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2.2 Faschistische Parteien: Mittel, Organisationstruktur, Ziele

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Am einfachsten zu beantworten ist diese Frage für die bevorzugten Mittel. Faschistische Parteien pflegen sich in einen politischen und einen paramilitärischen Flügel zu gliedern, die eng miteinander kooperieren; sie zeigen dergestalt ein Doppelgesicht, von dem je nach Bedarf die eine oder die andere Seite hervorgekehrt werden kann. Sowohl der PNF als auch die NSDAP haben sich an freien Wahlen beteiligt und im Rahmen der sogenannten Legalitätstaktik ihren Respekt vor dem staatlichen Gewaltmonopol bekundet. Sie haben zugleich mit den squadre d’azione und der SA Kampfbünde unterhalten, die über Waffen verfügten, Strafexpeditionen gegen den politischen Gegner unternahmen und dessen Infrastruktur zerstörten. In Italien bewegte sich der Anteil der Squadristen an der faschistischen Gesamtbewegung zwischen einem Drittel und der Hälfte, in absoluten Zahlen ausgedrückt zwischen 73 000 bis 110 000 Personen bei einem Gesamtbestand von 220 000 Mitgliedern (April 1922). In Deutschland zählte die SA wenige Wochen vor der Machtergreifung ca. 430 000 Mitglieder, während die Partei insgesamt 850 000 Mitglieder besaß. „Dieser Anteil der Miliz am Mitgliederbestand der Bewegung war ungewöhnlich hoch und wurde von keiner anderen politischen Gruppierung erreicht“110. Entsprechend hoch fiel die Gewaltbilanz aus. Für Italien weist die amtliche Gewaltstatistik im Jahr 1920 und im ersten Halbjahr 1921 nahezu 500 Tote und über 2000 Verletzte auf, für Preußen liegt sie 1931/32 bei 190 Toten und fast 10 000 Verletzten. Wägt man alles ab – den zahlenmäßigen Anteil der Kampfbünde an der Gesamtbewegung, die Rolle, die die Gewalt für das Image der Partei spielte, die Rückkoppelungseffekte, die die erfolgreiche Gewaltstrategie auf die Stimmenwerbung hatte –, dann wird man dem Urteil Sven Reichardts beistimmen müssen, daß es die Eigenschaft als Gewaltsamkeitsorganisation war, die den Faschismus von den meisten anderen Parteien unterschied. Mit Emilio Gentile kann man auch von einem partito milizia sprechen111.

Die Bedingung der Möglichkeit hierfür ist nicht schwer auszumachen. Unmittelbar nach 1918 war weder der italienische noch der deutsche Staat imstande, das von ihm bis dahin behauptete Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit durchzusetzen. Die italienische Regierung zeigte sich unfähig, die eskalierenden Sozialkonflikte unter Kontrolle zu bringen, die sich in Fabrik- und Landbesetzungen, also: permanenten Rechtsbrüchen, äußerten; ebenso ohnmächtig erschien sie gegenüber den Gewaltakten der Futuristen, etwa dem Überfall auf den Avanti im April 1919, oder den Desperados, die im September 1919 unter der Führung D’Annunzios Fiume eroberten und monatelang behaupteten112. In Deutschland entstanden im Gefolge der Novemberrevolution allenthalben Einwohnerwehren, Selbsthilfeorganisationen und Freikorps, deren gewaltförmige Aktivitäten von den staatlichen Autoritäten mangels Alternative lizensiert werden mußten113. Es war somit nicht erst und nicht nur der Faschismus, der die Gewalt zu einer Erscheinung des politischen Alltags machte. Wohl aber war er es, der sie zu einem typischen Mittel der Parteipolitik erhob, mit dem das staatliche Gewaltmonopol aktiv bestritten wurde. Auch wenn er sich darin mit den Kommunisten traf, die zu diesem Zeitpunkt in ähnlicher Weise Politik als Bürgerkriegspolitik verstanden, so war doch seine strukturelle Affinität hierzu wesentlich ausgeprägter. Kommunistische Parteien, die das Gewaltmonopol respektierten, sollten später eher die Regel als die Ausnahme sein. Für den Faschismus ist ähnliches nicht vorstellbar.

Ebenfalls noch im Bereich des Unkontroversen dürfte die Feststellung liegen, daß in der Organisationsstruktur charismatische Züge prävalieren. Das gilt für die Spitze, die plebiszitären Führer, denen schon die zeitgenössische Soziologie Charisma attestiert hat114, ohne dabei allerdings dem Umstand Rechnung zu tragen, daß in diesem Fall unter den Prämissen Max Webers nicht von Charisma schlechthin gesprochen werden sollte, sondern von derjenigen „Umdeutung“ des Charismas, wie sie für den Prozeß „aktiver Massendemokratisierung“ charakteristisch ist – eine Modifikation, die auch heute von der einschlägigen Forschung noch zu wenig beachtet zu werden pflegt. In diesem Prozeß erfährt das Charisma einen doppelten Wandel. Es unterliegt einer „antiautoritären Wendung“, in deren Gefolge die Anerkennung durch die Beherrschten, die beim genuinen Charisma „pflichtmäßig“ ist, zum Legitimitätsgrund wird. „Der kraft Eigencharisma legitime Herr wird dann zu einem Herrn von Gnaden der Beherrschten, den diese (formal) frei nach Belieben wählen und setzen, eventuell auch: absetzen“115. Diese Demokratisierung des Charisma ermöglicht zugleich, daß das Charisma selbst in gewisser Weise fungibel wird. Das Charisma, sagt Weber, kann entweder „eine schlechthin an dem Objekt oder der Person, die es nun einmal von Natur besitzt, haftende, durch nichts zu gewinnende, Gabe sein“, „und nur dann verdient es in vollem Sinn diesen Namen“. „Oder es kann und muß dem Objekt oder der Person durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft werden“116.

Die erste Form, das genuine Charisma, ist äußerst selten und historisch vor allem mit den großen Religionsstiftern, Propheten und Kriegshelden verbunden, die Weltreligionen oder Weltreiche geschaffen haben. Die zweite Form, das künstlich erzeugte Charisma, zeigt sich ebenfalls schon früh in allen Formen charismatischer Erziehung, um dann unter den Bedingungen der Moderne – der Existenz rationaler Betriebe im politischen, religiösen oder künstlerischen Feld – nach Bedarf generiert zu werden, und zwar zunehmend auch durch alltägliche Mittel, wie sie den modernen Massenmedien

zur Verfügung stehen117. Das erklärt den Aufstieg solcher Gestalten wie Mussolini oder Hitler, deren Biographie vor ihrem Eintritt in die Politik eher blaß und unterdurchschnittlich ist, erklärt den schmalen Zuschnitt ihres Fähigkeitsprofils, das Außergewöhnlichkeit lediglich in Dimensionen wie Redewut, Verstellungskunst und taktische Gerissenheit erkennen läßt, wirkliche Führungsqualitäten aber kaum aufweist118, erklärt schließlich auch die im Wege der Interaktion zwischen Führer, Gefolgschaft und Masse gestiftete Herstellung einer Vertrauensbeziehung, bei der emotional-affektive Momente eine ebenso große Rolle spielen wie die theatralische Selbstinszenierung, der Einsatz von Reklame und Propaganda, die dann im fascismo regime durch den staatlichen Zugriff auf Film, Rundfunk und Presse noch einmal gewaltig gesteigert werden119. „Man kann wahrscheinlich“, so hat es Adorno bereits 1936 sehr klar formuliert, „zu den tiefsten Einsichten in die Struktur des Faszismus gelangen durchs Studium der Reklame, die in ihm erstmals ins politische Zentrum – oder besser in den politischen Vordergrund – tritt und deren ökonomische Voraussetzungen wahrscheinlich wieder mit denen des Faszismus korrespondieren“120. Ähnliches gilt, mutatis mutandis, für die Replikationen der Spitze auf mittlerer Ebene, die Gauleiter in Deutschland und die ras und rassini in Italien und selbst für die Ortsgruppen, deren Leistungsstärke mit der Person und dem Engagement des Ortsgruppenleiters zusammenhing121. Für beide faschistischen Parteien läßt sich generell festhalten, daß sie in der für charismatische Organisationen typischen Weise in hohem Maße auf emotionaler Vergemeinschaftung beruhten, auf dem Wunsch und der Hoffnung, in neue Sozialbeziehungen unabhängig von den als anonym und „volksfremd“ empfundenen bürokratischen Strukturen einzutreten, wie sie in den etablierten Parteien und in der Verwaltung vorherrschten. Die im März 1919 von Mussolini ins Leben gerufenen Fasci di combattimento definierten sich zunächst geradezu als antipartito, worin sich nicht nur ein Affekt gegen das parlamentarische System, sondern gegen das Prinzip formaler Organisation schlechthin artikulierte; und selbst als dieser Affekt dann im Zuge des Massenzustroms zum Faschismus seine unvermeidliche Zähmung erlebte und die Bewegung sich endlich ihre eigenen Statuten gab, machte sie dies doch noch lange nicht zur „Maschine“ im Weberschen Sinn. Bis weit in die Ära des fascismo regime stellte der Partito nazionale fascista, nach dem Urteil Wolfgang Schieders, „keine organisatorische Einheit dar“, sondern vielmehr einen „lockeren Verband personenorientierter Machtgruppen, die umeinander um die Vorherrschaft in der Bewegung rangen“. Erst nach der Matteotti-Krise wurde der PNF vom neuen Generalsekretär Farinacci einer hierarchischen Zentralisierung unterzogen und unter den folgenden Generalsekretären Turati und Starace in eine „bürokratische Massenorganisation von Karrieristen und angepaßten Mitläufern (verwandelt), die nicht vorrangig politisch motiviert waren“122.

In der NSDAP, die keine derart lange Anlaufzeit hatte und von Anfang an über ein gewisses bürokratisches Grundgerüst verfügte123, war die strukturprägende Kraft des Charismas deswegen doch nicht geringer. Das läßt sich schlagend anhand des Schicksals der Parteireformen belegen, mit denen Gregor Straßer ab 1928 den Wandel von der Kader- zur Massenpartei zu bewältigen versuchte. Straßer verpflichtete die nachgeordneten Parteibehörden, bei Eingaben an die Zentrale den Dienstweg einzuhalten, führte ein vertikales Kontrollsystem in Form von Reichs- und Landesinspektionen ein, die die Macht der regionalen Parteifürsten beschnitten, und installierte eine neue Organisationsabteilung, die die Machtübernahme generalstabsmäßig vorbereiten sollte, u.a. durch eine Heranziehung qualifizierter Fachleute, die später Regierungsfunktionen ausüben sollten. Mittels regelmäßiger Gauleiter- und Sondertagungen hoffte er darüber hinaus, eine längerfristige Koordination herzustellen und auf diese Weise dem „okkasionellen“ Lenkungsstil Hitlers entgegenzuwirken. Seine Neuerungen überdauerten indes das Jahr 1932 nicht. Kaum hatte Straßer den Machtkampf mit Hitler verloren, wurden die Reichsinspektionen abgeschafft und die Gauleiter wieder zu führerimmediaten Instanzen. Zwar wurde zur Koordinierung der Führung eine Politische Zentralkommission eingerichtet, jedoch wurde diese durch ihre Unterstellung unter Rudolf Heß de facto zur Einflußlosigkeit verurteilt. „Damit war nicht nur die von Strasser angestrebte straffe Zusammenfassung des Parteiapparats, sondern auch eine konstruktive politische Planungsarbeit unmöglich geworden. Die NSDAP zerfiel fortan in zweiunddreißig kompartimentalisierte Gauverbände. Die Reichsleitung der Partei existierte nurmehr als nominelle Körperschaft“124.

Auch die Kampfbünde waren entgegen der ersten Vermutung weit mehr vom Charisma geprägt als von bürokratischer oder militärischer Disziplin. Die Squadren waren Einheiten von flexibler Größe, die den örtlichen Gegebenheiten angepaßt und eng mit der Lebenswelt ihrer Mitglieder verbunden waren. Ihre Organisation war zellulär, nicht pyramidal; ihr Zusammenhalt beruhte auf persönlich-affektiven Beziehungen und glich mehr einer street corner society oder einer Gang als einer Armeeeinheit. Die Führer wurden oft per acclamationem gewählt und waren keine Kopie des Offiziers; bei ihren Gewaltunternehmungen besaßen sie nicht selten freie Hand und nutzten ihre Stellung, um klientelistische Netzwerke aufzubauen. „Aus der Wahl der Squadrenführer ergab sich ihre Doppelstellung zwischen Kamerad und Vorgesetzten. So entstand eine gewisse Spannung zwischen Gehorsam und halbdemokratischer Ernennung, die nur durch Solidaritätsbande gekittet werden konnte. Dies stellte zugleich eine Stärke und Schwäche der Squadren dar, denn deren Begründung auf dem Ethos der Treue ermöglichte zwar einerseits eine umfassende Einbindung der Mitglieder, war aber andererseits höchst fragil, da die nicht auf rationalen Interessen begründete Hierarchie beständig durch charismatische Führung gefestigt werden mußte“125.

Bei der SA ist die Sachlage etwas verwickelter. Hitlers ursprüngliche Konzeption, auf die er immer wieder zurückkam, war die eines „Terrorinstruments“, einer „demagogischen Provokations- und Einschüchterungsgarde, etwa analog den amerikanischen Gewerkschafts- und Wahlracketts“, die schon deswegen keine militärische Struktur haben konnte, weil es sich nur um einen Freiwilligenverband ohne Disziplinarstrafgewalt handelte. Diese Konzeption wurde jedoch ab 1921 durch das Einströmen zahlreicher Mitglieder der Wehrverbände durchkreuzt, die aus der SA eine Bürgerkriegsarmee machen wollten, mit eigener Kommandostruktur und Unabhängigkeit gegenüber der Politischen Organisation, wie dies am schlagendsten in den Vorstellungen Ernst Röhms über den Primat des Soldaten vor dem Politiker zum Ausdruck kam. Nach dem Ausscheiden Röhms 1925 versuchte es Franz Pfeffer von Salomon mit einer Kompromißlösung. Die von ihm eingeführte „Hierarchie von bandenähnlichen Kampfgemeinschaften“ (Wolfgang Sauer) sollte sowohl den von Hitler wie von der Basis präferierten „bündischen“ Organisationsformen Rechnung tragen als auch den Zwängen, die sich aus dem Massenzulauf ergaben. Mit der Rückkehr Röhms an die Spitze der SA schlug dann zwar das Pendel wieder mehr in Richtung des Armeekonzepts aus, doch konnten die organisatorischen Neuerungen das wesentlich personalistische Führer-Gefolgschafts-Muster nicht verdrängen. Die SA blieb bis zu ihrer Enthauptung im Sommer 1934 durch eine eigentümliche Mischung aus bündischen und militärischen Elementen gekennzeichnet, die vom Charisma als dem eigentlichen Band zusammengehalten wurden126.

Typisch für eine derartige Strukturform sind endlich auch die vielfältigen Bemühungen, das Charisma durch die Installierung spezifischer Sonderinstitutionen wachzuhalten und vor der Routinisierung zu bewahren. Dazu gehört zum einen die Schaffung räumlich abgetrennter und von der Öffentlichkeit abgeschirmter Lebensformen, wie sie in Deutschland beispielsweise mit den Einrichtungen der SS gegeben waren; zum andern, als eine Art Äquivalent in der Zeitdimension, das Fest als Vergegenwärtigung des ursprünglichen charismatischen Glutkerns in einer wie immer auch gelenkten und inszenierten kollektiven Ekstase, die oft unter dem Stichwort „Ästhetisierung“ oder „Sakralisierung der Politik“ beschrieben wird und die tatsächlich auch dazu tendiert, zunächst innerhalb der faschistischen Partei, später auch im faschistischen Regime die Leerstelle zu füllen, an der normalerweise politische Beziehungen zu bestehen pflegen. Von daher die eminente Bedeutung des „Liturgietransfers“ aus der Kirche sowie aus der Oper des späten 19.Jahrhunderts (Verdi, Wagner), die große Rolle der Stimmungsarchitektur und der Erinnerungskulte, der genau kalkulierte Einsatz des Führers als der den Ursprungsmythos verkörpernden Person, die allesamt nur der einen Aufgabe dienen: der stets erneuten Zelebrierung der „Erlebnisgemeinschaft“ und der nur in ihr möglichen charismatischen Gnadenspendung127.

Mit der Frage nach den Zielen betritt man die Zone der Kontroversen. Wenn ich recht sehe, hat die Forschung jene Theorien der Massengesellschaft nicht bestätigt, die den Faschismus als das Ergebnis einer Entstrukturierung des sozialen Raums deuten, eines „Untergangs der Klassengesellschaft“ (Arendt), der zu sozialer Atomisierung und politischer Mobilisierung der Entwurzelten geführt und in einer allgemeinen Irrationalisierung des politischen Verhaltens seinen Ausdruck gefunden habe128. Ganz im Gegenteil bildet der Faschismus die für sich genommen durchaus rationalen Interessen benennbarer Gruppen ab, die im Rahmen eines rational choice-Ansatzes, wie ihn etwa William Brustein vertritt, durchaus erfaßbar sind129. In Italien weisen alle Statistiken einen so hohen Anteil von Angestellten, Handwerkern, Kleinbauern und Studenten an den fasci auf, daß die Forschung von Salvatorelli über De Felice, Santarelli und Vivarelli bis hin zu Emilio Gentile den Faschismus immer wieder als eine Bewegung der ceti medi eingestuft hat130. Auch die NSDAP verdankt ihren Aufstieg zur Massenpartei nicht zuletzt ihrer Fähigkeit, ständische, vor allem: berufsständische Interessen aufzugreifen. In ihrer Frühphase überwiegend eine Partei des alten städtischen Mittelstands, wurde sie ab 1930 und mehr noch ab 1932 zur Interessenvertretung des alten ländlichen Mittelstands – in den kleinen Bauerndörfern des protestantischen Deutschlands mit relativ homogener Sozialstruktur in einem Ausmaß, daß man schon von einem Vertretungsmonopol sprechen kann131.

Dieser auf den ersten Blick so eindeutige Befund zerfällt jedoch bei näherem Zusehen rasch.

In Italien erlebten die fasci nach ihrer Wahlniederlage vom November 1919 einen starken Rückgang, der sich mit dem politischen Kurswechsel der folgenden Monate noch verstärkte. Die Faschisten der ersten Stunde – vielfach ehemalige Kombattanten, die im Linksnationalismus und/oder internationalen Sozialismus der Vorkriegszeit ihre politische Sozialisation erfahren hatten – verließen in Scharen ihre Verbände und wurden bald darauf durch sehr viel Jüngere ersetzt, die ohne jede politische und moralische Vorbereitung in den Krieg gegangen waren; zugleich verlagerte die Bewegung ihren Schwerpunkt von den Städten auf das Land132. Die verbreitete Ansicht jedoch, daß diese neuen fasci sich als „weiße Garde“ (De Felice) den vom Sozialismus bedrohten und deshalb zur Konterrevolution entschlossenen Grundbesitzern, der borghesia conservatrice e reazionaria, angedient hätten133, übergeht mindestens zwei wichtige Fakten: das Faktum, daß es sich bei den Agrariern, die in der Tat die neuen fasci mit erheblichen Mitteln unterstützten, um die fortgeschrittensten Gruppen des Agrarkapitalismus handelte, die auf eine entschiedene Modernisierung und Rationalisierung der Landwirtschaft hinarbeiteten134; und das Faktum, daß die den fasci seit Herbst 1920 zuströmenden Massen in sozialer Hinsicht durchaus heterogen waren und außer aus Kleinbauern auch aus Halbpächtern und Landarbeitern bestanden. Deren Engagement war durchaus nicht primär durch das rein reaktive Ziel einer Niederwerfung des Sozialismus bestimmt, dem sie übrigens in den vorangegangenen Wahlen häufig ihre Stimme gegeben hatten, sondern durch das „proaktive“ Ziel des sozialen Aufstiegs durch den Erwerb von Land und die Begründung einer selbständigen Existenz als Eigentümer, wie sie von keiner anderen politischen Gruppierung so nachdrücklich auf die Agenda gesetzt wurde wie von den Faschisten135. In der Provinz Ferrara strömten die Landarbeiter zu Zehntausenden in die faschistischen sindacati autonomi, und dies keineswegs unter Zwang, sondern aus Begeisterung für ein Programm, das die Schaffung einer piccola borghesia rurale in Aussicht stellte und jedem soviel Land versprach, wie er bearbeiten konnte136. „Wir wollen“, beschrieb Dino Grandi im Juni 1921 im Bologneser L’Assalto den angestrebten Fahrstuhleffekt, „den Tagelöhner zum Halbpächter, den Halbpächter zum Pächter und zuletzt den Pächter zum kleinen Grundbesitzer machen. Dieses Programm wird zur Eliminierung der Tagelöhner führen, die das soziale Unglück des Landes sind, es wird zum Sparen ermutigen und den landwirtschaftlichen Arbeiter sittlich heben (…) Der Faschismus wird bestrebt sein, den kleinen privaten Grundbesitzer zu begünstigen (und) wird Kontrakte und Pachtformen auf der Basis des geteilten Profits einführen“137. Ein politischer Verband, der ein derart breites Spektrum an sozialen und wirtschaftlichen Interessen repräsentierte, läßt sich nicht als Klassen- oder Standespartei charakterisieren.

Auch die NSDAP war keine typische Klassen- oder Standespartei. Sie war es subjektiv nicht, weil sie stets dezidiert den Anspruch zurückwies, eine bloße Berufsstandspartei zu sein, und statt dessen ihren Charakter als Volksgemeinschaftspartei herausstrich, die sich die Überwindung von Klassenschranken und Standesdünkel zur Aufgabe gemacht habe138. Und sie war es objektiv nicht, weil sie dafür teils zuviel, teils zuwenig war. Für eine Mittelstandspartei sprach sie entschieden zuviele berufsständische Interessen des „Arbeitertums“ an und zog auch zuviele Arbeiter an, sowohl als Parteimitglieder als auch als Wähler. Der Arbeiteranteil betrug zwischen 1925 und 1933 immerhin 40%, in der SA entsprach er sogar dem Bevölkerungsschnitt. Für 1933 hat Jürgen Falter den Anteil von Arbeiterstimmen auf ebenfalls 40% veranschlagt139. Allerdings war die Zustimmung branchenspezifisch unterschiedlich verteilt. Das nationalsozialistische Wirtschaftsprogramm sprach vornehmlich Arbeiter der für den Binnenmarkt produzierenden Industrien an (Textil, Nahrungsmittel, Holzverarbeitung, Baugewerbe, Bergwerke), weit weniger hingegen die Produzenten in den exportorientierten Industrien140. Ähnlich ungleich war die Unterstützung in den Mittelschichten. Im alten Mittelstand waren Viehzüchter empfänglicher als Getreideproduzenten, protestantische Viehzüchter empfänglicher als katholische141. Der neue Mittelstand dagegen, die Angestellten und Beamten, war zwar in der Parteimitgliedschaft überrepräsentiert, legte aber bei den Wahlen keine überproportionale Affinität zur NSDAP an den Tag, setzte vielmehr sogar deren Aufstieg eine gewisse Grenze142. Auch die Oberschicht war in der Partei deutlich überrepräsentiert143. Weder mit Blick auf die soziale Ordnung, in der nach Weber die Stände beheimatet sind, noch mit Blick auf die Wirtschaftsordnung, in der die Klassen ihre Basis haben, läßt sich deshalb eine eindeutige Verortung der NSDAP vornehmen, was Jürgen Falter zu dem bekannten Resümee veranlaßt hat, daß die NSDAP mehr als jede andere Partei der Weimarer Republik Volksparteicharakter trug144. Die Formel vom „Extremismus der Mitte“ (Lipset) mag für eine wie immer auch beachtliche Teilmenge des Faschismus gelten; für einen generellen Faschismusbegriff kann sie nicht herangezogen werden145. Von ihr haben sich inzwischen auch diejenigen Parteihistoriker abgekehrt, die sie noch vor zwei Jahrzehnten als selbstverständlich ansahen146.

Was die weltanschauliche Seite betrifft, so wird sie in den folgenden Kapiteln Gegenstand ausführlicher Erörterungen sein. Vorgreifend aber soll schon an dieser Stelle gesagt werden, daß eine Deutung des Faschismus als Weltanschauungspartei an der gleichen Pluralität und Heterogenität scheitert wie eine Deutung als Klassen- oder Ständepartei. Das gilt für die Unterschiede zwischen italienischem und deutschem Faschismus, die keineswegs nur, wie die Gegner eines „generischen“ Faschismusbegriffs meinen, an Punkten wie Antisemitismus und Rassenlehre festzumachen sind147, sondern die Stellung zur Modernität insgesamt betreffen: in Italien fehlt ein Äquivalent für den „intermediären“, „völkischen“ Nationalismus, der in Deutschland die Frühgeschichte der NSDAP stark geprägt hat. Es gilt aber nicht minder für die internen Differenzen innerhalb beider Faschismen. Der Nationalsozialismus pflegte solche zwar strikt zu leugnen, doch haben neuere Analysen nachgewiesen, wie sehr sich „‘die’ nationalsozialistische Weltanschauung bei genauerem Zusehen in ein Bündel verschiedenartigster Leitvorstellungen ausdifferenzierte“. Der polykratischen Praxis des Regimes entsprach ein Polyzentrismus auf der Ebene der Ideen, die „nicht nur in einzelnen Nuancen oder Schattierungen voneinander ab(wichen)“, vielmehr in zahlreichen ideologischen Grundfragen divergierten, „bis hin zur partiellen Inkommensurabilität bestimmter Planungen und Positionen“148. Es ist deshalb keineswegs übertrieben, wenn Hans Mommsen die nationalsozialistische Ideologie als „propagandistische Simulation“ bezeichnet149.

In Italien wurde die interne Heterogenität von führenden Repräsentanten des Regimes offen zugegeben. Kein Geringerer als Mussolinis Justizminister, Alfredo Rocco, führte im März 1926 in einer Rede aus, der Faschismus sei nicht nur für Ausländer, sondern auch für viele Italiener schwer zu verstehen gewesen, habe es doch den Anschein gehabt, als existierten im Schoße des Faschismus selbst verschiedene und gegensätzliche Ideologien: „das Prinzip der Autorität neben den populären Tendenzen; der Schutz des Eigentums und der Produktion neben dem Syndikalismus; die Tendenz zur Wiederherstellung der Freiheit der Privatinitiative im ökonomischen Feld neben der Bekräftigung des rigidesten Staatsinterventionismus“150. Kurz zuvor hatte Robert Michels, seit dem Jahr des Marsches auf Rom selbst Mitglied des PNF, seine Partei als eine „zusammengewürfelte Massenpartei“ bezeichnet, deren „synthetische oder, wenn man will, eklektische Note“ in die Augen springe; der Futurist Volt machte gar im fascismo regime nicht weniger als fünf „Seelen“ aus: Malaparte und die nationalen Republikaner, die revolutionären Syndikalisten, die ehemaligen Nationalisten und die Gruppe um Bottai, die Zeitschrift L’impero und die letzten Epigonen des Revisionismus151.

Gewiß waren alle diese Strömungen nicht völlig heterogen. Sie besaßen gewisse gemeinsame Bezugspunkte – in Deutschland etwa den gegen Versailles gerichteten militanten Revisionismus, in Italien die auf das Risorgimento zurückgehende nationaldemokratische Tradition, auf die sich sowohl die nationalsyndikalistischen Elemente des Mailänder und Bologneser Faschismus als auch die dannunzianischen Syndikalisten, die Futuristen und selbst die imperialistischen Nationalisten verständigen konnten152. Aber erstens reichten diese Gemeinsamkeiten jeweils nur bis zu einem bestimmten Punkt, und zweitens sind sie zu spezifisch, um den Kern einer allgemeinfaschistischen Weltanschauung abzugeben. Nimmt man hinzu, daß noch nicht einmal die Zuordnung zur Rechten durchgängig gegeben ist – die Fasci di combattimento von 1919 sind im politischen Feld näher zum linken Pol als zum rechten –, so verbietet es sich, die Einheit des Faschismus auf ideologischer Ebene zu suchen. Das entspricht im übrigen auch der charismatischen Struktur der Organisation, stellt diese doch eher auf personalistische als auf sachliche Momente ab. Für die antiautoritäre Umdeutung des Charisma gilt nicht weniger als für dessen originäre Variante, was Claude Lévi-Strauss einmal mit Blick auf das mana, das Äquivalent für Charisma in Ozeanien, festgestellt hat: daß Begriffe dieses Typs die Eigenschaft haben, „einen seiner Bedeutung nach unbestimmten Wert zu repräsentieren, der in sich selber sinnleer und deswegen geeignet ist, jeden beliebigen Sinn anzunehmen“; und daß es genau diese „flottierenden Signifikanten“ sind, die die „Tätigkeit des symbolischen Denkens trotz des ihm eigenen Widerspruchs“ ermöglichen153. Ähnliches haben kluge zeitgenössische Beobachter über das Charisma des faschistischen Führers gesagt. Albert Krebs, Mitte der 20er Jahre kurzzeitig Gauleiter von Hamburg, hat das Geheimnis von Hitlers Erfolg sehr treffend in dessen Fähigkeit erkannt, sich zur Projektionsleinwand für die unterschiedlichsten Wünsche zu machen. „Freidenker hielten Hitler für ihren Verbündeten im Kampf gegen Pfaffenherrschaft und Volksverdummung durch Religion; Alt-Lutheraner begrüßten ihn als Vollender der Reformation, konservative Menschen, ja selbst katholische Geistliche hofften auf ihn als den Überwinder eines rationalistischen und materialistischen Zeitalters“154. Parteien, die derart widersprüchliche Erwartungen bündeln, sind Parteien mit Weltanschauungen, aber keine Weltanschauungs-Parteien, wenn man darunter eine Partei mit einer einzigen, handlungsleitenden Weltanschauung versteht155.

Keine Stände- oder Klassenpartei also, und keine Weltanschauungspartei. Bleibt der dritte von Weber angebotene Typus, derjenige der Patronagepartei, der durch das „eigene (ideelle und materielle) Interesse“ der Führer und ihres Stabes „an Macht, Amtsstellungen und Versorgung“ bestimmt ist und eine Wahrnehmung von Interessen der Wählerschaft nur soweit impliziert, „als ohne Gefährdung der Wahlchancen unvermeidlich ist“156. Für diesen Typus spricht in der Tat vieles. Mit Blick auf Italien hat Wolfgang Schieder auf die bereits erwähnten Ras verwiesen und deren Position mit der Existenz eines mehr oder weniger ausgebildeten Patronagesystems in Verbindung gebracht. Auch für Deutschland gilt, daß die militärische Struktur häufig nur eine Fassade war, hinter der sich mafiaähnliche klientelistische Netzwerke verbargen, bei denen die lokalen Führer ihren Männern Zugang zu Ressourcen – Geld, Stellen, Beziehungen, Karrieren etc. – eröffneten und dafür im Gegenzug Gefolgschaft erhielten157 . Voraussetzung dafür war in beiden Fällen, daß die Führer ihrerseits Tauschbeziehungen zu externen Interessenten unterhielten, die bereit waren, bestimmte Leistungen, allen voran: terroristische Gewaltausübung, entsprechend zu honorieren und damit überhaupt erst ein Patronagepotential zu schaffen – in Italien am stärksten vor der Machtübernahme, in Gestalt sowohl von finanziellen Subsidien seitens der Agrarverbände als auch von Land, das zu günstigen Konditionen verpachtet wurde158, in Deutschland vermehrt erst in der Regimephase, die eine derart umfassende Appropriation öffentlicher Mittel und Stellen sah, daß Noltes Wort vom „Radikalfaschismus“ in dieser Hinsicht voll gerechtfertigt ist. Blieb in Italien der Zugriff der Partei auf die staatliche Verwaltung, die Polizei und die Armee relativ begrenzt, so rückten in Deutschland schon bald nach der Machtübernahme die unteren Chargen der NSDAP in die Positionen der Bürgermeister und örtlichen Polizeichefs ein, die mittleren in die Ämter der Kreisdirektoren und Präsidenten, die oberen in die Ministerien, Aufsichtsräte und Verbandsleitungen. Die staatlichen Behörden, aber auch die privaten Unternehmen, delegierten die Personaleinstellung faktisch an die Führer der NS-Gliederungen, die bei der Besetzung einem unverfrorenen Nepotismus huldigten; die städtischen Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke, die Nahverkehrsunternehmen und Ortskrankenkassen entwickelten sich zu regelrechten nationalsozialistischen Beschäftigungsgesellschaften, die – mitten in der Massenarbeitslosigkeit – soviele Parteimitglieder einstellten, daß sie am Rande des finanziellen Ruins lavierten. Die Haushalte der Städte und Gemeinden, der Länder und des Reichs wurden zu Selbstbedienungsläden der Parteiführung, die sich aus öffentlichen Mitteln, Spenden potenter Geldgeber und nicht zuletzt auch schlicht geraubten Gütern Sonderfonds zulegten, aus denen sie ihren jeweiligen Anhang versorgten. Verglichen mit diesem nachgerade mafiosen Patronagesystem zeigte das Ursprungsland der Mafia preußische Züge159.

Es ist richtig: für sich genommen ist der Begriff der Patronagepartei zu allgemein, um für Faschismusanalysen verwendbar zu sein. Mit ihm fängt man ein Spektrum ein, das so heterogene Gebilde wie die beiden großen amerikanischen Parteien des 19. und frühen 20.Jahrhunderts, das deutsche Zentrum oder die italienische Democrazia Cristiana umfaßt160. Diesem Mißstand läßt sich jedoch begegnen, wenn man den Begriff der Patronagepartei durch die Kombination mit den Merkmalen der anderen Typologien spezifiziert, die sich in Max Webers Parteisoziologie finden. Faschistische Parteien wären danach organisatorisch gesehen Mischungen aus charismatischer und rationalbürokratischer Herrschaft mit strukturbestimmender Dominanz des Charismas, was weder auf die amerikanischen Parteien noch auf das Zentrum oder die DC zutrifft, freilich immer noch auf die sogenannten Bewegungsparteien im Stil von Berlusconis Forza Italia161. Sie sind weiterhin charakterisiert als Gewaltsamkeitsorganisationen, was sie vollends von allen das staatliche Gewaltmonopol respektierenden, formal-legalen Parteien unterscheidet. Mit der Ausrichtung auf das Mittel der Gewalt wiederum hängt, wie ebenfalls gezeigt, eine so starke Akzentuierung affektueller, emotionaler Momente zusammen, daß der Zweck des Zusammenschlusses immer wieder überlagert werden kann. Faschistische Parteien stellen also auch insofern Grenzfälle dar, als in ihnen die für den Begriff der Partei essentielle Bestimmung der „Vergesellschaftung“ einer Überformung durch „Vergemeinschaftung“ unterliegt, über deren spezifisches Gewicht nur die empirische Forschung entscheiden kann.

Nationalismus und Faschismus

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