittelbar vor Beginn zu: »Ich versprech dir, an dieses Konzert wirst du dich noch erinnern, wenn du steinalt bist. Das ist so, wie wenn heute jemand sagt, er habe noch Gustav Mahler beim Dirigieren erlebt oder eine Lesung mit Franz Kafka.« Nun hat sie sowohl Neil Young als auch Bob Dylan erlebt – da macht ihr in 70 Jahren niemand etwas vor!
Wie ging es Ihnen selbst in Düsseldorf?
Für mich gehörte es zu den besten Dylan-Konzerten. Ich habe auch schon welche erlebt, nach denen ich mich fragte, warum er überhaupt auf Tour geht, wenn er doch erkennbar keine Lust hat – wozu hat er das nötig? Aber sehen Sie, wenn ein Künstler mit seinen Alben, Büchern oder Gedichten etwas wirklich Großes geschaffen hat, etwas, das ins Herz dringt, in deine Seele hineinreicht, dann reicht mir das, um ihm sozusagen lebenslang Verehrung zuzubilligen. Dann nehme ich ihn auch schlecht gelaunt, und zwar mit Kusshand. Und deshalb finde ich diese Never Ending Tour, auf die er sich schon vor Ewigkeiten begeben hat, auch so wunderbar. Dass er uns allen zu sagen scheint: »So sieht es aus – mein Leben vergeht jetzt auf der Bühne, manchmal bin ich gut drauf und manchmal eher nicht.« Und dass er aus dieser Gleichgültigkeit uns gegenüber seinen eigentlichen Lebensmut zu beziehen scheint, immer weiter und weiter. Es gibt in Neil Youngs Song »Helpless« diese schöne Zeile: »All my changes were there«. Das ist für mich eine treffende Charakterisierung von Bob Dylan: dass er jetzt nicht einfach Tabula rasa macht, sondern alle seine Lebensschichten aufeinanderlegt. Am Ende ist irgendwie alles gegenwärtig, das Gesamtkunstwerk Bob Dylans, nichts wird geleugnet, aber es verändert sich eben auch immer weiter, alles ist im Fluss. Und dieses Gefühl hat er in »Like a Rolling Stone« schon sehr früh gut erfasst, auch wenn das jetzt banal klingen mag. Und das spürt man, auch wenn er den Song heute anders spielt – er steht nicht still.
Welches Dylan-Album hat Sie persönlich am meisten inspiriert?
Ich habe keine Hitparade mit Lieblingssongs von Dylan. Ich bin ja auch eher über Umwege zu ihm gekommen – und zwar, als ich im Alter von zehn, elf Jahren die Lebensentscheidung traf, dass ich von nun an Neil-Young-Fan sein würde. Ohne damals zu wissen, dass Neil Young und Bob Dylan sich gegenseitig verehrten – und zwar weit mehr, als das unter Rockmusikern üblich ist. Ich habe mich der Welt Bob Dylans also von Neil Youngs Seite aus allmählich genähert. Für mich waren die späteren Alben in den achtziger und neunziger Jahren wichtig, Alben wie Time Out of Mind – da dachte ich: »Oh, das klingt ja gar nicht so nostalgisch wie befürchtet, das ist nicht so schrecklich retro wie Pink Floyd oder die Rolling Stones. Das ist jetzt!« Ein Höhepunkt für mich war Modern Times aus dem Jahr 2006. Es hat eine unglaubliche Leichtigkeit. Im Grunde habe ich von diesem Album erst den Sprung zurück gemacht, mich sozusagen durch die ganze Werkbiographie von Dylan gehört. Als seine Alben in den frühen sechziger Jahren herauskamen, hatte ich das ja nicht selbst miterlebt. Ich hatte dazu nur ein historisches Wissen. Ein Schlüsselerlebnis war für mich in dem Zusammenhang Martin Scorseses Dylan-Dokumentation No Direction Home. Danach dachte ich: »Wenn die Bezeichnung ›Genie‹ überhaupt auf irgendjemanden zutrifft, dann wohl auf den jungen Bob Dylan.« Er hatte bereits mit 19, 20 Jahren eine unbändige Kraft, er hatte Größe und Tiefe in seinen Texten, und vor allem hatte er Charisma. Er war einzigartig.
Haben Sie sich gefreut, als er sehr spät in seinem Künstlerleben auch noch den Literaturnobelpreis bekam?
Dass er so unwirsch und schrullig reagiert hat, fand ich nicht so toll. Vielleicht hat es mit meiner Berufseitelkeit zu tun, dass ich so gekränkt war, wie verächtlich er unseren Stand behandelt hat. Da dachte ich schon für einen Moment: »Wir sind auch wer!« Andererseits: Ich freu mich über jede Auszeichnung, die Bob Dylan bekommt. Es ist nur schade, dass jemand anders sie deswegen nicht bekommen hat, der ebenfalls großartig ist und für dessen Leben der Nobelpreis eine ganz andere Bedeutung gehabt hätte. Mircea Cărtărescu zum Beispiel, der Rumäne – also da hätte ich mich schon noch mal ganz anders gefreut. Zumal Cărtărescu Dylan-Fan ist, das reicht doch.
Ist Bob Dylan für Sie in Zeiten wie diesen, in denen viele bei Amerika an ein nach den Trump-Jahren gespaltenes Land denken, eine Art beruhigendes Versprechen, dass das andere, das weltoffene, freiheitliche Amerika, dennoch fortbesteht?
Ich selbst brauche diese Vergewisserung nicht. Denn ich bin mit diesem anderen Amerika aufgewachsen. Es hat mich, meine Freunde und viele in meiner Generation und der Generation vor mir unglaublich viel gelehrt. Wir haben von Amerika Freiheit gelernt. Wir haben Mut gelernt. All die Protestbewegungen seit den sechziger Jahren, mit denen ich ja teilweise politisch sozialisiert worden bin, die Anti-AKW-Bewegung, die Friedensbewegung – das war doch Amerika, das uns inspiriert hat. Unsere eigenen Achtundsechziger waren ja viel zu verkopft.
Das war die amerikanische Musik, das waren die Lyrics auf den Plattencovern, die wir unbeholfen übersetzten, das waren die großen musikalischen Ikonen, die für eine bessere Welt eintraten, ohne dass es engagiert wirkte, ohne dass es in den Texten überhaupt um Politik gehen musste. Es war mehr ein Lebensgefühl, ein Traum von einer gerechten Welt. Dieses andere Amerika wird weiter bestehen, und es wird sich als das stärkere erweisen. Wobei ich jetzt nicht einfach sagen möchte, dass es ein dunkles Trump-Amerika und ein helles Dylan-Amerika gibt. Das wäre dann doch arg unterkomplex – und genau das sind Musik und Texte von Bob Dylan ja gerade nicht. Aber natürlich gibt es dieses Amerika, das die Welt inspiriert hat, auch weiterhin. Und dazu gehört Bob Dylan, mit seiner Musik und den damit verbundenen Bewegungen, auf die er sich von Anfang an bezogen hat, die Tradition der politischen Folksänger, und die er auf eine gewisse Weise immer noch verkörpert – auch wenn er selbst sich politisch heute selten äußert. Bob Dylan ist ein leuchtender Teil jenes Amerikas, an das man glauben möchte. An das man weiter glauben muss, gerade weil Teile des aktuellen Amerikas alles andere als leuchtend erscheinen.
Herr Kermani, zum Schluss möchten wir Sie bitten, folgenden Satz für uns zu Ende zu führen: »Eine Welt ohne Bob Dylan wäre vorstellbar, aber …«
Eine Welt ohne Bob Dylan wird es zum Glück nicht mehr geben, weil wir ja seine Platten haben. Wir können ihn immer hören.