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1.1 Der „Nationalismus der Nationalisten“
ОглавлениеEs gehört zu den eigentümlichen Paradoxien der Begriffsgeschichte, daß in der „Sattelzeit des modernen Nationalismus“ (Ute Planert) – dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19.Jahrhundert – von „Nationalismus“ nur selten die Rede ist. Das Wort taucht stets nur vereinzelt und punktuell auf, ohne eine feste Bedeutung zu attrahieren, und gerät danach für längere Zeit nahezu außer Gebrauch. „Im Unterschied zum Konstitutionalismus, Liberalismus, Demokratismus, Sozialismus oder Kommunismus gab es im rückblickend sogenannten ‘Zeitalter des Nationalismus’ keine explizit darauf bezogene Theorie“7.
Einen zentralen Platz im politischen Diskurs scheint der Begriff erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts einzunehmen. Wichtige Belege hierfür finden sich in den Schriften von Maurice Barrès, der 1892 mit einem Artikel im Figaro den Nationalismus gegen den Kosmopolitismus verteidigt und in den folgenden Jahren zu einer Doktrin ausbaut. „Le nationalisme“, lautet eine der prägnanten Formeln, „c’est de résoudre chaque question par rapport à la France“8. La France wiederum ist eine Einheit, die einerseits schon besteht und nur angenommen werden muß – „nationalisme est acceptation d’un déterminisme“9 –, andererseits aber erst herzustellen ist: durch eine bewußte Wiederverwurzelung der Entwurzelten, durch sozialen bzw. staatlichen Schutz, insbesondere der Arbeit, durch Exklusion und möglicherweise Vertreibung aller Nichtdazugehörenden – der Fremden, der Juden, der Freimaurer –, sowie durch die kollektive Verehrung der France éternelle. Das ist, trotz mancher Unterschiede im einzelnen, etwa der Stellung gegenüber der Monarchie, auch die Position des nationalisme intégral, wie ihn Charles Maurras für die Action française formuliert. Nationalismus in diesem Sinne ist „la religion de la déesse France“, die unbedingte Verpflichtung auf den salut public als einen alles, nicht zuletzt auch die Volkssouveränität überragenden Wert10. Mit Barrès und Maurras, so Girardet, habe der Nationalismus ein Denksystem entworfen, welches sich wesentlich auf den Primat der Verteidigung „nationaler“ Werte und „nationaler“ Interessen gründe. Vom einfachen Patriotismus unterschieden durch die Betonung des nationalen Wertes gegenüber allen anderen Werten, sei der Nationalismus im Kern dies: „die vorrangige Sorge um die Bewahrung der Unabhängigkeit, die Aufrechterhaltung der Integrität und die Bekräftigung der Größe (grandeur) dieses Nationalstaates“11.
Im Sinne einer derart positiv verstandenen Selbstbezeichnung begegnet „Nationalismus“ auch in Italien erst relativ spät. Superioritätsansprüche, die im Rückblick nicht anders als nationalistisch qualifiziert werden können, finden sich zwar schon im neoguelfischen Schrifttum, etwa in Vincenzo Giobertis Del primato morale e civile degli italiani (1843), und natürlich in der von Mazzini geführten scuola democratica, die für Italien den apostolato popolare reklamierte; doch blieben die Neoguelfen noch weitgehend im Horizont religiöser Denkmuster, wenn sie Italiens Mission in der Überwindung des Säkularisierungsprozesses sahen, während Mazzini wohl auf den modernen Fortschritt setzte, zugleich aber „Nationalismus“ stets nur im pejorativen Sinne verwendete, als Synonym für Chauvinismus und Imperialismus12. Erst um die Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert wandelte sich der Sprachgebrauch in Richtung einer positiven Besetzung, die im Nationalismus die logische Konsequenz des Risorgimento sah13. In einer programmatischen Schrift, die kurz nach der Gründung der Associazione Nazionalista Italiana erschien, grenzte Luigi Valli den Patriotismus als bloßes Gefühl vom Nationalismus ab, der ein „Komplex von Prinzipien und Plänen“ sei14. Die vage und träge Liebe zum Vaterland reiche nicht aus, vielmehr bedürfe es einer klaren und bewußten Erkenntnis der Interessen der Nation, die über alle anderen Interessen zu stellen seien15, nicht nur über diejenigen innerhalb des Landes, sondern auch und vor allem über diejenigen aller anderen Nationen. Daraus ergab sich nach innen ein Programm der rigorosen Nationalisierung der Nation, vor allem über das Medium der Schule, nach außen aber eine Politik der Expansion, die ungleich massiver vorgetragen wurde als etwa in der Action française:
„Der glückliche und triumphierende Nationalismus kann nicht anders, als Imperialismus zu werden. Ist einmal das Prinzip der Konkurrenz bis zum äußersten und des Kampfes zwischen den Nationen praktisch akzeptiert, so muß es zuerst die Nation antreiben, mit den anderen in jeder Auseinandersetzung gleichzuziehen – und dies ist Nationalismus –, und ihnen dann ihren Willen, ihre Zivilisation, ihre Kultur aufzuerlegen, und dies ist Imperialismus. Der Imperialismus ist daher ein zweites Moment in der Verwirklichung des Nationalismus, und das eine hebt das andere durchaus nicht auf, wenngleich es unter den gegenwärtigen Bedingungen Italiens (…) angemessen erscheint, jetzt nur vom Nationalismus zu reden, welcher das Minimalprogramm repräsentiert, gegenüber dem Maximalprogramm des Imperialismus“16.
Auch in Deutschland finden sich Manifestationen eines „nationalistischen“ Superioritätsanspruchs, verbunden mit Kriegsverherrlichung und Xenophobie, schon früh – nicht erst in der Epoche der Befreiungskriege, wie man lange angenommen hat, sondern bereits während des Spätabsolutismus17. Zu einem expliziten „Nationalismus“ aber bekennen sich nur wenige wie Herder und Arndt, und dies auch nur mit so vielen Kautelen, daß man zögert, sie als Nationalisten anzusprechen.18 Danach verschwindet der Begriff für viele Jahrzehnte aus dem Sprachgebrauch, und es fällt schwer, darin keine semantische Begleiterscheinung des Umstands zu sehen, daß sich ein spezifisch deutsches Nationalbewußtsein nur sehr mühsam und sehr allmählich gegen die konkurrierenden Loyalitätsansprüche der Territorialstaaten und des „Reiches“ durchsetzen konnte. Erst die Staatsgründung von 1871 und die alsbald einsetzende Verbindung mit dem Imperialismus gab, ähnlich wie in Italien, die entscheidenden Impulse für die Akzentuierung eines dezidiert „nationalistischen“ Nationalbewußtseins. Sehr deutlich wird dies bei einem „ökonomischen Nationalisten“ wie Max Weber, der in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 von seiner Wissenschaft verlangte, „die dauernden ökonomischen und politischen Machtinteressen der Nation über alle anderen Erwägungen zu stellen“, wozu nach seiner Meinung selbstverständlich auch „Weltmachtpolitik“ gehörte19; noch deutlicher bei den nationalistischen Verbänden, für die das 1871 gegründete Deutsche Reich noch kein Nationalstaat war, gleichwohl um seiner Selbstbehauptung gegenüber anderen Nationalstaaten willen ein solcher werden mußte: durch rigorosen „Nationalismus im Staatswesen“, worunter die Durchsetzung von Sprache und Kultur des „Herrenvolks“ gegenüber den Minderheiten zu verstehen sei, und durch Expansion nach außen20. Auch wenn dabei mitunter beteuert wurde, daß Deutschland im Unterschied zu den geschichtlich bekannten Weltreichen niemals den Anspruch auf Alleinherrschaft und nicht einmal den auf Oberherrschaft über andere Kulturvölker erheben werde, sind solche Bekundungen doch nicht zum Nennwert zu nehmen. Der Alldeutsche Verband ließ zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz einen Zweifel daran, daß Nationalismus und Imperialismus zusammengehörten, und auch der Deutschbund stand ihm hierin nicht nach21. Arthur Moeller van den Bruck, nach 1918 einer der einflußreichsten Verfechter eines neuen, auf Inklusion setzenden Nationalismus, machte schon 1906 klar, daß der „deutsche Nationalismus“ „universal“ war und auf Schaffung einer deutschen „Weltkultur“ drängte 22. Den „deutschen Nationalisten“ schrieb er kurz darauf das folgende Programm zur Abarbeitung ins Stammbuch:
„Was wir verlangen, ist einfach: Gerechtigkeit im Völkerleben. So werden wir in dem Augenblick, in dem es sich entscheiden soll, daß die Staatsverbände der Zukunft ausschließlich große und rassenmäßig geschlossene Nationalverbände sein können, von Europa verlangen, daß alles Deutsche auch wirklich zu Deutschland kommt. Und so werden wir in dem anderen Augenblick, der freilich mit jenem zusammenfallen dürfte und in dem darüber entschieden werden wird, daß den einzelnen Großnationen genau so viel an Land und Erdwert und Bewegungsmöglichkeit zufällt, wie sie nach Zahl und Volkswert und Handelsbeziehungen verdienen, entsprechend verlangen, daß die Welt des Deutschtums, die dann die des Gesamtdeutschtums sein wird, wiederum genau das Ihre erhält“23.
Da die romanischen Völker mit dem Wachstum des deutschen Volkes nicht mithalten könnten, sei Deutschland auf dem europäischen Kontinent zur Führung berufen. Sobald diese Frage entschieden sei, möglicherweise durch eine „blutige Lösung“, könnten „die noch größeren, die europäisch-außereuropäischen Konflikte kommen, die Konflikte mit Angelsachsentum und Mongolentum, wofern sie nicht, was wir heute natürlich noch nicht wissen können, alle zusammen ausbrechen“. Am Ende aber werde stehen: „das germanische Imperium“, das seinen politischen Anteil an der Erdherrschaft besitzen werde, „wie es sich seinen zivilisatorischen, von Hamburg bis Saloniki, von Antwerpen bis Wladivostok, heute schon und täglich mehr und mehr erobert!“24.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es etwas schwieriger, solche Ambitionen fortzusetzen, weil Deutschland im imperialistischen Spiel verloren hatte und Imperialismus nun nicht wenigen als ein Proprium der Siegernationen erschien25. Tatsächlich schloß jedoch bei kaum einem Autor oder kaum einer der Gruppen, die wortreich gegen den „imperialistischen Nationalismus“ (Ferdinand Fried) vom Leder zogen, der neue, angeblich die Differenz wahrende und die Pluralität der Nationen verteidigende deutsche Nationalismus expansive und hegemoniale Zielsetzungen aus, sondern meinte meist nur deren Neujustierung auf den Osten Europas, wie dies den machtpolitischen Gegebenheiten entsprach. Daneben fand sich, in geradliniger Anknüpfung an die Vorkriegszeit, ein Verständnis, das die Nation als höchsten Wert deutete und daraus ihren absoluten Vorrang nach innen wie außen ableitete. Im Kreis um Ernst Jünger hieß es schon 1925, der moderne Nationalismus sei „eine revolutionäre Erscheinung“, deren Aufgabe es sei, den Klassenstaat zu vernichten und gegenüber der Außenwelt die Herrschaft zu erkämpfen. Da die Grundtendenz der Zeit nun einmal imperialistisch sei, könne die einzig angemessene politische Option nur ein nationaler Imperialismus sein, der sich der Ausdehnung des deutschen Herrschaftsbereichs verschreibe. Wer den Nationalismus bejahe, dürfe vor seiner logischen Konsequenz, dem deutschen Imperialismus, nicht Halt machen; die Orientierung am Nationalitätsprinzip schließe das Streben nach Expansion, nach der „absoluten Uebermacht einer Nation“, nicht aus. Heute stehe man im Endkampf der Imperialismen26. Es gehe um nicht weniger als um die Frage, „welches Volk den großen Kampf abschließen, die Zentralgewalt erlangen und durch seinen Willen allein die Erde verwalten, verwerten und nutzen wird“. Sei Deutschland in der ersten Runde der Auseinandersetzung auch gescheitert, die zweite Runde, die an die – endlich totale – Mobilmachung anschließen werde, werde den Sieg bringen: die „Beherrschung der Erde“, das „Imperium germanicum“27. Parallele Überlegungen, allerdings überhöht zu einer „Theologie des Nationalismus“, konnte man im Deutschen Volkstum finden, wo Wilhelm Stapel und Albrecht Erich Günther die Brechung der französischen Vorherrschaft in Europa anvisierten und sich für einen neuen Nationalismus aussprachen, bei dem der „Kampf um den Raum“ im Vordergrund zu stehen habe28. In Stapels Christlichem Staatsmann von 1932 wurde daraus das Programm eines „neuen Imperialismus“, das den Deutschen als dem Volk Gottes auf Erden die Aufgabe zuwies, „das eine und bis an das Ende der Zeiten währende ‘Reich’“ hervorzubringen: das „Imperium Teutonicum“, in dem sich die Welt auf das Höchste und Letzte werde vorbereiten können: die Erscheinung Christi29.
Läßt man die verschiedenen Aussagen Revue passieren, so erkennt man unschwer eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Konstanten. Die Nation gilt, erstens, als eine gegebene Größe, in deren Namen Ansprüche erhoben werden, zugleich aber auch als etwas, das erst noch zu schaffen ist – ein Paradoxon, das David A. Bell schon für das 18. Jahrhundert ausgemacht hat30. Nationen sind, zweitens, vorpolitische Größen, die aber ihren optimalen Ausdruck erst erreichen, wenn sie sich politisch-staatlich organisieren. Als politisch-staatliche Gebilde unterliegen sie den Gesetzen der Machtdynamik und schließen damit die Möglichkeit des Imperialismus ein. Nationen sind, drittens, die höchste denkbare kollektive Organisationsform, die nur unterschritten, nicht aber überschritten werden kann. Viertens: Als höchste denkbare kollektive Organisationsform beanspruchen Nationen gegenüber ihren Mitgliedern, ähnlich wie Religionen es zu tun pflegen, „Höchstrelevanz“: die „explizite(n) und emphatische(n) Überbietung aller Relevanzen und Prioritäten, die sich im Leben sonst aufdrängen und Aufmerksamkeit für sich verlangen“31. Einer Deutung des Nationalismus als „politischer Religion“ steht dabei allerdings das überwiegend säkulare Selbstverständnis entgegen, das bei den Nationalisten dominiert32.