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3. Vom Diskurs zur Bewegung
ОглавлениеIn den frühen 80er Jahren kristallisieren sich in den Schriften von Bernhard Förster und Otto Glagau zentrale Elemente des völkischen Diskurses. Das gleiche Jahrzehnt sieht indes auch die Anfänge einer völkischen Bewegung in dem von Rudolf Heberle in die politische Soziologie eingeführten Sinne eines sozialen Handlungszusammenhangs, der im wesentlichen durch die folgenden Merkmale bestimmt ist: ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, ein „Wir-Gefühl“; eine gemeinsame Ideologie, die auf eine Erneuerung der Gesellschaft drängt und dabei vor politisch-staatlichen Grenzen nicht Halt macht; und einen sozialen Träger, der die entsprechenden Ideen aufnimmt und propagiert.1 Obwohl soziale Bewegungen als ganze nicht organisiert zu sein pflegen, bilden sich dabei typischerweise „in jeder wichtigeren, entfalteten sozialen Bewegung organisierte Gruppen“, die meist durch geringe Rollenspezifikation und variable Organisations- und Aktionsformen bestimmt sind.2 Im Falle der völkischen Bewegung sind dabei im wesentlichen zwei Stufen der Organisation zu erkennen: freiwillige Zusammenschlüsse in Gestalt von Vereinen und Dachverbänden von Vereinen; und Parteien, die zur Durchsetzung ihrer Ziele politische Macht anstreben und sich zu diesem Zweck um eine Verknüpfung ideeller, materieller und persönlicher Interessen bemühen – mit sehr begrenztem Erfolg, wie sich zeigen wird.
Wenngleich die Bezeichnung „Partei“ schon sehr früh auftaucht, etwa bei der Sozialen Reichspartei Ernst Henricis oder der Deutschen Reformpartei Alexander Pinkerts, die 1881 in Berlin und Dresden gegründet werden, handelt es sich dabei doch zunächst durchweg um lokal begrenzte und kurzlebige Unternehmungen. Die Soziale Reichspartei mit ihrer Mischung von antisemitischen, nationalistischen, linksliberalen und sozialdemokratischen Forderungen erleidet bereits bei den Wahlen von 1881 mit gerade 843 Stimmen eine deutliche Abfuhr und löst sich bald danach auf3; ihr Gründer, übrigens ein ehemaliger Schüler Bernhard Försters und genau wie dieser wegen antisemitischer Agitation aus dem Schuldienst entlassen, verläßt 1885 die politische Bühne und versucht sein Glück in Togo.4 Die deutlich gemäßigtere Reformpartei, von Pinkert als „Mittel- oder Bürgerpartei“ konzipiert, bricht schon im zweiten Jahr auseinander, weil die Dresdner unter Pinkert sich mehr an Stoecker orientieren, während die Chemnitzer unter der Führung Ernst Schmeitzners, des Verlegers von Nietzsche, Dühring und der Bayreuther Blätter, es in der „Judenfrage“ mehr mit Dühring halten.5 Als vorherrschende Organisationsform der völkischen Bewegung in ihrem ersten Jahrzehnt ist deshalb der Verein anzusehen. Schwerpunkte sind dabei zum einen Sachsen, wo schon 1879 in Dresden ein Deutscher Reformverein gegründet wird, dem bald weitere in Chemnitz (1881), Leipzig (1884) und Zwickau (1887) folgen; zum andern Berlin (Deutscher Volksverein 1881) und Hessen mit den Reformvereinen von Kassel (1881), Frankfurt (1882) und Marburg (1886). 1885 beträgt die Zahl dieser Vereine 52, 1890 circa 80. Eine Liste, die um 1892 / 93 entstanden sein dürfte, nennt über 200 Vereine, von denen nahezu die Hälfte (60 beziehungsweise 30) in Sachsen und Hessen liegt.6
Nach der Seite des sozialen Trägers handelt es sich um Zusammenschlüsse innerhalb des unteren Mittelfelds, allen voran der selbständigen und unselbständigen Kaufleute, Handwerker und kleinen Beamten.7 In Frankfurt stellt diese Gruppe den größten Teil der Mitglieder, in Chemnitz geht der Reformverein direkt aus einer Umwandlung des Vereins zur Wahrung der Interessen Handels- und Gewerbetreibender hervor.8 Erklärtes Motiv der Vergesellschaftung sind jedoch nicht zweckrationale ökonomische oder soziale Interessen, auch wenn diese keineswegs abwesend sind, sondern der Wunsch nach Verbreitung einer bestimmten wertrationalen Gesinnung, wie sie etwa in der Forderung nach „Wiedererwekkung und Förderung des deutschen christlichen Geistes“ zum Ausdruck kommt, die der Frankfurter Reformverein in den Vordergrund stellt.9 Am ausführlichsten verbreitet sich hierüber das Programm des am 12. März 1881 in Berlin von Bernhard Förster und Liebermann von Sonnenberg ins Leben gerufenen Verbandes. Der Deutsche Volksverein, heißt es dort, sei zwar kein religiöser, sondern ein sozialpolitischer, auf nationaler Grundlage stehender Verein. Doch glaube er nicht, „daß es ausreiche, die bestehenden Gesetze rein äußerlich, in ‚korrekter‘ Weise zu beobachten, vielmehr verlangt er mit aller Bestimmtheit, daß der rechte Bürger sich mit denselben sowie überhaupt mit den Grundgedanken unseres staatlichen Lebens in vollste innere Uebereinstimmung zu setzen versteht. Denn gerade in einem lebhaften persönlichen Ehrgefühle und der Religiosität der Gesinnung erblickt die Vereinigung die notwendige Ergänzung zu jedem geschriebenen Rechte und das wirksame Gegenmittel gegen den immer mehr überhandnehmenden Individualismus und die unser Volksleben zerrüttende Korruption in Handel und Wandel, von welcher auch die höheren Klassen der Bevölkerung ergriffen und selbst die aus Wahlen hervorgegangenen vertretenden Körperschaften nicht völlig frei geblieben sind.“10 Erst an zweiter Stelle folgen die sozialpolitischen Forderungen, die dann auch noch recht vage bleiben: Es geht um die Entlastung des „kleinen Mannes und des Mittelstandes“, die Begünstigung des „immobilen Besitzes“, die Zurückweisung des Manchestertums, eine Reform des Aktienwesens, eine „scharfe Heranziehung der Börse zu den öffentlichen Staatslasten“, die (Wieder-)Herstellung leistungsfähiger Korporationen sowie um eine Aktivierung des Staates auf den Feldern Kunst und Wissenschaft, dies alles in engstem Zusammenhang mit der üblichen Forderung nach „Bekämpfung des Judentums“.11 Nicht wenig davon ist Stoecker abgeschaut, doch fehlen andererseits auch wesentliche fiskal- und sozialpolitische Elemente, so daß es durchaus zutreffend ist, wenn Peter Pulzer den Deutschen Volksverein rechts von Stoecker lokalisiert.12
Die Schaffung einer Gesinnungsgemeinschaft, die, ähnlich wie die liberale Bewegung des Vormärz, Geschlossenheit auf ideeller Ebene mit „Vielfalt der Auffassungen in konkreten politischen Fragen“ und nicht zuletzt auch einer relativ lockeren Organisation verbindet13, bildet auch den Fluchtpunkt für die verschiedenen Einigungsbemühungen, die die völkische Bewegung von Anfang an begleiten. Während die ersten Versuche in dieser Richtung, die beiden antijüdischen Kongresse von 1882 und 1883, noch an den unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten scheitern, die hinsichtlich der anzustrebenden Ausrichtung (international oder national) und der Gewichtung der Rassenfrage bestehen14, wird 1886 auf dem Kasseler Kongreß ein Durchbruch erzielt. Treibende Kraft hierfür ist der Ingenieur Theodor Fritsch (1852 – 1933), der seit Ende der 70er Jahre in Leipzig ein mühlentechnisches Büro leitet und ein Kleines Mühlenjournal herausgibt, das sich für die Interessen der Mühlenbesitzer einsetzt, schon sehr früh aber auch den Ausschluß der jüdischen Müller aus dem Müllerverband fordert.15 Von Anfang an stark von Dühring beeinflußt, dem er lediglich in der Totalverwerfung des Christentums nicht folgt, darüber hinaus stark beeindruckt von Bernhard Förster und Otto Glagau16, avanciert Fritsch in den 80er Jahren rasch zu einem der führenden Publizisten des völkischen Antisemitismus, der sich nicht mit Pinkerts Deutscher Reform und Schmeitzners Internationaler Monatsschrift begnügt, sondern bald schon auf ein breiteres Publikum zielt: zunächst mit seiner Flugschriftenreihe Brennende Fragen (ab 1883), sodann ab 1886 mit der zunächst monatlich, dann halbmonatlich und ab Oktober 1889 wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Antisemitische Correspondenz, schließlich 1887 mit dem Antisemiten-Katechismus, der es unter dem Titel Handbuch der Judenfrage auf 44 Auflagen bringen wird.17
Schon in der dritten Nummer seines Blattes macht Fritsch klar, daß das angestrebte Ziel einer „Isolirung der jüdischen Nation auf gesetzlichem Wege […] nicht ohne Zustimmung einer Volks-Majorität“ zu erreichen sei18; diese aber sei nur zu gewinnen, indem man die spaltungs- und polarisierungsträchtigen religiösen Aspekte in den Hintergrund dränge. Verlege man den „Schwerpunkt in der Bekämpfung des Judenthums vorwiegend auf das wirthschaftliche Gebiet“, könnten „christliche und freigeistige Judengegner recht wol Hand in Hand gehen“.19 Auf dieser Basis könne ein „Bund“ gebildet werden, „der mit geistigen und materiellen Kräften für das gefährdete Deutschthum überall eintritt“, eine „Germanische Allianz“ oder ein „Germanen-Bund“, „der die Förderung und Pflege deutschen Wesens zu seinem vornehmsten Ziele macht“: in der Wirtschaft mittels einer engen Vereinigung von Produzenten und Konsumenten, die den jüdischen Handel- und Zwischenhandel überflüssig macht, in der Gesellschaft durch Exklusion des Judentums aus allen deutschen Vereinigungen, Verbänden und Familien, „vor allem durch Verhütung weiterer Bluts-Vermischung in Misch-Ehen“ u. s. f.20
Zu diesem Zweck versenden Fritsch und sein Kreis gezielt Einladungen an diejenigen antisemitischen Vereine, von denen zu erwarten ist, daß sie der radikalantisemitischen Zielsetzung zustimmen, womit von vorneherein die Anhänger der Stoeckerschen Richtung ausgeschlossen sind. Aus diesem handverlesenen Kreis finden sich zu Pfingsten 1886 in Kassel 43 Delegierte (nach Polizeiberichten nur 32) ein, die sich zum obersten Ziel einer Aufhebung der Judenemanzipation auf verfassungsmäßigem Wege bekennen und dies mit der Bereitschaft verbinden, „eine gesunde Reformpolitik auf wirthschaftlichem Gebiete […] auf das thatkräftigste zu unterstützen“. Gegen die naheliegende Idee, sich zu diesem Zweck als eigenständige Partei zu organisieren, werden zwar noch Bedenken erhoben, teils weil der Zeitpunkt verfrüht sei, teils weil es erfolgversprechender sei, der antisemitischen Idee in den bereits bestehenden Parteien Anhänger zu werben. Am Ende aber entscheidet man sich doch für eine „ideelle(n) Vereinigung“, der die Aufgabe zugewiesen wird, „den Boden für die Bildung einer ‚deutsch-nationalen Reform-Partei‘ vorzubereiten und durch eifrige Propaganda das Volk über die drohende Juden-Gefahr aufzuklären.“21 Anstelle der heterogenen antisemitischen Bewegung, deren organisatorische Zusammenfassung bislang stets an den Gegensätzen zwischen Dühringianern, Stoeckerianern und Wagnerianern gescheitert ist, soll nun eine neue, einheitliche Bewegung treten, die ihre Leitideen vom Leipziger, das heißt vom „nationalen Antisemitismus“ empfängt.22 Als Sitz dieses neuen Verbandes, der Deutschen Antisemitischen Vereinigung, wird Leipzig bestimmt, als Leiter des geschäftsführenden Ausschusses ihres „Central-Comitees“ Theodor Fritsch.23
Fritsch ist es auch, der sogleich für das zu entwickelnde Parteiprogramm einen Entwurf vorlegt, in dem der Antisemitismus in eine umfassendere, ‚social-reformerische‘ beziehungsweise ‚germanisch-nationale‘ Konzeption eingebettet wird. In ihrem Kern zielt diese Konzeption darauf, die bis dahin primär wertrationale Vergesellschaftung um eine zweckrationale Dimension zu ergänzen und so die Voraussetzungen für eine Partei zu schaffen, die nicht nur Gesinnungs-, sondern auch Standes- respective Klassenpartei ist. Der Stand, dessen Interessen man sich vorzugsweise annehmen will, ist, wie nicht weiter überraschen wird, der alte Mittelstand. Während für die negativ privilegierten Erwerbsklassen lediglich eine Einschränkung der Frauen- und Kinderarbeit verlangt wird, wird die Gruppe der positiv privilegierten in Stadt und Land mit einem ausdifferenzierten Programm umworben, das freilich überwiegend produzentenpolitisch ausgerichtet ist. In ihrem Interesse soll die Konkursordnung revidiert und verschärft und die Gewerbefreiheit eingeschränkt werden, sollen Ratenzahlungsgeschäfte abgeschafft oder streng überwacht und wucherische Darlehen für nicht einklagbar erklärt werden. Der Handel mit Handwerkserzeugnissen soll nur den Produzenten selbst gestattet, die Rolle der Börse durch höhere Besteuerung zurückgeschnitten werden. An die Bestrebungen der Pariser Sansculotten während der großen Französischen Revolution erinnern die Punkte 11 und 12, die die Einführung einer progressiven Erbschaftssteuer, die Festsetzung einer Maximalgrenze für Privatvermögen und die Mediatisierung des überschießenden Teils durch den Staat verlangen. Nach Fritsch soll es sich bei diesem Katalog nur um das „indirecte Programm“ handeln, dem eine dienende Funktion im Hinblick auf das eigentliche Ziel zugedacht ist: die „Isolirung der Semiten“.24 Doch setzt sich schon bald die Einsicht durch, daß die Prioritäten umgekehrt werden müssen, wenn man im politischen Feld erfolgreich sein will. Schon 1887 ist in der Antisemitischen Correspondenz nicht mehr vom indirecten Programm, sondern vom „Programm der deutschen Antisemiten“ die Rede25, und wenngleich Paul Förster (1844 – 1926), der Bruder Bernhard Försters und Mitinitiator der Antisemitenpetition, bald darauf noch einmal die Skepsis all derer zusammenfaßt, die gegen den Schritt zur Parteibildung sind26, ist doch der Zug zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr aufzuhalten. Dem für Juni 1889 in Bochum anberaumten Treffen, an dem rund 250 Delegierte aus 100 deutschen Städten teilnehmen, liegt der Programmentwurf einer Kommission vor, an der neben Fritsch, Liebermann, König und Stehlich auch Paul Förster beteiligt ist.27
Daß die Dinge sich seit 1887 beschleunigen und der zunächst anvisierte lange Zeithorizont, in dem man sich mit einer „ideellen Vereinigung“ und reiner Aufklärungsarbeit begnügen will, einer überstürzten Parteibildung weicht, hängt mit dem sensationellen Wahlerfolg zusammen, den Otto Böckel (1859 – 1923) bei den Reichstagswahlen im Februar 1887 im Wahlkreis Marburg erringt. Böckel, zu diesem Zeitpunkt erst siebenundzwanzig Jahre alt, ist ein promovierter Germanist, der sich auf den Spuren Wilhelm Heinrich Riehls mit Volksliedforschung befaßt, dies jedoch durchaus nicht mit romantischen Intentionen verbindet, wie seine gleichzeitige Aufgeschlossenheit für Dühring und vor allem für Glagau zeigt, an den er sich um 1885 anschließt.28 Auch zu Theodor Fritsch bestehen zunächst enge Verbindungen. 1886 erscheint in den Brennenden Fragen die Flugschrift Nr. 21, Die Güterschlächterei in Hessen. Ein Mahnruf an das deutsche Volk von Dr. Capistrano, hinter dem sich niemand anders verbirgt als Otto Böckel; vom selben Verfasser bringt die Antisemitische Correspondenz im März 1886 Ein Wort in elfter Stunde.29 Böckel seinerseits läßt in seinem Organ Reichsherold auch Fritsch zu Wort kommen.30 Das Verhältnis trübt sich allerdings schon bald, weil Böckel den Leipzigern vorwirft, zu zögerlich im Aufbau einer antisemitischen Partei zu sein und zu enge Beziehungen zu den Konservativen zu unterhalten – eben jenen Konservativen, von denen Böckel schreibt, er hasse sie mehr als alle Juden und Sozialdemokraten zusammen.31 Sein Reichstagsmandat jagt er 1887 einem Konservativen ab und meint in dieser Frontstellung auch die größten politischen Chancen zu erkennen; wohingegen die Fritsch-Gruppe die Antisemiten „zur Zeit – und bis auf Weiteres – auf eine Anlehnung an die Konservativen, das Centrum – zur Not auch an die Frei-Konservativen und Nationalliberalen angewiesen“ sieht.32
Auf dem Bochumer Antisemitentag vermag Böckel zwar seine Präferenzen nicht durchzusetzen, doch ist es letztlich seine Drohung, eine eigene Partei zu gründen, die die Deutsche Antisemitische Vereinigung unter Handlungsdruck setzt. Der „Hessische Bauernkönig“ verfügt nämlich nicht nur in seinem Stammland über Anhänger, sondern hat auch den Dresdner Reformverein auf seiner Seite, der unter Pinkerts Nachfolger Oswald Zimmermann einen neuen Aufschwung erlebt und sich anschickt, den Führungsanspruch Leipzigs über die völkisch-antisemitische Bewegung zu bestreiten.33 Als Böckel mit seinem Anhang unter Protest den Kongreß verläßt, beschließen die zurückbleibenden Delegierten die Gründung einer Partei und verabschieden fast einstimmig den Programmentwurf, der zum einen die radikalantisemitischen Ziele der Petition von 1880 / 81 bekräftigt (Aufhebung der Gleichberechtigung und Stellung der Juden unter Fremdenrecht), darüber hinaus aber nicht weniger als die „Neuorganisation unseres Volkes und Staates auf wirtschaftlichem und geistigem Gebiet“ ins Auge faßt.34 Dazu zählen wesentliche Punkte aus Fritschs ‚indirectem Programm‘ von 1886 wie die Beschränkung der Gewerbefreiheit, die gründliche Reform des Börsenwesens, die Revision der Konkursordnung, eine wirksame Wuchergesetzgebung mit Festlegung eines Höchstzinssatzes sowie eine Verstaatlichung der Reichsbank, die um sozialprotektionistische Elemente wie die Einführung des obligatorischen Befähigungsnachweises im Handwerk und die Senkung der Grundsteuer für die Agrarproduzenten ergänzt werden. Nicht aufgenommen sind dagegen die egalitaristischen Forderungen nach Vermögensbegrenzung und Mediatisierung des überschießenden Teils durch den Staat, offenbar in der Absicht, die Partei nicht ausschließlich an eine kleinbürgerliche Interessenlage zu binden.35
Gewissermaßen als Ersatz hierfür figurieren Forderungen wie die nach einer progressiven Einkommenssteuer sowie einer Verstaatlichung der Grundbuchschulden mit allmählicher Ablösung.36 Eine seit der Jahrhundertmitte auch und gerade in Juristenkreisen populäre Tendenz aufgreifend, verlangt man darüber hinaus die Verdrängung des ‚römischen Rechts der bloßen Besitztitel‘ durch deutsche Rechtsgrundsätze der ‚Achtung der Persönlichkeit um ihrer selbst und des Bestands des Staates willen‘, was sich u. a. in einer Senkung der Anwaltskosten, der Beseitigung des Anwaltszwangs, Schutz der Privatpersonen gegen Beleidigung und Beschimpfung durch gegnerische Advokaten vor Gericht, neue Hypotheken und Subhastationsordnungen u. ä. m. manifestieren soll.37 Um den Konkurrenten im antisemitischen Spektrum, den Christlich-Sozialen, Stimmen abzujagen, kommt man auch der Interessenlage der negativ privilegierten Klassen stärker entgegen, u. a. indem man die Umwandlung der gewerblichen Aktienunternehmungen in den bedeutendsten Produktionszweigen in genossenschaftliche Betriebe verlangt und sich für einen weiteren Ausbau der Krankenkassen, Unfall-, Invaliden- und Altersversorgungsgesetze, Maximalarbeitstag sowie Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit einsetzt. Um diese sozialpolitische, weit über den reinen Antisemitismus hinausgehende Dimension deutlich zu machen, favorisieren Fritsch und Liebermann den Vorschlag Paul Försters, die neue Organisation „Deutsch-soziale Partei“ (DSP) zu nennen.38 In ihrem Wahlaufruf vom Februar 1890 definiert sie als ihre Hauptaufgabe, den von der „‚liberalen‘ Kapital-Wirtschaft“ zerriebenen Mittelstand neu zu schaffen: „wir wollen im wahren Sinne eine Partei des Mittelstandes sein!“39
Wenige Monate später, im Juli 1890, versammelt Otto Böckel seine Truppen in Erfurt und gründet dort die Antisemitische Volkspartei, die sich 1893 in Deutsche Reformpartei (DRP) umbenennt. Von den Deutschsozialen unterscheidet sich diese Partei, die ihre Schwerpunkte in Hessen und Ostsachsen hat, vor allem in zwei Punkten: der Forderung nach Ausdehnung des für den Reichstag geltenden allgemeinen, geheimen und direkten Wahlrechts auch auf die parlamentarischen Körperschaften der Bundesstaaten (Punkt 16) und dem Verzicht auf einen Ausbau der Sozialversicherung (Punkt 10), worin man sowohl einen Hinweis auf die von Böckel umworbene, in der Hauptsache bäuerliche Klientel sehen kann, als auch ein Echo der Vorstellungen Glagaus, der etwa Stoeckers Versuche, die Arbeiterschaft durch christlich-soziale Forderungen zu gewinnen, für wenig aussichtsreich gehalten hat.40 Die beste Lösung der sozialen Frage, die auch Böckel nicht leugnet, besteht für ihn in einer „praktische(n) Mittelstandspolitik“, deren Gegner die Interessenten des Status quo seien, die „Junker und die jüdisch infizierten Großunternehmer“ sowie deren parlamentarische Repräsentanz.41 Zu dieser zählt er, wie bereits bemerkt, in erster Linie die Konservativen, diese „reaktionär-feudale Clique“, aber auch die Christlich-Sozialen Stoeckers und die Deutschsozialen, die er zu ‚abkommandierten Konservativen‘ erklärt, zur ‚freiwilligen Schutztruppe der Conservativen‘.42
Daß dies nicht das letzte Wort ist, ist bekannt, und ebenso bekannt sind die Gründe, die die Deutschreformer dazu bringen, sich im Herbst 1893 von Böckel zu lösen und den Deutschsozialen zu nähern. Neben allerlei finanziellen und moralischen Schwierigkeiten, in die sich der hessische Bauernkönig verstrickt, spielt hier vor allem eine Rolle, daß die elf Mandate, die die Deutsche Reformpartei 1893 für den Reichstag gewinnt, nicht ausreichen, um ihr den für eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit unverzichtbaren Fraktionsstatus zu sichern. Da Böckel hartnäckig alle Kooperationsangebote zurückweist, kommt es schließlich hinter seinem Rücken zu Verhandlungen. Seine Abwahl als Vorsitzender des Mitteldeutschen Bauernvereins im September des folgenden Jahres macht dann den Weg zur Fusion frei, die auf einer Vertrauensmännerversammlung beider Parteien in Eisenach am 7. Oktober 1894 beschlossen wird.43
Die neue Organisation nennt sich Deutsch-soziale Reformpartei (DSRP). Sie besteht aus etwa 30 – 35 000 Mitgliedern, die in zunächst dreizehn, später vierzehn Landes- beziehungsweise Provinzialverbänden organisiert sind, einer Doppelspitze aus den Leitern der ehemaligen DSP und DRP (Liebermann von Sonnenberg, Oswald Zimmermann), einer Hauptgeschäftsstelle unter der Leitung von Wilhelm Giese, einer Reihe von Periodika sowie einigen angeschlossenen Standesorganisationen, von denen allerdings nur die hessischen Bauernvereine eine gewisse Bedeutung besitzen.44 Das von den beiden Vorsitzenden und Paul Förster entworfene und auf dem Erfurter Parteitag vom Oktober 1895 verabschiedete Programm ist ein Kompromiß zwischen den Programmen von 1889 beziehungsweise 1890. Es ist deutschreformerisch im Verzicht auf den Ausbau der sozialen Sicherung, deutschsozial im Verzicht auf die Ausdehnung des Reichstagswahlrechts auf Länderebene sowie in der bereits in früheren Programmen erhobenen Forderung nach einer Beschränkung der Konsumvereine, die wohl den Interessen des Handwerks, nicht aber denen der Bauern entspricht.45 Als typisch völkisch läßt sich die Rhetorik der Versöhnung und der Wiedergeburt ansehen, die in den Leitsätzen gleich dreimal hintereinander beschworen wird:
„Die Deutsch-soziale Reformpartei wendet sich an das gesamte deutsche Volk ohne Unterschied des Standes und des Bekenntnisses, sie will es allen zum Bewußtsein bringen, daß sie als Söhne eines Stammes zusammengehören im Kampf um die wirtschaftliche und sittliche Wiedergeburt des Deutschtums. Unabhängig nach oben und unten, nach rechts wie links wollen wir das große Ziel der nationalen Wiedergeburt fest ins Auge fassen und geraden Weges darauf losgehen. Neben der sittlichen Erneuerung unseres Volkslebens sehen wir die nationale Wiedergeburt in erster Linie darin, daß der schaffenden Arbeit die ihr gebührende Stellung eingeräumt wird. Zur Zeit ist sie in ihren Rechten beeinträchtigt durch ein Übergreifen des beweglichen Kapitals. Diesem Kapitalismus gegenüber betrachten wir es als unsere Hauptaufgabe, die Gemeinschaft der Interessen an der schaffenden Arbeit den einzelnen Berufsständen zum klaren Verständnis zu bringen und sie davon zu überzeugen, daß jede einzelne Gruppe ihren Interessen am wirksamsten dient durch Zusammengehen mit den anderen. Unser Ziel muß sein, die scheinbaren Interessengegensätze zur Versöhnung zu bringen, und so aus allen Gruppen der schaffenden Arbeit eine eng zusammenhängende Streitmacht gegen den gemeinsamen Feind zu bilden.“46