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7. Interferenzen II: Kultur- und Lebensreform
ОглавлениеDie Hinweise auf die verschiedenen Bewegungen, in denen Völkische aktiv sind, unterstreichen noch einmal, was schon bei der Behandlung der imperialistischen und kolonialistischen Bezüge deutlich wurde: die völkische Bewegung erschöpft sich nicht in Verbänden und Parteien mit spezifisch völkischer Zielsetzung. Sie treibt vielmehr ihre Ableger auch in andere Bewegungen und Organisationen hinein, mit denen nur eine Teilidentität der Ziele besteht. Manche dieser Organisationen sind national oder nationalistisch motiviert, wie zum Beispiel der 1885 in Dresden ins Leben gerufene Allgemeine Deutsche Sprachverein, der sich von der Entfernung unnötiger Fremdwörter eine „Erhaltung und Wiederherstellung des echten Geistes und eigenthümlichen Wesens der deutschen Sprache“ verspricht und dergestalt „das allgemeine nationale Bewußtsein im deutschen Volke zu kräftigen“ hofft.1 Andere dagegen verfolgen Ziele, die es den Völkischen wohl erlauben, als ‚Trittbrettfahrer‘ (Puschner) an ihnen zu partizipieren, die aber dennoch so eigenständig sind, daß es nicht angeht, sie in toto dem völkischen Nationalismus oder einem anderen politischen Typus zuzuschlagen.
Hierher gehören die Bestrebungen zur Kulturreform, wie sie sich beispielsweise im 1902 von Ferdinand Avenarius gegründeten Dürerbund niedergeschlagen haben, einer „Gebildeten-Reformbewegung“, die sich vor allem die Rettung der „ästhetischen Kultur“ vor der zunehmenden Ökonomisierung und dem erdrükkenden Historismus zur Aufgabe macht2; zur religiösen Reform, wie sie u. a. in der von Heinrich Sohnrey inaugurierten protestantischen Dorfkirchenbewegung und diversen Bemühungen um eine Aufwertung des Diesseits, eine zeitgemäßere, das heißt meist: nationalisierte Deutung der Christusmythe (Arthur Bonus) oder eine antiklerikale, stärker laientheologische Ausrichtung (Friedrich Andersen) zum Ausdruck kommen3; oder zum Heimatschutz, dessen Anfänge bis in das Reichsgründungsjahrzehnt zurückreichen (Ernst Rudorff).4 Auch die lokalen Sittlichkeitsvereine können hierzu gerechnet werden, die im Namen des Schutzes der Jugend und der Sitten Kampagnen gegen Schmutz und Schund lancieren.5 Alle diese Verbände und die ihnen attachierten oder nahestehenden Medien, vom Kunstwart über Eckart und Türmer, die Bayreuther Blätter bis zur Dorfkirche, nehmen wohl von Anfang an auch Mitglieder und Mitarbeiter aus der völkischen Bewegung auf und tragen auf diese Weise zu einem regen Austausch von Personen und Ideen bei.6 Von völkischer Dominanz oder Hegemonie aber kann in den meisten Fällen nicht die Rede sein. Kunstwart und Dürerbund bemühen sich in gleicher Weise um eine Einbeziehung des Kulturliberalismus und des demokratischen Nationalismus7, und was die Heimatschutzbewegung angeht, so bezieht deren charakteristische Gegenstellung gegen die reflexive Modernisierung ihre Motive weit weniger aus einem chauvinistischen Nationalismus als vielmehr aus der idealistischen Ästhetik und zeitgenössischen Reformbestrebungen, wie sie etwa in der englischen arts-and-crafts-Bewegung (Ruskin, Morris) vorliegen. Der einseitigen Verbuchung dieser Bewegung auf dem Konto konservativer oder gar regressiver Ambitionen ist William Rollins mit treffenden Argumenten entgegengetreten.8
Das Ausmaß, in dem der völkische Nationalismus Themen und Motive aus diesen Reformbewegungen adaptiert, läßt sich am besten an seinem Verhältnis zur Lebensreform studieren. Diese Bewegung, die mit dem Vegetarismus und Antivivisektionismus der späten 60er und siebziger Jahre einsetzt, um sodann immer neue Triebe hervorzubringen, von der Antialkohol- über die Bodenreform- und Gartenstadtbewegung bis zur Siedlungs- und Nacktkulturbewegung9, zieht die Völkischen aus mehreren Gründen an. Zum einen bestehen von Anfang an personelle Verflechtungen, etwa in Gestalt der Brüder Förster, die nicht nur die Antisemitenpetition von 1880 / 81 auf den Weg bringen, sondern auch die vegetarischen und tierschützerischen Ambitionen ihres Bayreuther Meisters übernehmen. Bernhard Förster attackiert bereits 1882 die Pervertierung der Wissenschaften im Rahmen der Vivisektion und ruft die Leserschaft der Bayreuther Blätter zu einem Generalrevirement der Lebensführung auf.10 Sein Bruder Paul wirkt neben seiner Tätigkeit als führendes Mitglied und Reichstagsabgeordneter der Deutsch-sozialen Partei als zweiter Vorsitzender des Internationalen Vereins zur Bekämpfung der wissenschaftlichen Thierfolter (Vivisektion) und erster Vorsitzender des Deutschen Bundes der Impfgegner und engagiert sich außerdem in der Naturheilkunde-, Ernährungsreform- und Vegetarierbewegung.11
Sodann gibt es weitreichende Gemeinsamkeiten in soziokultureller Hinsicht. Wie die Völkischen haben auch die Lebensreformer ihre Schwerpunkte im nördlichen, protestantischen Deutschland (insbesondere in Sachsen) und rekrutieren ihre Anhänger in den Mittelschichten. Besonders attraktiv muß dabei den an einer Förderung des sozialen Wandels interessierten Gruppen der Völkischen der Umstand erscheinen, daß sich Adel und Bauernschaft auf diesem Feld stark zurückhalten, und daß auch innerhalb des städtischen Mittelstands das Gewicht mehr auf Aufsteigergruppen des neuen Mittelstands liegt, den staatlichen Beamten und Angestellten der Privatwirtschaft, die die „naturgemäße Lebensweise“ bewußt als Mittel einsetzen, um „ihre kulturelle Verbürgerlichung zu organisieren“.12 Während sich die Lebensreformer einerseits am Bürgertum und dessen Idealen wie ‚Persönlichkeit‘ und ‚methodische Lebensführung‘ orientieren, lassen sie auf der anderen Seite zugleich Distanz und Kritik erkennen, indem sie dem Bürgertum vorwerfen, „eine Entbindung von Kultur und Kunst aus ethischen und religiösen Deutungen“ zumindest zugelassen, wenn nicht begünstigt zu haben.13 Gegen diesen als sittlichen Verfall und Entartung perzipierten Prozeß setzen sie, genau wie die Völkischen, auf eine Verlangsamung und Abbremsung der Ausdifferenzierung selbständiger Handlungssphären, auf die Wiederbelebung der für die „erste“, die „liberale Moderne“ charakteristischen „synthetisch-harmonisierenden Denkfigur“ (Kondylis), betonen dabei allerdings sehr viel stärker deren körpergebundene Aspekte, das Gleichgewicht von Körper und Geist, Natur und Kultur.14 Eine Brücke, über die sich leicht antisemitische Deutungsmuster transportieren lassen, bildet dabei die Unterscheidung von reinen und unreinen (oder fremdartigen) Stoffen, die im Zentrum der lebensreformerischen Wirklichkeitsauffassung steht: „Während reine Stoffe nur ‚natürliche‘ sein können, gehören unreine in abgestuften Bedenklichkeitsgraden zur Zivilisation, also jenem Bereich, den Menschen in willkürlichem (‚frevelhaftem‘) Eingriff in die harmonische Welt geschaffen haben. Für alle lebensreformerischen Entwürfe ist konstitutiv, daß die selbstgeschaffene Zivilisation dadurch ihre schädliche Wirkung erzielt, daß sie die Menschen veranlaßt, unreine Stoffe zu verinnerlichen und sich zugleich vom lebensnotwendigen Austausch mit reinen Elementen abzuschließen.“15
Einen Überblick über die Verflechtungen zwischen Lebensreform- und völkischer Bewegung gewinnt man am ehesten, indem man sich an die im vorigen Abschnitt geschilderten Gesinnungsgemeinschaften und ihre Zeitschriften hält. Neben dem Deutschbund, auf dessen Aktivitäten an anderer Stelle einzugehen sein wird, hat sich vor allem der Bund deutscher Volkserzieher für die Verbreitung lebensreformerischer Ideen stark gemacht, was sich nicht nur an den Verhaltensvorschriften für seine Mitglieder (Verbot von Fleisch-, Tabak- und Alkoholgenuß), sondern auch an den Themen der Beiträge im Volkserzieher ablesen läßt. Beschränkt sich noch der erste Jahrgang weitgehend auf kulturpolitische Fragen, so kommt schon im zweiten Jahrgang (1898) die ganze Breite der Lebensreform zur Sprache. Ein A. Konrad befaßt sich mit der Ablehnung eines vegetarischen Kinderheims (Nr. 51), E. Frey mit den verschiedenen Heilmethoden (Nrn. 15 – 19, 21), H. Lietze mit dem deutschen Landerziehungsheim (Nr. 15), R. Kohn und W. Schwaner mit Medizinärzten und Naturärzten (Nrn. 47 und 49), M. May mit dem Trunk und seiner Bekämpfung (Nr. 1), Heinrich Pudor mit Fragen der Körperpflege (Nr. 47) und W. Bode mit dem Thema Volksvergiftung (Nr. 10). Im dritten Jahrgang geht es um Gegenstände wie Bodenbesitzreform (F. Wolf, Nr. 34), Gesundheitsreform (E. Schönborn, Nr. 21), die Impffrage (A. Rehse, Nr. 51), naturgemäße Lebensführung (A. Schmitz, Nrn. 7, 10, 15, 25, 26), Lichtheilverfahren (Th. Schüler, Nr. 42), Prügelpädagogik (H. K., B. Radich, Nr. 31, 34), Selbstvergiftung des Körpers (Dr. Paczkowski, Nr. 37) und Schulreform (E. Eberhardt-Humanus, Nr. 41). Und so geht es weiter, von Jahrgang zu Jahrgang. Wie sehr es der Volkserzieher versteht, sich damit ein bestimmtes Publikum zu schaffen, zeigt ein Blick in die Anzeigenseiten, auf denen für Wanderstiefel und Original-Lodenstoffe aus reiner Schafwolle geworben wird, für Säfte und Marmeladen aus der Obstbausiedlung Eden, für Reformkleidung und -schuhwerk, und nicht zuletzt für Kurheime und Heilstationen wie etwa das Sanatorium von Dr. Strünckmann in Blankenburg/Harz, das in den 20er Jahren als Schauplatz sogenannter Biologischer Wochen dienen wird.16
Vom Bund deutscher Volkserzieher spaltet sich 1907 eine Gruppe unter der Führung von Carl Weißleder und Willy Schlüter ab, die sich als Biosophischer Bund bezeichnet, Vortragsabende und Kurse über Suggestion, Hypnotismus, Lebensmagnetismus und moderne „Psychagogik“ veranstaltet sowie eine eigene Zeitschrift unter dem Titel Lebenskultur herausgibt.17 Der Bund, zu dem nach eigenen Angaben ‚Sozialisten, Individualisten, Theosophen, Vegetarier etc.‘ gehören, löst sich anscheinend bereits nach zwei Jahren wieder auf; an seiner Statt gründet Weißleder im Dezember 1910 den Schaffer-Bund, der sich als ‚Bund über den Bünden‘ versteht und das Ziel verfolgt, die unterschiedlichen Bestrebungen aller ‚Neuformer‘ zu verknüpfen und zu bündeln. 1912 vereinigt er sich mit dem ein Jahr zuvor gegründeten Deutschen Tatbund, dem u. a. Heinrich Driesmans, Fidus und der Volksschullehrer und Schriftsteller Adalbert Luntowski angehören, zum Deutschen Schaffer-Bund, der allerdings erst nach dem Weltkrieg über seine Zeitschrift Die Lebensschule breiter in die Öffentlichkeit wirkt.18 Das völkische Element zeigt sich u. a. im Untertitel dieses Blattes („Monatsschrift für deutschvölkisches Seelen-, Sippen- und Siedlungsleben“), in der Beschränkung der Mitgliedschaft des Deutschen Schaffer-Bundes auf ‚deutschblütige Menschen‘ und der Verquickung mit der Deutschsozialistischen Partei19; der lebensreformerische Zug in dem von Weißleder entworfenen ‚Schaffer-Grundplan‘, der im Rahmen eines dreistufigen Programms der Selbsterlösung auf der untersten Stufe die „Wiederherstellung des körperlichen Gleichgewichts“ via „Lebens-Reform“ vorsieht: durch „Turn- und Sportübungen, Naturheilkunde, Vegetarismus, Alkohol- und Tabakgegnerschaft, Rassenforschung usw.“20 Daß die höchste Stufe in diesem idealen Curriculum vitae im „Gottmenschentum“ gipfelt, läßt eine weitere Verbindung zur völkischen Szene erkennen, ist doch das zur näheren Bestimmung benutzte Vokabular zur Gänze dem Schrifttum der Germanischen Glaubens-Gemeinschaft entlehnt, der Weißleder als Mitglied angehört. Ludwig Fahrenkrog wiederum, das Haupt dieser Gemeinschaft, ist zugleich im Bundesvorstand des Deutschen Schaffer-Bundes.21
Starkes Engagement für lebensreformerische Ziele zeigt auch der Hauptkonkurrent der GGG, die Deutschgläubige Gemeinschaft. Ihr Mitbegründer, Ernst Hunkel, fordert schon 1904 die Völkischen auf, ihre Anhängerschaft durch Werbung bei den „Neuformern“ zu erweitern und setzt dieses Ziel ab 1914 auch publizistisch um, als er nach dem Tod von Gustav Simons dessen Zeitschrift Neues Leben. Monatsschrift für deutsche Wiedergeburt in die Hand bekommt.22 Aus dem ursprünglich rein lebensreformerischen und freiwirtschaftlichen Blatt, das die Interessenlagen der 1893 gegründeten Vegetarischen Obstbaukolonie Eden widerspiegelt, wird unter Hunkels Federführung ein Organ der DGG, das neben Abteilungen für Religion, völkische und Rassenfragen sowie Staat/Recht/Wirtschaft ständige Rubriken für Gesundheitspflege/Stammzucht (ab 1916 / 17: Lebensführung), Erziehung/Unterricht und Deutschvölkische Bewegung/Erneuerungs-Bestrebungen aufweist. 1917 gründet Hunkel über seine Frau Margart die Deutsche Schwesternschaft, die „ihre Hauptaufgabe in der Aufzucht rassisch wertvoller Kinder im Geiste deutscher Volks- und Lebenserneuerung“ erblickt23; zwei Jahre später installiert er sich mit 45 Anhängern im oberhessischen Sontra, um dort die Freiwirtschaftslehre Silvio Gesells zu verwirklichen.24 Unter den Aufnahmebedingungen der „Freiland-Siedlung Donnershag“ findet sich neben der üblichen Klausel („von jüdischem und farbigem Einschlage frei“) die folgende Passage, die die Beziehung zur Lebensreform verdeutlicht:
„In unsere Gemeinde soll kein fremder und falscher Ton mehr hereinklingen; und wer die Brücken, die ihn mit der seelenverpestenden und nervenzerrüttenden Zivilisationswelt verbanden, so weit abgebrochen hat, daß er sich in unseren Lebenskreis begibt, dem wird es auch nicht schwer werden, der Hüterin des fremden Glaubens den Abschied zu geben und sich mit den Seinen ganz und gar auf den Grund der Heimat zu stellen. Aus der deutschgläubigen Grundgesinnung folgt als eine Selbstverständlichkeit die Tat der Lebenserneuerung auch in Wohnung, Kleidung, Nahrung und Genuß, frei von engem Eiferertum und äußerlichen Bindungen, aber fest verankert im Gemeinschaftsgewissen und in der Verantwortung für die völkische Kraft und Gesundheit, getragen von Sehnsucht nach Reinheit und Lebensadel. Angedeutet ist dieses Streben in der Bestimmung, daß Schlächtereien und Verkaufsläden für Rauschgetränke und Tabak auf dem Siedlungsgelände grundsätzlich nicht eingerichtet werden dürfen.“25
Während Gruppen wie der Biosophische Bund, der Schaffer-Bund und die Germanisch- und Deutschgläubigen eher zur Peripherie der völkischen Bewegung gerechnet werden müssen, befindet sich der um die Zeitschrift Hammer gruppierte Bund mitten im Zentrum. Schon ein flüchtiger Blick läßt die hohe Aufmerksamkeit erkennen, die man hier den Themen der Lebensreform widmet. Die Zeitschrift mit dem Untertitel „Monatsblätter für deutschen Sinn“, so erläutert der Herausgeber, stehe außerhalb jeder politischen Partei-Tendenz, sie befürworte „alle Reform-Bestrebungen“, die aus „wahrhaft nationalem Geiste“ geboren seien und auf eine „Gesundung“ des deutschen Volkes „an Leib und Seele“ hinzielten.26 Entsprechend begegnet man Artikeln über „Ernährungs- und Gesundheitsfragen“ (1903), „Forderungen der germanisch Gesinnten für Erziehungs-Reform in den höheren Schulen“ (1905), „Die Kultur der Entarteten“ (1905), „Besteuerung des Bodens nach gemeinem Wert“ (1906), „Lesegift und Leserausch“ (1908), „Kunst und Wissenschaft im Zeitalter der Perversität“ (1908), „Stadt und Land in der Zukunft“ (1909), „Ursachen der Degeneration“ (1910) usf. Daß es sich dabei keineswegs um ein vorübergehendes Interesse handelt, zeigt noch viele Jahre später der Beitrag eines engen Mitarbeiters von Fritsch, Paul Lehmann, der eine unauflösliche Verbindung zwischen Lebensreform und völkischem Gedanken postuliert: „wer sich zum völkischen Gedanken und Ziel bekennt, muß Lebensreformer sein. Wer es nicht ist, ist nicht völkisch im Geiste und in Wahrheit, sondern mit dem Munde“.27
Fritsch selbst ist für dieses Ziel immer wieder mit Beiträgen eingetreten: so bereits 1896 mit seiner Schrift über Die Stadt der Zukunft28, und so mit immer neuen Artikeln im Hammer, die für die 1904 gegründete Deutsche Erneuerungs-Gemeinde werben, aus der vier Jahre später die Siedlungsgesellschaft „Heimland“ hervorgeht.29 Unterstützt wird er dabei von zahlreichen Mitarbeitern, die sich darum bemühen, mit Berichten, Kommentaren und Kritiken Verbindungen zu den verschiedenen Strömungen der Lebensreform zu knüpfen. Zu ihnen zählen Apostel der Nacktkulturbewegung wie Heinrich Pudor, der sich im Hammer allerdings meist zu unverfänglicheren Themen wie etwa „Die Über-Entwicklung des Gehirns und die Ziele der Kultur“ äußert30, für eine Schulreform eintretende Lehrer wie Josef Stibitz31, an Ernährungsfragen Interessierte wie der Sanitätsrat Gustav Stille32, Biosophen wie Willy Schlüter33, vor allem aber der neben Fritsch und Beta produktivste Autor des Hammer, der bereits erwähnte Willibald Hentschel, der in immer neuen Anläufen alle nur denkbaren Themen der Lebensreform umkreist. In einer siebenteiligen Artikelserie über Gründe und Abgründe des Verfalles, die zwischen April und Juli 1906 erscheint, prangert er etwa die „Höllenfahrt“ an, „wie sie die hinter uns liegende industrielle Raub-Epoche mit ihrer Fusel- und Phrasenwirtschaft, mit ihrem Wucher und ihrer Volksausbeutung“ darstelle. Die modernen Städte, so sein Vorwurf, züchteten den „Typus des sinkenden Menschen“, der mit seiner ungesunden Ernährung – zuviel Fleisch, zuviel Fett, zuviel Zucker und zuviele „Nervengifte“ wie Alkohol, Tabak, Tee, Kaffee und Morphium – nicht nur den eigenen Körper schädige, sondern auch den nachwachsenden Generationen eine schwere und stets anwachsende Hypothek aufhalse. Dagegen seien die Verdienste der Reformer zu begrüßen, vom Vegetarismus über die Naturheil- bis hin zur Kleiderreformbewegung, auch wenn diese letztlich nicht weit genug gingen und zum Beispiel nicht das „Kleiderwesen als Ganzes“ in Frage stellten, das, zusammen mit dem falschen Ernährungs- und Wohnungswesen, die Völker „semitisiert“.34 Was Hentschel propagiert, ist also eine Verbindung von Lebensreform und Antisemitismus, die sich nicht in einer Rücknahme der Emanzipation erschöpft, vielmehr eine Art Sedimentierung des jüdischen beziehungsweise „semitischen“ Wesens in der Kultur behauptet und dessen Austilgung durch Revolutionierung der Lebensweise verlangt.
Der Hammer-Kreis beläßt es nicht bei der Formulierung solcher Botschaften. Er bemüht sich auch um deren Verbreitung. Das geschieht zum einen über die bereits dargestellte Bildung von Hammer-Gemeinden, die durch Vortragsveranstaltungen und Flugblattaktionen auf ihre Ziele aufmerksam machen, zum andern mittels einer Strategie, die man am besten als Interpenetration bezeichnet. Sehr im Gegensatz etwa zur Medienpolitik eines Stefan George, der strikt auf Geschlossenheit seines Kreises achtet und nicht selten mit Mitarbeitern bricht, wenn diese in fremden Zeitschriften oder Anthologien publizieren, ermuntert Fritsch seine Autoren geradezu, ihre Ideen auch anderwärts auszubreiten; wie er umgekehrt den Hammer auch für Autoren öffnet, die fest in anderen Organen beziehungsweise Verbänden verankert sind. So schreibt Ottomar Beta nicht nur in den Bayreuther Blättern (1903, 1906, 1909), sondern auch in der Politisch-Anthropologischen Revue oder dem Volkserzieher, wo auch Heinrich Pudor publiziert. Ernst Wachler betreibt seit der Jahrhundertwende eine ganze Reihe eigener Zeitschriftenunternehmen: Der Kynast, Deutsche Zeitschrift, Iduna (1898 – 1906). Er selbst sowie Fritsch, Beta und Stauff schreiben darüber hinaus im Rechtshort, einer von Johannes Lehmann-Hohenberg (1851 – 1925) zwischen 1905 und 1910 herausgegebenen Zeitschrift, die sich vor allem den Kampf gegen das römische Recht zur Aufgabe gemacht hat.35 Im Hammer wiederum publizieren: das Mitglied der lebensreformerischen Siedlungsgenossenschaft Eden, Gustav Simons, der mit der Zeitschrift des Deutschen Kulturbundes, Neues Leben, über ein eigenes Organ verfügt, dessen Spalten für Autoren des völkischen Spektrums weit offen stehen; der „Arionudist“ und Herausgeber von Ostara, Jörg Lanz von Liebenfels; die Herausgeber von Zeitschriften wie Politisch-Anthropologische Revue (Otto Schmidt-Gibichenfels), Bayreuther Blätter (Hans von Wolzogen), Deutsche Kultur (Heinrich Driesmans) oder Der Kunstwart (Ferdinand Avenarius), Mitglieder des Volkserzieher-Kreises um Wilhelm Schwaner, wie dieser selbst und Willy Schlüter, seinerseits Schriftleiter von Zeitschriften wie Lebensreform (1911) und Deutsches Leben (1912).
Der Effekt solcher Strategien ist gewiß nicht gering zu veranschlagen. So gelingt es mit ihrer Hilfe zweifellos, dem völkischen Ideengut eine gewisse Respektabilität in bürgerlichen Kreisen zu verschaffen. In bezug auf das Ziel hingegen, die völkisch-antisemitische Deutungskultur durch Einwirkung auf die Lebensweise abzustützen und so ein spezifisches Milieu zu schaffen, ist Skepsis geboten. Schon die Lebensreform selbst hat, ungeachtet der ihr widerfahrenen öffentlichen Beachtung, nur Segmente der deutschen Bevölkerung zu erfassen vermocht, wie die Zahl von etwa 330 000 Mitgliedern für die Antialkoholbewegung oder von 100 000 Mitgliedern für die Bodenreformbewegung belegt, den beiden quantitativ bedeutendsten Strömungen der sogenannten „peripheren“ Lebensreform. Die Naturheilbewegung bringt es 1913 auf 885 Vereine mit 148 000 Mitgliedern, wohingegen die Anhängerschaft des Vegetarismus und der Nacktkulturbewegung deutlich geringer ausfällt. Der Deutsche Vegetarier-Bund zählt 1905 / 06 knapp über anderthalbtausend Mitglieder, die erste reichsweite Nudistenvereinigung zwanzig Jahre später eben zweitausend.36 In all diesen Verbänden, so der Befund Wolfgang Krabbes, fassen zwar völkische Vorstellungen seit Ende des 19. Jahrhunderts Fuß, sind „hierbei allerdings – insgesamt gesehen – von nur mäßiger Erheblichkeit“. Sehe man von der Nacktkulturbewegung und dem Leserkreis des Hammer ab, so „ließen sich unter den Lebensreformern selten militant-völkische Konzeptionen nachweisen.“37 Zu einem ähnlichen Ergebnis sind auch verschiedene Einzeluntersuchungen über die Tierschutz-, Antivivisektions- und Naturheilkundebewegung gelangt.38
Die Gründe für diese mangelnde Resonanz sind zum einen außerhalb der Völkischen zu suchen: in dem Umstand, daß es erheblicher Anstrengungen bedarf, um eine Lebensführung auf lebensreformerischer Grundlage zu organisieren, Anstrengungen, wie sie eher von Virtuosen als von der Masse zu erwarten sind; in der Existenz von konkurrierenden – sozialistischen, anarchistischen, radikaldemokratischen oder sogar ‚liberalkonservativen‘ – Einstellungen innerhalb der Lebensreformbewegung, zu denen namentlich bei den Ernährungsreformern pazifistische und internationalistische Motive hinzukommen; in der Neigung der Verbandsleitungen, sich parteipolitisch und konfessionell neutral zu halten.39 Zum andern tragen die Völkischen selbst nicht wenig dazu bei, daß man Distanz zu ihnen hält. Gegenüber den Bodenreformern etwa lassen sich Fritsch, Beta und Hentschel immer wieder zu beißenden antisemitischen Attacken hinreißen40, und das, obwohl deren Parole „Weder Mammonismus noch Kommunismus!“ ganz gut ins völkische Konzept paßt.41 Den Naturheilern mit ihrer „barocken Reaktion gegen die Schulmedizin“ wirft Hentschel vor, das Leben durch „pedantische Sorge um die Gesundheit“ in seiner Klangfarbe herabzusetzen und zu verhäßlichen; den Vegetariern hält er entgegen, „daß man durch Gartenstädte, Obst- und Gemüsebau oder ähnliche gute Dinge kein im Sinken begriffenes Volk auf der Höhe erhalten kann.42 Beide Strömungen setzten am falschen Ende an, indem sie eine „Herabsetzung der Ausgabeposten“ anstrebten und dem „Kulturbrande“ zu entfliehen versuchten. „Nun mögen sie in manchen Stücken recht haben, denn vieles, was einen sehr großen Aufwand an rassischer Energie erfordert, ist es sicher nicht wert, und es wäre eine Wohltat, wenn man das viele Dumme und Häßliche, was sich bei uns eingeschlichen hat und an unseren Kräften zehrt, beseitigen könnte – nur dürfen wir dabei das Kind nicht mit dem Bade ausschütten; wir dürfen nicht vergessen, daß wir im Wettbewerbe mit den anderen Völkern, im Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität leben, und daß unsere Schicksale in gesteigertem Maße durch technische Erfolge bedingt und bestimmt werden; ein reines Bauernvolk könnte sich an unserer Stelle nimmer erhalten.“43 Für Lebensreformer, die dies nicht wahrhaben wollen, ist der studierte Chemiker und Biologe, der sich noch im hohen Alter an der Konstruktion eines Rückstoßmotors versucht, denn auch schnell mit Vokabeln wie „Friedensschwärmer und Judenfreunde“ bei der Hand.44
Hinzu kommt, daß er seine eigenen lebensreformerischen Ambitionen mit einem Projekt verknüpft, das einen Frontalangriff auf eingelebte Moralvorstellungen der bürgerlich-christlichen Welt verkörpert, die auch bei den meisten Lebensreformern außerhalb der Disposition stehen: der Anlage von ‚Menschen-Gärten‘, die als Stätten rassischer Hochzucht für die völkische Oberschicht fungieren sollen. Die Mittgart-Gemeinden, von denen Hentschel träumt, sollen jeweils tausend Frauen und hundert Männer mit langen Schädeln und blonden Haaren vereinen, Merkmalen, die vermeintlich das Vorhandensein innerer Qualitäten wie Kraft, Tatenfreude, Schöpfertum und dergleichen indizieren. Sie sollen auf dem Land angesiedelt sein, um ihre Mitglieder vor den Gefahren der städtischen Zivilisation (wie Alkohol, Nikotin und Begriffsjurisprudenz) zu schützen; sie sollen auf Groß- und Gemeinwirtschaft beruhen und sich ganz auf ihr oberstes Ziel konzentrieren: die „gesteigerte Fortzeugung der Tüchtigen“, die sich Hentschel vor allem von der Einführung der sogenannten Mittgart-Ehe erhofft: einer auf Zeit geschlossenen Verbindung, die mit der Schwängerung endet.45 Die vom Christentum propagierte unauflösliche Einehe wird dagegen als ‚teuflisches Werkzeug der Zerstörung‘ perhorresziert.46
Obwohl dieses Projekt nicht über die Gründung einiger Ortsgruppen des Mittgart-Bundes hinauskommt47, löst es doch eine aufgeregte Debatte aus, in der selbst die meisten Völkischen auf Distanz zu Hentschel gehen. In der (freilich nur zum Teil dem völkischen Spektrum zuzurechnenden) Politisch-Anthropologischen Revue wird Hentschels Varuna von Ludwig Wilser als Machwerk attackiert, das dem Ansehen der „wahrhaft wissenschaftlichen Rassenlehre“ abträglich sei.48 Ludwig Kuhlenbeck befürchtet, Weltverbesserer in der Art Hentschels würden mit ihren Ideen „eine gesunde realpolitische Inangriffnahme der Rassenfrage nur in Mißkredit bringen, ja lächerlich machen.“49 Der Hammer, der einmal angetreten war, das in Hentschels Elaboraten skizzierte Programm auszuarbeiten, sieht sich 1908 zur Distanzierung genötigt und verordnet seinem Autor eine mehrjährige Ruhepause.50 Schon zuvor hatte Ottomar Beta grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit geübt, „Zuchtidealen zum Ausdruck in der Gesetzgebung zu verhelfen“ und empfohlen, „das ganze Gebiet als Privatsache gelten zu lassen.“51 Ludwig Schemann würdigt wohl Hentschels Leidenschaft für die arische Idee, hält es aber für höchst bedenklich, „ihr durch Polygamie wieder aufzuhelfen.“ „Gobineau würde darin nur ein Zeichen erkannt haben, daß die Dekadence, die zu solchen Mitteln greife, auf ihrem Gipfel angelangt sein müsse. Der Mann, der den Lobgesang auf die germanische Frau geschrieben hat […], hätte zweifellos in deren Degradierung das denkbar ungermanischste Rettungsmittel gesehen“. Selbst wenn die Rettung gelänge, sei doch fraglich, „ob dann die Arier wirklich noch das blieben, was sie jenem einstens waren, ob solche Weiße überhaupt der Rettung noch wert wären? oder ob man eine Generation nicht besser ihrem Schicksale überließe, die angeblich nur noch die Wahl hätte zwischen Dekadence, Perversität, Ausschweifungen aller Art und freier Liebe, menschlicher Rassenzüchterei, fécondation artificielle und ähnlichen schönen Dingen, wie wir sie jetzt vielfach als etwas ganz Normales, ja zu Erstrebendes behandelt sehen können.“52 Auch Max Robert Gerstenhauer erklärt die Zuchtbestrebungen Hentschels für kontraproduktiv: „Man gefährdet dadurch leicht gerade die besten Grundlagen gesunder Rassenentwicklung, die gute Sitte und die religiösen Anschauungen, die jeden derartigen Eingriff für unzulässig erklären.“53 Noch viele Jahre später, nachdem Hentschel längst eine deutlich abgeschwächtere Version in Gestalt seines Artam-Projekts präsentiert hat, glaubt sich der Organisator der hieran anknüpfenden Artamanenbewegung, August Kenstler, zur Klarstellung genötigt, „daß wir mit Willibald Hentschel in keiner Verbindung stehen, sondern nur aus seinem öffentlichen Aufruf ‚Was soll nun aus uns werden?‘ das von ihm geprägte Wort ‚Artam‘ aufgegriffen haben.“54