Читать книгу Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945 - Stefan Breuer - Страница 24

Denker der Staatsnation

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Die für die Zeit nach 1848 charakteristische Fusionierung konservativer und liberaler Traditionen vollzog sich nicht zuletzt auf der Plattform eines neuen, staatsbezogenen Nationsbegriffs.5 Bedingung der Möglichkeit hierfür war der Umstand, daß sowohl der konservative als auch der liberale Nationsbegriff ambivalent waren. Für den Konservatismus hat Panajotis Kondylis dargelegt, daß er einerseits gegen die romantische, d.h. holistisch-ethnische Auffassung der Nation bzw. des Volkes den Primat des dynastisch-legitimistisch verstandenen Staates vertrat, andererseits aber eben dieser Auffassung sich annäherte, wenn es gegen den revolutionären Universalismus der Menschenrechte (und gegen den französischen Expansionismus) ging. Gegen die Ansprüche der im Sinne des Dritten Standes interpretierten Nation setzte man darauf, daß, „wie der Vater vor der Familie, Quelle und Wurzel der Familie, so die Obrigkeit, der Staat vor der Nation, Quelle und Wurzel der Nation ist“ (Gerlach 1848, zit. n. Kraus 1994, I, 235); gegen die Verfechter eines von der Gesellschaft getrennten, rational strukturierten Staates, der die Staatsunmittelbarkeit aller einzelnen und die Beseitigung aller pouvoirs intermédiaires implizierte, die Idee eines Vorrangs der Nation im Sinne eines ständisch gegliederten Herrschaftsverbandes (Kondylis 1986, 286ff.).

Ebenso ambivalent war der frühe Liberalismus, der in Deutschland noch so stark von aristotelischen Vorstellungen der societas civilis überformt war, daß sich ein rein individualistisch-territoriales Verständnis, wie es in der atlantischen Doppelrevolution des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, nicht durchzusetzen vermochte (Bußmann 1973, 132; Langewiesche 1988, 28). Die Spannweite wird hier markiert durch eine an Herder und die Romantik anschließende Auffassung, die die Nation als von Gott geschaffene Sprach- und Kulturgemeinschaft faßt (Rudolf Haym), und durch eine von Hegel beeinflußte Linie, die nicht Sprache, Mythos und Sitte als einheitsstiftende Faktoren ansetzt, sondern den rational gefaßten Volksgeist und den mit ihm verbundenen Willen zur Einheit (Kleindeutsche Schule). Auch diese Auffassung war, wie ihr Gegenpol, holistisch, ging aber vom territorialen Prinzip und vom Begriff einer politischen Nationalität aus. Darüber hinaus bemühte sie sich, wie schon Hegel, dem Prinzip der persönlichen Freiheit im Rahmen der holistischen Konzeption Geltung zu verschaffen, wahrte aber zugleich Abstand zu Hegels Neigung, den Staat allen anderen Gemeinschaftsbildungen, etwa dem Recht, überzuordnen.6

Entgegen einer verbreiteten Sichtweise vollzog sich die konservativliberale Verschmelzung auf der Linie des holistisch-territorialen, nicht des holistisch-ethnischen Nationsbegriffs. Bei den Konservativen gerieten diejenigen ins Abseits, die, wie Ernst Ludwig von Gerlach, durch ihr alteuropäisches Ordodenken nicht nur zum Nationalismus, sondern schon zur Idee einer Staatsbürgernation in Gegensatz standen (Kraus 1994, II, 794ff.). Die Zukunft lag, wie stets, bei den Anpassungsfähigen: bei der Wochenblattpartei, die schon in den 50er Jahren die Idee des Volkes als einer organischen Einheit beiseite schob, um dem Staat – dem preußischen wie dem prospektiven kleindeutschen Staat – den Vorrang einzuräumen; bei den Freikonservativen der 60er Jahre, die Bismarcks Strategie mittrugen und wie dieser einen Ausgleich mit den Nationalliberalen suchten; und schließlich bei den Deutschkonservativen, die sich 1876 auf den Boden der Reichsverfassung stellten und bald auch die letzten Rudimente des historischen Konservatismus auf dem Altar einer agrarkapitalistischen Interessenpolitik und eines militanten Nationalismus opferten.7

Auf der Gegenseite wurden nach 1848 die „Wesenszüge eines gouvernementalen, Staatsmacht und Machtstaat bejahenden, bestehende Institutionen begrüßenden und insofern ‘konservativen’ Liberalismus“ sichtbar (Seier 1961, 7). In seiner berühmten Rede über die Geschichtsschreibung sah der Historiker Heinrich von Sybel 1856 die liberalen Parteien konservativer und die konservativen liberaler geworden und eine „Ausgleichung der Standpunkte“ angebahnt, die auf Dauer unwiderstehlich sein müsse. „Fast Alle, die auf wahre Bedeutung Anspruch machen können“ – Sybel nannte Mommsen, Duncker, Waitz, Giesebrecht, Droysen und Häusser – „gehören jenem liberal-conservativen Kreise an, jener Verschmelzung, wenn man den parlamentarischen Ausdruck verstatten will, der beiden Centren, der gemäßigten Whigs und der liberalen Tories“ (Sybel 1869, 354, 356).

Basis dieser Verschmelzung war die Anerkennung des Staates als „Verwirklichung der Freiheit durch die Macht der Gemeinschaft“ (Sybel, zit. n. Seier 1961, 32). Verfügte diese über substaatliche Bindekräfte wie Blut, Sprache und Geschichte, so war es gut. Erforderlich aber war es nicht. Der Staat konnte diese Bindekräfte entbehren, mehr noch: sie ersetzen. Der Staat, hieß es in Sybels Vorlesung über Politik, „bedarf nicht in jedem Momente der nationalen Gleichartigkeit seiner Bewohner. Aber er soll so beschaffen sein, daß er immer Gemeinsamkeit seiner Bewohner so weit erzeugt, wie zur Erreichung der Staatszwecke, zur Verwirklichung der Bildung, Sitte und Freiheit erforderlich ist. Der Staat braucht nicht Nation zu sein, aber er muß Nation werden können.“ Entsprechend abzulehnen waren nach Sybel alle Forderungen, die darauf drängten, daß in einem Staat nur Menschen derselben angeborenen Nationalität leben dürften oder daß umgekehrt alle Menschen der gleichen Nationalität sich in demselben Staate befinden müßten. „Die Nation war bei Sybel ausgesprochen Staatsnation, geschichtlich entstandene, säkulare Erlebnisgemeinschaft. Sie war in Abhängigkeit vom Staat gedacht“ (Seier 1961, 65). Ähnlich dachte Droysen, dachte auch Hermann Baumgarten, wenn er die Ereignisse der Reichsgründungsära als Bestätigung dafür wertete, daß die Deutschen „wieder ein Volk sein wollten, und zwar nicht nur in dem ethnographischen Sinne einer durch Sprache und Abstammung verbundenen Menschenart, … sondern in dem politischen Sinne“8. Noch in Friedrich Ratzels Polemik gegen eine „Nationalitätenpolitik“, die „das Volk einer Sprachgemeinschaft ohne Rücksicht auf seinen Boden“ zum Prinzip des Staates erkläre, ist ein Echo dieser Grundhaltung zu finden, wie überhaupt die politische Geographie der Jahrhundertwende eine der Hauptstützen des holistisch-territorialen Nationsbegriffs war.9

Deutlich ambivalenter war dagegen die Position Treitschkes, der sich schon bald nach der Reichsgründung für einen konservativeren Liberalismus einsetzte und schließlich deshalb die Nationalliberale Partei verließ. Ein Liberaler war Treitschke insofern, als er den Staat auf die Nation bzw. auf den von den Bildungsschichten getragenen Volksgeist hin relativierte. Der Staat, heißt es 1858 in der Schrift über die Gesellschaftswissenschaft, „ist ein Volk in seinem einheitlichen äußeren Zusammenleben“, und auch die politische Form, die er annimmt, ist „ein Werk des Volkes“ (ARB II, 786, 789). Volk bzw. Nation wurden dabei aber weder im westlich-liberalen Sinne noch in dem der romantischen Volksgeistlehren verstanden. Gegenüber der ersten Auffassung, die das Volk mit der bürgerlichen Gesellschaft identifiziert, beharrt Treitschke, ganz hegelianisch, auf dem Doppelcharakter des Volkes, der es diesem wohl ermöglicht, sich in zahllosen Verhältnissen gegenseitiger Abhängigkeit zu realisieren – der Sphäre der Konkurrenz –, darüber aber doch niemals die Einheit und Unteilbarkeit verliert, die ihm als gottgewollter Gegebenheit zukommt (1918, I, 49ff.). Gegenüber der zweiten Auffassung, die den Volksgeist als prä- und transrationale Größe faßt, betont er seine Prägung durch Bildung, politisches Bewußtsein und Willen:

„Aus der unergründlichen und unerforschlichen Tiefe, in welche die Romantik den stillwachsenden Volksgeist gesenkt hatte, ist bei Treitschke im hellen Licht des Kampfes um die nationale Staatsform der Deutschen ein Wesen geworden, dem seine weltanschauliche, ja seine parteipolitische Zugehörigkeit an die Stirn geschrieben zu sein scheint. Alle quietistischen und ‘neptunistischen’ Merkmale, die aus dem romantischen Erbe der Savigny und Grimm stammen, sind ausgetilgt und durch aktive, ja oftmals revolutionäre Züge ersetzt. Der Volksgeist empfängt von vornherein eine feste Richtung auf ein politisches Ziel und wird politisches Kampfmittel“ (Bußmann 1981, 171f.).

Das konservative Moment zeigt sich darin, daß Treitschke nach der Reichseinigung zunehmend auf Faktoren rekurrierte, die zum holistisch-ethnischen Nationsverständnis gehören (s.u.), darunter Blutsverwandtschaft, Sitte, Sprache und Religion (Treitschke 1918, I, 268ff.; Bußmann 1981, 358ff.). Das Wesen der Nationalität, so hielt er 1880 Moritz Lazarus entgegen, sei wohl in Abstammung und Sprache zu suchen, aber auch im „zweifellosen, lebendigen Bewußtsein der Einheit“, wie es sich allein aus einer gemeinsamen Religion ergeben könne. Diese aber sei in Deutschland durch das Christentum bestimmt, das fest „mit allen Fasern des deutschen Wesens verwachsen ist“ (ARB IV, 500). Auch wenn die den Konservativen so teure Idee des christlichen Staates zu verwerfen sei („denn der Staat ist eine weltliche Ordnung und soll seine Macht auch gegen die Nichtchristen mit unparteiischer Gerechtigkeit handhaben“), sei die Nationalität doch vom Christentum nicht zu trennen. „Christliche Gedanken befruchten unsere Kunst und Wissenschaft; christlicher Geist lebt in allen gesunden Institutionen unseres Staates und unserer Gesellschaft“ (ebd.). Weiter unten wird zu zeigen sein, welche Folgen dieses Verständnis für das Judentum hatte.

Sowohl das liberale als auch das konservative Moment wurden aber bei Treitschke überformt durch ein machtstaatliches Denken, das die Nation den Geschicken des Staates unterordnete. Hatten Haller und Gerlach Volk und Nation als Schöpfungen der Fürsten verstanden (GG VIII, 349, 354), so sah Treitschke in ihnen ebenfalls das Ergebnis einer politischen, durch die Mächtedynamik bestimmten Geschichte, in der Territorien und Populationen aufgeteilt wurden. Die dadurch geschaffenen Gebilde, in denen sich jeweils eine Staatsgewalt, ein Staatsgebiet und ein Staatsvolk miteinander verbanden, genossen Vorrang vor allen sub- und transstaatlichen Beziehungen, wie sie sich etwa aus Sprache, Sitte, Abstammung und Religion ergaben. So ist es zu verstehen, weshalb Treitschke zwar einerseits die Notwendigkeit einer nationalen Grundlage für den Staat betont – die Schaffung von wie immer auch illusionären Gefühlsbindungen zwischen den Gliedern des Staatsvolkes –, andererseits aber unterstreicht, „daß man mit der kahlen Rede von einem Recht der Nationalität nicht durchkommt“ (1918, I, 280). Das sogenannte Nationalitätsprinzip, nach dem jede Nationalität ein Recht auf Bildung eines eigenen Staates besitzt, gilt ihm als ‘hohle Abstraktion’ (270), weil sie vollständig von den ungleichen politischen Kapazitäten der verschiedenen Nationen absieht. Gewiß fühlten sich viele berufen, einen eigenen Staat zu etablieren. Doch nur wenige seien auserwählt, und gegen diese habe der Schwächere kein Recht.

Von hier aus gesehen wird verständlich, weshalb bei Treitschke, trotz seiner Konzessionen an das holistisch-ethnische Prinzip, der holistisch-territoriale Nationsbegriff überwiegt. Es war staatsnational gedacht, wenn er am Vorabend der Reichseinigung demonstrativ den Verzicht auf die Vereinigung aller Deutschsprechenden unter einem politischen Dach erklärte (ARB III, 440); wie es auch staatsnational war, die staatliche Eigenständigkeit Österreichs zu bejahen und nur für den Fall ihrer Zerstörung – ein Fall, der ausdrücklich als Unglück für Österreich und Deutschland bezeichnet wurde – Maßnahmen zur Rettung des Deutschtums an der Donau ins Auge zu fassen (521, 534). Aber auch die mitunter als Konzession an herderianisch-romantische Auffassungen dargestellten Forderungen nach einer Annexion fremder Gebiete und der Germanisierung der dort lebenden nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen entsprachen durchaus dem staatsnationalen Prinzip, wurden sie doch im Namen des staatlichen Interesses an einem nicht durch sprachliche oder kulturelle Partikularismen segmentierten Staatsvolk erhoben (contra Bußmann 1981, 358ff.; Langer 1998, 261). Selbst ein Autor wie Rogers Brubaker, der für das Zweite Deutsche Kaiserreich generell eine Tendenz zur Ausdehnung und Verstärkung des holistisch-ethnischen Nationsbegriffes annimmt, räumt doch ein, daß die sprach- und schulpolitischen Maßnahmen Bismarcks in gewissem Maße mit staatsnationalem Interesse zu rechtfertigen waren (Brubaker 1994, 174; ähnlich Wehler 1995, 952). Und das muß dann auch für die entsprechenden Vorstellungen Treitschkes gelten.

Daß bei zwei so starken politischen Strömungen wie dem Konservatismus und dem Liberalismus eine deutliche Neigung zur Staatsnation festzustellen ist, muß als schwerwiegendes Argument gegenüber Darstellungen gewertet werden, die von einer immer schon gegebenen Prädominanz des ethnischen oder ‘völkischen’ Nationsverständnisses ausgehen. Gewiß existierte dieses Verständnis, wie gleich ausführlich zu zeigen sein wird. Doch ebenso existent und aller Wahrscheinlichkeit nach zunächst stärker war die Gegenposition, die sich gerade an der Assimilationspolitik gegenüber den Minderheiten wie auch am auffälligen Zurücktreten nationalirredentistischer Bestrebungen nach 1871 ablesen läßt.10 Das vorrangige Ziel der tonangebenden Schichten wie auch der offiziellen Politik war die Konsolidierung des kleindeutschen Staates nach innen und seine Machtentfaltung nach außen, nicht aber die Vereinigung aller Deutschsprachigen in einem einzigen Nationalstaat. Theodor Schieder hat dies am klarsten erfaßt, wenn er mit Blick auf diese Lage Alfred Kirchhoffs Begriff der Reichsnation aufnimmt und hinzufügt:

„Für diese Reichsnation ist zweierlei charakteristisch: sie stellt sowohl nur einen Teil des deutschen Sprachvolkes dar wie sie auch Bestandteile nichtdeutscher Sprachgruppen umfaßt. Dieses ist nun genau die theoretische Beschreibung der tatsächlichen deutschen Lage um die Jahrhundertwende, und man erkennt daraus, wie stark die prägende Kraft des Nationalstaats für das nationale Bewußtsein gewesen ist: der staatsnationale Zug im deutschen politischen Denken hat sich als Wirkung der Reichsgründung immer stärker durchgesetzt; es ist kein Zweifel, daß Kirchhoff hier nicht die abweichende Meinung eines Außenseiters, sondern vielmehr eine allgemeine Bewußtseinslage zum Ausdruck bringt“ (Schieder 1992, 51).

Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945

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