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5. Der Mißerfolg der Parteien
ОглавлениеIhren größten Erfolg feiern die Völkischen bei den Reichstagswahlen von 1893, als sie sechzehn Mandate erobern. Auch bei einigen Landtags- und Kommunalwahlen schneiden sie zunächst gut ab, etwa in Sachsen, wo sie ihre Stimmenzahl bis 1895 mehr als verdoppeln können (11,3 %), oder im Großherzogtum Hessen, wo sie mit den Sozialdemokraten gleichziehen.1 Ihre Siegesserie hält indes nicht an. Als bei den Reichstagswahlen von 1898 nur mehr dreizehn Sitze gewonnen werden, machen sich die nur notdürftig verkleisterten Spannungen zwischen den verschiedenen Flügeln wieder bemerkbar und führen im Oktober 1900 zum Austritt der Deutschsozialen; der verbleibende Rest formiert sich neu als Deutsche Reformpartei, so daß der Radikalantisemitismus in den folgenden Jahren bis 1914 wieder durch zwei Parteien vertreten ist.2 Bei den Reichstagswahlen ist ihre Stimmenzahl seitdem rückläufig. Die Deutschsozialen, die 1907 noch 76028 Stimmen verbuchen, erzielen 1912 nur noch 56765; die Deutsche Reformpartei geht im gleichen Zeitraum von 76255 auf 50373 Stimmen zurück.3 Das Gesamtvolumen der für alle antisemitischen Kandidaten (gemäßigte wie radikale) abgegebenen Stimmen sinkt von 284 000 Stimmen 1898 auf 149 000 im Jahre 1912, das ist in Prozenten ausgedrückt ein Rückgang von 3,7 % auf 1,2 %, in Reichstagsmandaten von 13 auf 8.4 Massimo Ferrari Zumbini hat daraus den Schluß gezogen: „Aufs Ganze gesehen läßt sich also sagen, daß die Wahlgeschichte des Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland die Geschichte einer Niederlage ist, und zwar einer solchen, die sich nicht auf die Mängel des Wahlrechts zurückführen läßt.“5
Aus marxistischer Sicht ist diese Niederlage durch unterschiedliche Klasseninteressen verursacht, die das völkische Spektrum in zwei gegensätzliche Strömungen zerreißen: in die von ‚kleinbürgerlichen Kräften‘ getragenen Deutschreformer, die sich an den Interessen der Mittelschichten orientieren, und die in größerer Nähe zu den herrschenden Klassen, speziell deren junkerlicher Fraktion, stehenden Deutschsozialen, die in ‚sozialdemagogischer‘ Absicht auch nach Einfluß auf die Arbeiterklasse streben und sich deshalb der Mittelstandsorientierung verweigern.6 Diese Annahme geht an der Sache vorbei. Die Leichtigkeit, mit der sich die Deutschsozialen bei der Fusion von 1895 von ihren sozialstaatlichen Programmpunkten verabschieden, zeigt, wie wenig tief diese in der Partei verankert sind. Die nach dem Zusammenschluß vom Vorstand der DSRP herausgegebenen Mitteilungen für die Vertrauensmänner der Partei, die nicht zuletzt aufgrund der beigefügten Vortragsentwürfe eine aufschlußreiche Quelle darstellen, lassen von einer Verweigerung gegenüber Mittelstandsinteressen nichts erkennen, sondern geben als eindeutiges Ziel vor, „den deutschen Mittelstand zur entscheidenden politischen Macht in unserem Staatsleben zu machen.“7 Die Partei, so bekräftigt Wilhelm Giese vom Berliner Vorstand, „die die Kräfte des Mittelstandes zum Kampf gegen den Mammonismus und das Judentum zusammenfassen will, ist vorhanden, es ist die antisemitische, die deutsch-soziale Reformpartei“, die Partei „zum Schutz des kleinen Mannes, das heißt des deutschen Volkes überhaupt gegen die großkapitalistische, zumeist jüdische Ausbeutung.“8 Nach der Trennung haben nicht nur die Deutschreformer an dieser Orientierung festgehalten, wie sich an Oswald Zimmermanns Leitsätzen zur Mittelstandsfrage (1904) belegen ließe, sondern auch die Deutschsozialen, wie ein Blick in die Schriften Heinrich Pudors (1865 – 1943) zeigt, der um 1912 zu den führenden Mitgliedern des Deutsch-Sozialen Vereins zu Leipzig gehört und keine Mühe hat, sein Engagement für den Bund der Landwirte mit einem Eintreten für die Belange auch des städtischen Mittelstands zu verbinden.9 Im übrigen haben sich auch die Deutschreformer von ihrer traditionell antikonservativen Einstellung nicht hindern lassen, mit den Konservativen Wahlbündnisse einzugehen, wo immer es taktisch geboten erscheint – so zum Beispiel bei den Reichstagswahlen von 1903 und 1907.10
Auch von der Mitgliederstruktur her gesehen fällt es schwer, die Spaltungslinien innerhalb der völkischen Parteienlandschaft mit unterschiedlichen Klassenlagen in Verbindung zu bringen. Die Masse der Mitglieder beider Parteien kommt durchweg aus den unteren Strata des Mittelfelds, aus den Reihen der Kleinlandwirte, Kleinhändler, Handwerker, Handlungsgehilfen und Beamten, nur hier und da auch des Bildungsbürgertums.11 Der wichtigste Unterschied zwischen ihnen, der zwischen städtischen und ländlichen Mittelklassen, bildet sich nicht auf der Ebene der Parteien ab. Die Deutschreformer haben ihre Basis sowohl im bäuerlich-ländlichen Hessen als auch im gewerblichen Sachsen, während die Deutschsozialen sich ebensosehr an die im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband organisierten städtischen Angestellten anlehnen wie an den Bund der Landwirte.12
Soweit klassentheoretische Argumente für den Niedergang der völkischen Parteien ins Spiel gebracht werden können, sind es nicht gegensätzliche Klassenlagen, die in Frage kommen, sondern Gegensätze innerhalb der für beide Parteien typischen Klassenlage. Emil Lederer hat schon früh darauf hingewiesen, daß der Mittelstand sich von den anderen Hauptklassen der Gesellschaft durch eine geringere Einheitlichkeit unterscheidet, durch das Fehlen einer klaren Verankerung im Produktionsprozeß, die den Interessen von Unternehmern und Arbeiterschaft ihr bekanntes klares Profil verleiht. Zwar spielen produktionspolitische Momente auch im Mittelstand eine Rolle, etwa im Falle der Bauernschaft oder des Handwerks, doch wird die daraus resultierende Gemeinsamkeit durch den Gegensatz zwischen agrarischen Produzenten und städtischen Konsumenten überlagert. Der Kleinhandel andererseits empfängt sein Interessenprofil weder aus der Produktion noch aus der Konsumtion, sondern aus der Zirkulation und konzentriert seine Forderungen deshalb auf eine Ausschaltung der Konkurrenz auf diesem Gebiet, insbesondere der Warenhäuser. Mittelständische Politik, so Lederer, ist „dadurch von den übrigen Arten sozialer Politik unterschieden, daß sie ganz wahllos alle Produktionsprobleme – soweit sie mit ihren Interessen zusammentreffen – in sozialpolitische umwertet, ohne sie jedoch um einen festen Kern gruppieren zu können, der sich aus der wirtschaftlichen Funktion des Mittelstandes ergeben würde. So fehlt der Mittelstandspolitik das ökonomische Zentrum; sie kann nicht mit der Durchsetzung eines Prinzips arbeiten, weil sie ein den wirtschaftlichen Idealen ganz fremdes Ziel verfolgt“: die „soziale(n) Forderung auf Erhaltung einer möglichst großen Schicht mittelständischer, in ihrer dauernden Lebenshaltung gesicherter Existenzen.“13 Klar blickende Köpfe in den Reihen der Völkischen haben diese Problematik deutlich gesehen, wie zum Beispiel der frühere Schriftleiter der Deutschen Wacht, Emil Huhle, der schon 1896 eine Parteibildung aus dem Mittelstand heraus überhaupt für unmöglich erklärt, weil hier die Zahl der widerstreitenden Ansprüche am größten sei.14
Neben diesem klassentheoretischen Grund für den Mißerfolg der Parteien müssen indes noch weitere Faktoren angeführt werden, die sich grob in interne und externe gliedern lassen. Unter den internen Ursachen fällt als erstes der Umstand ins Auge, daß die Parteibildung überstürzt erfolgt, als Resultat der Sorge einiger lokaler Führer, von ihren Rivalen überflügelt oder ausgespielt zu werden. Auch nach der formellen Parteikonstituierung hat man es daher mit einem Archipel lokaler Gesinnungsvereine zu tun, die sich nicht so sehr nach sachlichen Prinzipien als nach persönlichen Loyalitäten gruppieren und diese im übrigen auch leicht wechseln, etwa nach einem erfolgreichen rhetorischen Auftritt eines Mitglieds der Führungsriege. Bei aller Betonung der Gesinnung haben die völkischen Parteien von Anfang an auch einen Zug zur Patronage-Partei, für die nach der Parteitypologie Max Webers das Interesse charakteristisch ist, politische Macht (und damit auch: Stellen, Pfründe, Einfluß) für einen persönlichen Führer und dessen Anhang zu erstreben.15 Die Deutsche Reformpartei verdankt ihre Entstehung allein der Initiative des charismatischen Demagogen Otto Böckel und bleibt auch nach dessen Entfernung eine personalistische Gefolgschaftspartei, die sich nun um Böckels Nachfolger, Oswald Zimmermann, gruppiert. Auf dem ‚Charisma der Rede‘ (Max Weber) beruht auch die Position des Führers der Konkurrenzorganisation, Max Liebermann von Sonnenberg. Der Zusammenschluß mit den Deutschsozialen 1895 ist, wie Erwin Bauer mit dem bösen Blick des Renegaten erkannt hat, im Grunde nichts weiter als „die geschickte Mache zweier antisemitischer Cliquenführer“16, nicht anders als die Trennung von 1900 und der erneute Zusammenschluß von 1914 zur Deutschvölkischen Partei.17
Bemühungen, sich eine stärker bürokratische Struktur zu geben, scheitern an der notorischen Finanzknappheit, die auch durch die Schaffung eines eigens zur Einziehung und Verwaltung der Mitgliedsbeiträge eingerichteten Vereins „Quittungsmarke“ nicht überwunden werden.18 Die Einkommensverhältnisse der Führer erlauben es nicht, die organisatorischen Defizite durch Honoratiorenverwaltung zu kompensieren, wie dies in den konservativen und liberalen Parteien möglich ist. Die völkischen Führer leben weniger für die Politik als von der Politik; ihr geringes ökonomisches Kapital läßt sie auf die Einnahmen angewiesen sein, die aus Diäten, journalistischer Arbeit oder Eintrittsgeldern für Agitationsveranstaltungen fließen, manchmal auch aus dubioseren Quellen, wie im Fall des oben zitierten Erwin Bauer, der sein angeschlagenes kleines Zeitungsimperium mit einem Kredit aus konservativen Kreisen wieder flott macht und im Gegenzug der konservativen Partei hilft, mehrere Wahlkreise in Sachsen zu erobern.19 Von daher der in diesen Kreisen endemische Vorwurf des „Geschäftsantisemitismus“, von daher die ständigen Verdächtigungen hinsichtlich einer möglichen jüdischen Herkunft, mit denen selbst Gesinnungsgenossen ihre Konkurrenten überziehen20, von daher der zähe Widerstand, auf den jeder Versuch einer Zentralisierung der Entscheidungsprozesse, Bürokratisierung der Organisation und Homogenisierung des äußeren Erscheinungsbildes stößt. Als beispielsweise Oswald Zimmermann 1907 den Reichsbund der Deutschen Reformpartei gründet, der an die Stelle der einzelnen Landesverbände treten soll, verweigern Brandenburg und Sachsen die Gefolgschaft und tragen damit maßgeblich zur Dekomposition der Partei bei.21
Nicht einmal im Reichstag gelingt es, die Mitglieder der völkisch-antisemitischen Fraktion zu einer einheitlichen Stimmabgabe zu bewegen. Bei den insgesamt 80 Abstimmungen der Legislaturperiode von 1893 – 1898 votieren sie ganze 46 mal geschlossen. In der folgenden Periode von 1898 bis 1903 stimmen die Deutschreformer bei namentlichen Abstimmungen siebenmal gegen die Deutschsozialen, viermal sogar gegeneinander, ähnlich 1908 bei der Beratung über die Börsengesetznovelle und das Reichsvereinsgesetz. Als 1909 ihr eigener Antrag auf einen Einwanderungsstop für Juden zur Abstimmung kommt, fehlt mehr als die Hälfte der völkischen Abgeordneten. Die Angst um ihre Parteipfründe veranlaßt 1909 bei den Debatten über die Reichsfinanzreform zahlreiche Abgeordnete der Deutschsozialen wie der Deutschreformer, die 1907 auch als Repräsentanten von Konsumenteninteressen gewählt wurden, sich dem Druck des Bundes der Landwirte (BdL) zu beugen und für höhere Zölle und Steuern zu stimmen, die die städtischen Mittel- wie Unterschichten schwer treffen. Die Erbschaftssteuer dagegen, die auch das Grundeigentum belastet hätte, wird mit etlichen Stimmen der Völkischen zu Fall gebracht. Beide Parteien hat dies wohl mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder gekostet.22
Als eine überstürzt zur Partei mutierte Gesinnungsgemeinschaft sind die Völkischen für parlamentarische Politik besonders schlecht gerüstet. Die Strategie, die ihnen zunächst die größten Erfolge beschert – die Mobilisierung nationaler, sozialer und demokratischer Sentiments sowie judenfeindlicher Ressentiments –, gerät nach den Wahlen an ihre Grenze, weil die radikalen Aspekte ihres Programms aus je unterschiedlichen Gründen ein parlamentarisches Zusammengehen mit anderen Parteien unmöglich machen. Die Absage an den ökonomischen Liberalismus und an die Judenemanzipation steht einer Kooperation mit den liberalen Parteien im Wege, die angestrebte Förderung des alten Mittelstands (wie natürlich ebenfalls der Antisemitismus) einer solchen mit den Sozialisten. Nicht einmal die Konservativen, die mit ihrem Tivoli-Programm von 1892 dem Radikalantisemitismus weit entgegenkommen, indem sie die Christlichkeit von Verwaltung und Schule fordern23, bieten sich als Bündnispartner an, konkurriert man doch in vielen Wahlkreisen um die gleichen Wählergruppen und erweckt die Herkunft vieler Wortführer der Völkischen aus dem liberalen oder demokratischen Spektrum Argwohn: ein Wilhelm Marr hat seine Laufbahn schließlich im radikaldemokratischen Jungen Deutschland begonnen und auch später immer wieder durchblicken lassen, daß in seinen Augen die „Antisemiten die rechtschaffensten ‚Fortschrittler‘“, wenn nicht gar Sozialisten sind24, ein Ernst Henrici als Versammlungsredner der linksliberalen Fortschrittspartei, der diese aus Unzufriedenheit mit ihrer Sozialpolitik verläßt und sich auf diesem Feld Lassalle annähert25; andere Beispiele sind Oswald Zimmermann, der zunächst als Redakteur eines freisinnigen Blattes arbeitet, Otto Glagau, der der liberalen Nationalzeitung angehört, Otto Böckel, der nach Auskunft des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Singer seine Laufbahn in nächster Nähe der Sozialdemokratie beginnt, oder der spätere Mitarbeiter des Deutschen Tageblatts, Erich Schlaikjer, der für den Vorwärts Theaterkritiken schreibt und Mitglied von Naumanns Nationalsozialem Verein ist.26 „Hinter dem vulgären Antisemitismus der Gegenwart“, so der Redakteur der konservativen Badischen Landpost, „lauert das Gorgonenhaupt der sozialistisch-demokratischen Revolution“.27
Die Erkenntnis, daß rebus sic stantibus ein zentrales Ziel der parlamentarischen Aktivität: die Rücknahme der Emanzipation auf gesetzlichem Wege, unerreichbar ist, stärkt jene Kräfte, die nach Bündnispartnern suchen und dafür Abstriche von der Programmatik hinzunehmen bereit sind. Besonders die Deutschsozialen um Liebermann von Sonnenberg, die ihre Mandate vielfach der Unterstützung durch den BdL verdanken, setzen darauf, die Differenzen gegenüber den Konservativen zu verringern28 und drängen deshalb alle diejenigen ins Abseits, die sich diesem Kurs verweigern. Das trifft in erster Linie die populären Demagogen vom Schlage Hermann Ahlwardts und Otto Böckels, die schon nach kurzer Zeit der neu gegründeten Einheitspartei den Rücken kehren und die Antisemitische Volkspartei reaktivieren, deren Programm von dem inzwischen zu den Deutschkonservativen übergelaufenen Erwin Bauer als „eine Wiederaufwärmung der ältesten Forderungen der radicalsten Demokratien, die die Weltgeschichte überhaupt erlebt hat“, bezeichnet wird: in ihm würden nicht nur die Mediatisierung der Fürsten und die Einführung der parlamentarischen, plebiszitär ergänzten Demokratie gefordert, sondern auch die religiöse Neutralität des Staates, die Zertrümmerung des auf Gewalttiteln beruhenden Großgrundbesitzes und weitere Maßnahmen, die der Gedankenwelt Eugen Dührings entsprungen seien.29
Es trifft aber auch prominente Ideologen wie Theodor Fritsch, der ab 1892 mit einer Serie von kirchenfeindlichen und Dühringfreundlichen Attacken gegen ‚Pfaffen und Juden‘ den Graben zwischen sich und der Partei vertieft und darüber nicht nur seine Parteiämter verliert, sondern auch die Deutsch-Sozialen Blätter, das Nachfolgeorgan der Antisemitischen Correspondenz, das er 1894 an Liebermann von Sonnenberg abtreten muß.30 Ihm folgen Ottomar Beta und Willibald Hentschel, der sich schon 1893 von der Fusionierung des deutschsozialen Gedankens mit dem Bund der Landwirte angewidert zeigt31, sowie vor allem Paul Förster, der sich zu Beginn der 90er Jahre mehr und mehr an Hermann Ahlwardt angenähert hat und 1894 mit einem Programmentwurf für die Deutsch-soziale Reformpartei aufwartet, von dem Erwin Bauer meint, er atme den Geist des sozialdemokratischen Zukunftsstaates.32 Das geht natürlich erheblich an der Wahrheit vorbei, da die von Paul Förster anvisierte Ordnung durchaus eine Eigentümer-Marktgesellschaft ist, die ihren Schwerpunkt im alten Mittelstand hat. Es ist aber auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, da Förster ein allgemeines Recht auf Arbeit, eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die Verstaatlichung aller Bergwerke und großen Betriebe und die Zusammenfassung aller Lohnarbeiter in freiwilligen Erwerbsgenossenschaften postuliert und zur Finanzierung seines sozialen Programms umfangreiche Enteignungen privaten Kapitals vorschlägt – selbstverständlich, wie man in diesem Fall nicht lange erläutern muß, nur solchen Kapitals, das sich in jüdischen Händen befindet.33 Da derartige Ideen bei den Deutschsozialen nicht mehrheitsfähig sind, spielt Förster schon 1894 mit dem Gedanken des Parteiaustritts34, doch fügt er sich zunächst und trägt die Fusion mit. Erst 1897 wird er die Reichstagsfraktion der DSRP verlassen, weil sie sich, wie er in einem Brief an Zimmermann schreibt, zu sehr am Mittelstand orientiere.35 Nach und nach verschwinden auf diese Weise wichtige Aktivisten der ersten Stunde, denen die völkischen Parteien ihre Organisation und nicht zuletzt auch einige Wahlerfolge verdanken.36
Der Versuch, sich durch Marginalisierung der Intransigenten bündnisfähig zu machen, bringt den völkischen Parteien freilich nicht die erhofften Früchte ein, da sich noch in den 90er Jahren die politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen ändern, womit wir bei den externen Ursachen des Niedergangs sind. Auf politischer Ebene ist es von erheblicher Bedeutung, daß 1895 Konservative, Nationalliberale und Fortschritt in Sachsen die Einführung des Dreiklassenwahlrechts durchsetzen und damit die Mobilisierungsfähigkeit der Völkischen stark beeinträchtigen. Innerhalb weniger Jahre verringert sich die Zahl der Reformvereine in Sachsen um zwei Drittel, die Landtagsmandate gehen verloren und auch bei den Reichstagswahlen müssen Niederlagen eingesteckt werden: 1898 können die Reformer nur mehr drei von den 1893 gewonnenen Mandaten bestätigen, 1903 gehen zwei weitere Sitze an die SPD. Als 1905 auch noch in Dresden, der Hochburg der Deutschreformer, das kommunale Wahlrecht in ein Berufswahlrecht umgewandelt wird, setzt ein rapider Verfall der DRP ein, der durch den Autoritätverlust der Führung weiter beschleunigt wird. Anfang 1914 soll die Partei nur noch 3000 Mitglieder besessen haben.37
Einer derjenigen, die diese Entwicklung schon früh erkennen und sich nach alternativen Strategien umsehen, ist Theodor Fritsch. Die seit der Jahrhundertwende von ihm präferierte Lösung besteht darin, es erneut über die Vereinsebene zu versuchen und die Interessen des Mittelstands nicht partei-, sondern verbandspolitisch zu aggregieren – jenes Mittelstands, dem jeder zugehöre, „der nicht bloßer Tagelöhner oder mehrfacher Millionär ist“.38 Für diese Ziele engagiert er sich sowohl publizistisch in seiner neuen Zeitschrift Hammer39 als auch praktisch-organisatorisch: 1905 startet er eine Initiative zur Gründung einer Mittelstandsvereinigung für das Königreich Sachsen, die er bis 1914 als erster Vorsitzender leitet.40 Die Akzentuierung der Interessenpolitik erlaubt es ihm nun, flexibler mit den „Konservativen“ umzugehen, indem er auf verbandspolitischer Ebene mit ihnen zusammenarbeitet, während er auf parteipolitischer Ebene weiterhin auf Abstand hält.41 So öffnet er dort verankerten Mittelstandspolitikern wie Ludwig Fahrenbach den Hammer und agitiert gemeinsam mit ihm für einen reichsweiten Zusammenschluß aller Angehörigen des gewerblichen Mittelstands zu einer großen Zentralorganisation.42 Auf ihren Appell hin findet im September 1911 in Dresden der Erste Reichsdeutsche Mittelstandstag statt, auf dem sich der Reichsdeutsche Mittelstandsverband konstituiert, zu dessen Hauptforderungen die Beseitigung des § 100q der Gewerbeordnung (Verbot der Preisfestsetzung durch Zwangsinnungen), gesetzliche Maßnahmen gegen Warenhäuser, Konsumvereine und Wandergewerbe, Schutz gegen gewerkschaftlichen ‚Streikterrorismus‘ und Boykott sowie eine Einschränkung der ‚krankmachenden Sozialpolitik‘ zugunsten der wirtschaftlich Unselbständigen gehören.43 Unter den ihm angegliederten Organisationen, die 1914 nach eigenen Angaben 630 000 Mitglieder zählen, ist die Sächsische Mittelstandsvereinigung mit über 130 000 Mitgliedern die stärkste, und sie ist es denn auch, die den Vorsitzenden (Felix Höhne), den Geschäftsführer (Ludwig Fahrenbach) und einen Großteil der Mitglieder des Geschäftsführenden Ausschusses stellt, darunter: Theodor Fritsch.44 Was unter schichtspezifischen Gesichtspunkten ein Erfolg sein mag, ist es freilich aus der Perspektive der völkischen Ideologie nicht gleichermaßen: denn Fritsch muß, um seinen Einfluß nicht zu gefährden, in seinen Interventionen innerhalb der Verbände nicht nur seine Polemik gegen die Religion im allgemeinen und das Judentum im besonderen temperieren, er muß darüber hinaus auch seine Kritik am Großkapital relativieren und schärfer zwischen „gutem“, nämlich produktivem Kapital und „schlimmem“, nämlich spekulativem Kapital unterscheiden.45
Im Kern ähnlich ergeht es den Völkischen in wichtigen Segmenten des neuen Mittelstands. Auch hier verdankt ein Interessenverband wie der 1893 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV) seine Entstehung der Initiative antisemitischer Agitatoren wie Friedrich Raab und Johannes Irrwahn und kooperiert sogar lange Jahre eng mit der DSP. Je größer der Verband jedoch wird, desto stärker wird der Druck, sich aus dieser Verbindung zu lösen und sich parteipolitisch neutral zu erklären. Die seit 1905 in größerer Zahl in den Verband strebenden neuen Mitglieder legen „keinen Wert auf antisemitische Parteipolitik, sondern auf die Sozialpolitik“, so daß der bis dahin dominierenden völkisch-antisemitischen Richtung „eine mehr gewerkschaftlich ausgerichtete Fraktion“ entgegentritt. Diese übernimmt 1911 die Führung des Verbandes und reduziert dessen Beziehungen sowohl zu den völkischen Parteien wie zu den Gesinnungsvereinen mit stark antisemitischer Tendenz, denen er als körperschaftliches Mitglied angehört hat.46 Nicht wenig dürfte zu dieser Distanzierung beigetragen haben, daß prominente Völkische die beiden Teuerungswellen für tierische Produkte von 1905 / 06 und 1910 durchaus nicht zum Anlaß nehmen, für die Interessen der städtischen Konsumenten einzutreten, vielmehr pauschal den Vorrang der Produktion verkünden und die Schuld an den hohen Preisen dem Handel, insbesondere dem angeblich jüdischen „Parasitenhandel“ (Pudor), zuzuschieben versuchen.47
Auch im agrarischen Bereich zeigt sich, daß die Wahlerfolge der Völkischen in den späten 80er und frühen 90er Jahren situativ bedingt waren und sich einer Kette mehr oder weniger kontingenter Faktoren verdankten: dem zu Beginn der 90er Jahre einsetzenden Preisverfall für agrarische Produkte, dem „Neuen Kurs“ des Reichskanzlers Caprivi, die Kornzölle beim Abschluß neuer Handelsverträge zu senken, dem Fehlen agrarischer Interessenverbände und der offenkundigen Unfähigkeit der etablierten Honoratiorenparteien, zumal der Deutschkonservativen, den sich dagegen auf dem Land erhebenden Proteststurm aufzufangen. Daraus war eine einmalige und in dieser Weise nicht prolongierbare Konstellation entstanden, in der sich die traditionellen Parteibindungen der agrarischen, aus Bauern und Landarbeitern zusammengesetzten Wählerschaft auflösten und neuen Optionen wichen, die in bestimmten Regionen wie dem kleinbäuerlichen Hessen oder dem Südwesten den völkischen Parteien oder unabhängigen Bauernbünden zugute kamen.48
Als sich dann jedoch, etwa ab 1897, die Preisentwicklung wieder umkehrt und der Neue Kurs durch eine Rückkehr zum Agrarprotektionismus abgelöst wird, ist die Stunde der Protestparteien schon wieder vorüber.49 Mit der Gründung des Bundes der Landwirte (BdL) 1893 entsteht auch auf dem Land eine mächtige pressure group, die mit Erfolg die Interessen ihrer Klientel organisiert, von der Beratung in allen Angelegenheiten, die mit Versicherung, Kredit, Rechtsfragen und dergleichen zu tun haben, über den günstigen Einkauf von Saatgut, Dünger, Viehfutter und landwirtschaftliche Maschinen bis hin zum Abschluß vorteilhafter Versicherungen50, und die damit vor allem die kleineren Bauern gewinnt, die in Massen diesem Verband zuströmen. Von den 328 000 Mitgliedern, die der BdL 1913 zählt, stammt die große Mehrheit, 85 – 89 %, aus dem Kleinbauerntum.51 Gewiß spielt auch in diesem Zweckverein der völkische Antisemitismus eine erhebliche Rolle, wie ein Blick auf das Führungspersonal, die Mitgliedschaftregeln und die Verbandspublizistik zeigt.52 Zugleich aber wird er insofern domestiziert, als er in die interessenpolitische Agenda eingefügt und zweckrationalen Erwägungen subordiniert wird.53 Auch der Nationalismus steht hinter der agrarischen Produzentenpolitik durchaus an zweiter Stelle.54
Wie stark das Gewicht der materiellen Interessen gegenüber dem doktrinären Überbau ist, zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Kernland des völkisch-antisemitischen Agrarprotests, in Oberhessen. Als sich nach den Reichstagswahlen von 1893 heraustellt, daß die finanziellen Ressourcen des von Böckel initiierten Mitteldeutschen Bauernvereins nicht wie vorgesehen für günstige Kredite und preiswertes Viehfutter eingesetzt worden sind, sondern für Wahlkampfzwecke55, zudem auch Vorwürfe laut werden, Böckel habe seine Schulden zum Teil aus Mitgliedsbeiträgen bezahlt, zwingt man den hessischen Bauernkönig im September 1894, vom Amt des Vorsitzenden zurückzutreten und aus dem Verein auszuscheiden. Unter seinen Nachfolgern Köhler und Hirschel werden die engen Verbindungen zur Reformpartei gelockert und die wirtschaftlich-sozialen Zielsetzungen entschieden in den Vordergrund geschoben. Im Frühjahr 1904 schließt sich der inzwischen in den Hessischen Bauernbund umbenannte Verein dem BdL an.56
Die ältere Forschung hat den BdL vor allem als „Kampforganisation des ostelbischen Großgrundbesitzes“ (Puhle) gesehen, mit deren Hilfe eine vorindustrielle Elite die Bauern manipuliert und für reaktionäre Zwecke eingespannt habe. Daran ist zwar richtig, daß in den Führungsrängen dieses Verbandes mit den Junkern eine Gruppe dominiert, deren gesellschaftliche Position nach wie vor durch ständische Qualitäten mitbedingt ist.57 Soweit indes unter reaktionär eine Politik verstanden wird, die den angeblichen Fortschritt zu Kapitalismus und Industrialisierung verhindern will, ist diese Vokabel unangebracht, handelt es sich doch bei den Junkern um eine Gruppe, die in ökonomischer Hinsicht schon seit längerem durch die Existenzbedingungen einer kapitalistischen Grundrentnerschaft in einer zum Weltmarkt offenen Eigentümer-Marktgesellschaft determiniert ist; und auch von Manipulation wird man schlecht sprechen können, insofern die Junker ihre besonderen Interessen nur in dem Maße durchzusetzen vermögen, in dem sie sich auch der Interessen der Viehzucht oder Mischwirtschaft betreibenden Klein- und Mittelbauern Westelbiens und Süddeutschlands annehmen.58
Wesentlich bedingt ist ihre Führungsrolle dabei durch die Bedeutung, die ihnen als broker im Prozeß der Reallokation staatlicher Ressourcen zuwächst. Die Nähe zur preußischen Regierung wie auch das beachtliche Obstruktionspotential, über das die Agrarier in den Parlamenten verfügen, ermöglichen eine ebenso konsequente wie effektive Interessenwahrnehmung, die der Landwirtschaft als ganzer und mit ihr auch den landwirtschaftlich geprägten Regionen zugute kommt – in Gestalt einer Zollpolitik, die allen agrarischen Produzenten Gewinne zu Lasten der städtischen Verbraucher beschert; einer Steuerpolitik, die dank der Reformen von 1890 – 1893 die Landgemeinden und Gutsbezirke entlastet und daran auch die einkommensschwachen Steuerzahler partizipieren läßt; einer Regionalförderung, die das wirtschaftlich zurückgebliebene Ostelbien im Eisenbahn- und Straßenbau am Westen vorbeiziehen läßt, darüber hinaus Meliorationen, ein landwirtschaftliches Fortbildungswesen oder den Bau von Kreiskrankenhäusern und -bibliotheken finanziert; nicht zuletzt auch in gezielten Subventionen, zum Beispiel für den Einsatz künstlicher Dünger, für den Zuckerrübenanbau und für ländliche Brennereien, von denen auch die Bauernschaft profitiert.59 Im Gegenzug für die erfolgreiche Akquisition staatlicher Gelder und Infrastrukturprojekte leisten die Bauern den regierungsnahen Parteien Gefolgschaft bei den Landtags- und Reichstagswahlen und tragen so das Ihre dazu bei, daß das horizontale Schichtungsgefüge durch vertikale Interessenidentitäten und -loyalitäten überlagert wird.60 Anstelle der Konfrontation zwischen Bauern und Großbesitz, wie sie für die Zeit der Agrarreformen und noch für die des preußischen Heereskonflikts typisch war, „traten ein Krisenbewußtsein der Landwirtschaft angesichts des Aufstiegs der Industriegesellschaft und das gemeinsame Interesse von Bauern wie Gutsbesitzern an einer ihre Einkommen politisch garantierenden Marktordnung. In bezug auf die Entwicklung des ländlichen Raums stimmten Bauern wie Großgrundbesitzer darin überein, die Position des eigenen Kreises durch Investitionen in die Infrastruktur und damit in die Vermarktungsbedingungen ihrer Produkte zu verbessern, dies aber möglichst weitgehend durch finanzielle Ressourcen des Staates oder der Provinz zu bewerkstelligen.“61
Infolge der hier nur knapp angedeuteten Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozesse wächst der agrarische Bereich zu einer Einheit zusammen, die aufgrund ihrer gemeinsamen Interessenlage, ihres hohen Maßes an sozialer Schließung und ihrer klaren regionalen Begrenzung auf den protestantischen, nördlichen Teil Deutschlands als „Milieu“ angesprochen werden kann.62 M. Rainer Lepsius, der diesen Begriff vor längerer Zeit ins Spiel gebracht hat, hat darin primär eine „sozialmoralische“ Kategorie gesehen und damit das Ausmaß unterschätzt, in dem es sich um ein Zwischengebilde zwischen dem gesellschaftlichen Schichtungsgefüge und dem Staat handelt: das agrarische Milieu ist im Gegensatz zum katholischen wie auch sozialistischen Milieu weit weniger eine soziale beziehungsweise sozialmoralische als vielmehr eine soziopolitische Größe, an deren Herstellung die staatliche Bürokratie, nicht zuletzt dank der Einrichtung öffentlich-rechtlicher landwirtschaftlicher Berufskorporationen, maßgeblichen Anteil hat.63 Er hat es darüber hinaus pauschal als „konservatives Milieu“ qualifiziert und damit die Vorstellung erweckt, als stünde es en bloc unter der Kuratel der konservativen Partei beziehungsweise der beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs, der Deutschkonservativen und der Freikonservativen Partei. Abgesehen davon, daß am Konservatismus dieser Parteien erhebliche Zweifel bestehen, setzt sich die Koppelung von ‚konservativ‘ und ‚agrarisch‘ über die Tatsache hinweg, daß die konservativen Parteien in den letzten vier Reichstagswahlen des Kaiserreichs nur einen Wähleranteil von 12 – 13 % für sich zu gewinnen vermögen64 – ein Anteil, der zwar in den Regionen mit überwiegend landwirtschaftlicher Bevölkerung deutlich höher liegt, jedoch nicht so hoch ist, daß man von einem Vertretungsmonopol sprechen könnte. In den Gebieten des agrarischen und protestantischen Deutschland gehen zahlreiche Wahlkreise an nationalliberale, bisweilen sogar linksliberale Kandidaten (Schleswig-Holstein); und wenngleich es richtig ist, daß die Liberalen sich nicht primär als Sachwalter agrarischer Interessen verstehen, sich mit dem BdL bisweilen sogar scharfe Fehden liefern, ist es doch auch richtig, daß es immer wieder zu Wahlbündnissen und zur Zusammenarbeit in den Parlamenten kommt. Von den 54 Mitgliedern der nationalliberalen Reichstagsfraktion nach den Wahlen von 1907 sind 32 dem BdL verpflichtet, von den 65 Fraktionsmitgliedern im preußischen Abgeordnetenhaus von 1908 28, darunter ein Viertel als eingeschriebenes Mitglied des BdL.65 Es erscheint von hier aus gesehen angemessener, nicht von einem konservativen Milieu zu sprechen, sondern von einem agrarisch-protestantischen Milieu, das von mehreren Parteien repräsentiert wird, die sich konservativ oder liberal nennen, tatsächlich aber mit dem klassischen Konservatismus oder Liberalismus nur mehr wenig gemein haben.66 Als Max Weber 1920 in seiner Parteisoziologie nach Beispielen für den Typus der „sachliche(n) und ‚Weltanschauungs‘-Parteien“ sucht, spricht er explizit vom alten Konservatismus und alten Liberalismus.67
Von diesen Parteien haben sich die Deutschkonservativen am weitesten auf die Völkischen zubewegt, so weit, „that the lines between Conservatism and antisemitism became – for a time – so indistinct as to virtually disappear“.68 So berechtigt diese Feststellung sein mag: von einer feindlichen Übernahme durch den völkischen Antisemitismus, ja von einer „Entwicklung zum völkischen Nationalismus innerhalb der konservativen Partei“ oder gar zum „Präfaschismus“69 kann nicht die Rede sein. Trotz Stoecker und Tivoli-Programm ist die Deutschkonservative Partei doch viel zu sehr Interessenpartei, genauer: Partei materieller Interessen, als daß sie sich derart von ideellen Interessen, Gesinnungen und Ideologien hätte bestimmen lassen, wie dies die genannten Deutungen nahelegen. Ihr Nationalismus ist purer „Zweck-Nationalismus“ – eine Einstellung, bei der die Nation „weniger Selbstzweck als vielmehr notwendige Konzession an den Geist der Zeit“ ist, die „in erster Linie der Erhaltung des monarchischen Systems und seiner sozialen Hierarchien sowie der Förderung der Landwirtschaft dienen sollte“70; ihr Antisemitismus hat zwar ein stabileres Fundament im Ideal eines christlichen Staates, wird aber von den professionellen Judenhetzern sicher nicht grundlos als instrumentell attackiert.71 Tatsächlich bedient man sich seiner Anfang der 90er Jahre, um der lästigen Konkurrenz der Deutschreformer und Deutschsozialen den Wind aus den Segeln zu nehmen; als diese dann seit der Jahrhundertwende in die Flaute geraten, fahren auch die Konservativen ihre Rhetorik zurück. Im September 1910 läßt die Kreuzzeitung verlauten, die „Konservative Partei sei in ihrer großen Mehrheit“ davon überzeugt, daß sich der „antisemitische Passus ihres Programms praktisch nicht mehr rechtfertigen“ lasse, seien doch auch im Judentum „konservative Kräfte lebendig und wirksam, wie uns die erfreuliche Tätigkeit zahlreicher jüdischer Männer im praktischen Leben, in Wissenschaft und Kunst täglich zeigt, während die im Judentume so auffallenden destruktiven Kräfte sich leider in reichem Maße auch bei rassereinen Deutschen entwickelt haben.“72 Das Handbuch der Deutsch-Konservativen Partei wirft ein Jahr später der antisemitischen Bewegung vor, die Juden nachdrücklicher und rücksichtsloser zu bekämpfen, als dies im Wesen des Konservatismus liege, mit dem hauptsächlichen Erfolg, „daß das ganze Judentum sich jeglichen antisemitischen Bestrebungen, auch den berechtigten, gegenüber solidarisch erklärte, statt daß die früher bestandene Scheidung zwischen guten und üblen Elementen in der Judenheit sich schärfer markiert hätte.“73 Obwohl man aus taktischen Gründen auch weiterhin eine Zusammenarbeit mit den Deutschsozialen nicht ausschließt74, kann doch angesichts der Kräfteverhältnisse kein Zweifel daran bestehen, zu wessen Bedingungen dies geschieht.
So hat es alles in allem den Anschein, als sei um die Jahrhundertwende die politische Gestaltungskraft des völkischen Gedankens erschöpft. Mit den neuen großen Verbänden wie BdL oder DHV existieren nun zwar Vergesellschaftungen und Vergemeinschaftungen, die wesentliche Elemente der völkisch-antisemitischen Bewegung in sich aufgenommen haben, doch sind diese dort deutlich den Zweckinteressen nachgeordnet. In die gleiche Richtung wirkt die Milieubildung im agrarisch-protestantischen Bereich. Eine völkische Partei, die die heterogenen Interessenlagen der bäuerlichen und städtischen Schichten einerseits, des alten und des neuen Mittelstands andererseits zu überbrücken und auszugleichen imstande wäre, ist am Vorabend des Ersten Weltkriegs nur schwer vorstellbar, und so wirkt denn auch der neuerliche Zusammenschluß von Deutschsozialen und Deutschreformern 1914 zur Deutschvölkischen Partei weniger als Aufbruch, denn als Bemühen, die letzten Aktiva aus einem doppelten Konkurs zu retten.75 Zwar ist es verfrüht, wenn Friedrich Lorenzen 1912 meint, vom Antisemitismus als solchen drohe dem deutschen Volk und der liberalen Sache keine Gefahr mehr76, doch ist daran soviel richtig, daß auf dem Weg über die Parteipolitik für die Völkischen vorerst kein Weiterkommen ist.