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4. Interferenzen I: Kolonialbewegung und Alldeutsche
ОглавлениеDie neuere historische Forschung hat den Blick auf die 90er Jahre als die Zeit einer „allgemeine(n) Neustrukturierung der Öffentlichkeit“ gelenkt, einer „fundamentale(n) Neukonstituierung der politischen Nation“.1 Tatsächlich beginnt dies jedoch schon in den 80er Jahren, wie die ‚Berliner Bewegung‘, die Böckel-Bewegung in Hessen und die Vorgänge in Sachsen zeigen, die im voranstehenden Kapitel skizziert wurden. Ebenfalls in diese Zeit fallen die Anfänge der Kolonialbewegung, mit der sich die völkische Bewegung in vielem überschneidet, ohne mit ihr identisch zu sein. Die Physik bietet für solche Konstellationen den Begriff der „Interferenz“ an, womit die „Gesamtheit der charakteristischen Überlagerungserscheinungen“ bezeichnet wird, „die beim Zusammentreffen zweier oder mehrerer Wellenzüge (…) mit fester Phasenbeziehung untereinander am gleichen Raumpunkt beobachtbar sind.“2 Wie bei jeder Entlehnung naturwissenschaftlicher Konzepte sind bei der Übertragung in den politisch-gesellschaftlichen Bereich Abstriche zu machen, trifft doch dort, wie sich zeigen wird, die Bestimmung nicht zu, daß bei Interferenzen keine Wechselwirkung der Einzelwellen festzustellen ist. Nützlich ist der Begriff jedoch insofern, als er signalisiert, daß es sich um die zeiträumliche Kopräsenz zweier verschiedener Bewegungen handelt, die durch ihr partielles Zusammenfallen nicht in ihrer Eigenständigkeit tangiert werden.
Mit der Kolonialbewegung, deren geistige und politische Wurzeln bis zu den vor- und nachmärzlichen Diskussionen über die Migrationsproblematik, den Aufbau einer Seemacht und den Gewinn von Handelsstationen und Siedlungsgebieten zurückverfolgt werden können3, scheint die völkische Bewegung auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu haben, hat man ihr doch noch jüngst attestiert, daß „außereuropäische Kolonien in den völkischen Zukunftsplänen keine Rolle spielten oder zumindest nur von peripherer Bedeutung waren.“4 Gewiß läßt sich manches so interpretieren. Ein Adolf Wahrmund etwa hat sich wie Lagarde für eine „Rückkehr zur vorwiegenden Ackerbauwirthschaft und vernünftigen Beschränkung der industriellen Produktion, wie des Exports und Imports“ ausgesprochen und eher eine „Bändigung und Regelung des ‚Verkehrs‘“ anvisiert als eine weitere Förderung der kapitalistischen Dynamik, aus der der moderne Imperialismus resultiert.5 Julius Langbehn redet zwar von „Deutschlands Weltherrschaft“, will diese aber nur als eine „innerliche“ verstanden wissen.6 Theodor Fritsch äußert sich anfangs skeptisch hinsichtlich des Nutzens der Kolonialpolitik7, Heinrich Pudor äußert Bedenken, „solange wir im eigenen Lande genug zu kolonisieren haben“8, und Houston Stewart Chamberlain geht gar so weit, im Imperialismus beziehungsweise Universalismus eine dem germanischen Wesen fremde und von ihm allererst überwundene Erscheinung zu sehen – eine Behauptung, die dann von prominenten Völkischen während des Burenkriegs gegen die Briten ins Feld geführt wird, denen man vorwirft, das Germanentum römischen und/oder jüdischen Einflüssen geopfert zu haben.9
Von Anfang an werden diese Stimmen indes von einem breiten Chor übertönt, der eine ganz andere Melodie anschlägt. Man denke nur an den bereits erwähnten Neu-Germanien-Plan Bernhard Försters, an Ernst Henrici, der nach seiner ersten Togo-Reise 1887 die Nachtigal-Gesellschaft für vaterländische Afrikaforschung gründet und sich selbst (mit katastrophalem Erfolg) als Plantagengründer versucht, und nicht zuletzt an die propagandistischen Aktivitäten des späteren Deutschbund-Gründers Friedrich Lange, der sich ab 1883 in der Täglichen Rundschau für verstärkte Kolonialtätigkeit Deutschlands einsetzt, sich 1884 an der Gründung der Gesellschaft für deutsche Kolonisation beteiligt und für die Finanzierung der Ostafrikaexpeditionen Carl Peters’ und Graf Pfeils wirbt.10 Zwar gibt er die Zusammenarbeit mit Peters wegen anhaltender Meinungsverschiedenheiten schon Ende 1885 wieder auf, doch bleibt die Agitation für eine weit ausgreifende Kolonial- und Weltpolitik des Reiches auch später eines seiner Steckenpferde. In seinen 1898 und 1899 vor dem Deutschbund gehaltenen „Hermannsreden“ verlangt er die „politische Mobilmachung der gesamten nationalen Bewegung“, um Deutschlands „Anspruch auf die Weltherrschaft“, auf die „Meisterung der ganzen Erde“ durchzusetzen.11 Der Deutschbund verpflichtet sich explizit, „der Sicherung deutschen Ansehens in aller Welt, der Wahrung deutscher Gemeinbürgschaft mit den Deutschen jenseits der Reichsgrenzen (sowie) deutschem Aufstreben durch Landmacht, Flotte und Kolonialerwerbungen“ zu dienen.12
Ideen dieser Art finden sich auch im Kreis um die Antisemitische Correspondenz und ihr Nachfolgeorgan, die Deutsch-Sozialen Blätter. Theodor Fritsch schiebt seine anfänglichen Bedenken bald beiseite und befürwortet die Einrichtung von Kolonien als „Absatz-Gebiete […] für die Ueber-Produktion aus gewerblichen und industriellen Erzeugnissen Deutschlands“; die zu große Nachgiebigkeit Deutschlands gegenüber England wird mit einer Heftigkeit kritisiert, die kaum hinter der alldeutschen Propaganda zurücksteht.13 Fritschs Mitarbeiter Willibald Hentschel (1858 – 1947), ein promovierter Chemiker und Schüler Haeckels, der seit 1882 in der sächsischen Antisemitenszene aktiv ist14, gehört zwar nicht zu den Kolonialideologen im engeren Sinne, verfügt dafür aber über einschlägige praktische Erfahrungen: 1885 / 86 nimmt er an einer der Ostafrikaexpeditionen des Grafen Pfeil teil.15 Erwin Bauer, der Herausgeber des deutsch-sozialen Zwanzigsten Jahrhunderts, bezeichnet sich als „Anhänger einer großen nationalen Kolonialpolitik“ und nimmt aus seiner Kritik am Alldeutschen Verband die kolonialpolitischen Bestrebungen ausdrücklich aus.16 Auch Ernst Wachler (1871 – 1945), später einer der wichtigsten Autoren des Hammer und von 1898 bis 1902 Mitglied im Hauptausschuß des Vereins für das Deutschtum im Ausland, tritt in seiner Zeitschrift Iduna nicht nur für die „festere Einigung Mittel-Europas unter deutscher Vorherrschaft“ ein, sondern auch für die folgenden Ziele: „Stärkung der Machtmittel von Heer und Flotte. Kräftigung und Ausbreitung des Deutschtums über See. Reform der deutschen Kolonialpolitik (Erwerb neuer Siedelungsgebiete außer den Handelskolonien).“17 Bei den sogenannten Hottentottenwahlen von 1907 stellt sich die Deutsche Reformpartei rückhaltlos hinter den Kurs einer „gesunden Kolonialpolitik“.18
Eine explizite Verknüpfung von völkisch-antisemitischen und national-imperialistischen Motiven nimmt der Berliner Schriftsteller Ottomar Beta (1845 – 1913) vor, der seit September 1889 zum engeren Mitarbeiterkreis Fritschs zählt. Aufgewachsen in England, ist Beta von der Vorstellung beherrscht, daß das 1871 gegründete Reich ein ganz unfertiges Gebilde sei, das weder in rechtlicher noch in wirtschaftlicher oder sozialer Hinsicht ein wirklicher Nationalstaat sei, der imstande wäre, es mit einer Weltmacht wie England aufzunehmen. Als wichtigstes Handicap gilt ihm das römische Recht, das mit der Kodifikation des BGB noch einmal in Deutschland zur Herrschaft gebracht worden sei. Dieses Recht führe zu einer Mobilisation des Bodens und begünstige die Bodenspekulation, welche sowohl die Landwirtschaft in einen Teufelskreis der Verschuldung treibe, als auch das industrielle Kapital in seiner Entwicklung behindere. Zugleich gerate Deutschland auf diese Weise in die Abhängigkeit von Mächten, die von derartigen Hemmungen frei seien: England und Juda. Das deutsche Volk, so Beta, habe die Kontrolle über seinen Boden, diese wichtigste Grundlage aller Nationalwirtschaft, an fremde Mächte verloren, es wohne im eigenen Land nur noch zur Miete und gerate auch geistig-kulturell immer mehr in einen Zustand der „Wohnungslosigkeit“.19
Um „Judas Macht“ zu brechen, welche längst nicht mehr nur das Finanz- und Bankkapital, sondern auch die Presse, die Literatur, die Theater umfasse, bedürfe es eines neuen Rechts, dessen Vorbild Beta paradoxerweise im mosaischen Recht mit seiner Idee eines Stammeseigentums an Grund und Boden zu erkennen meint. Nötig sei eine allgemeine Entschuldung, etwa im Sinne von Rodbertus, der eine Umwandlung sämtlicher Hypotheken- in Rententitel vorgeschlagen hatte, eine Neugestaltung des Kreditwesens, die teils auf dem Wege einer „Verstaatlichung des Realkredits“, teils durch Bildung von Kreditgenossenschaften nach dem Vorbild Raiffeisens zu erreichen sei, und nicht zuletzt eine Stabilisierung der Besitzverteilung durch Ausdehnung der bis dahin dem Adel vorbehaltenen Institutionen des Majorats und des Fideikommisses auf den Klein- und Mittelbesitz, der auf diese Weise dem Markt entzogen werde.20 Damit könne die Steuerquote gesenkt und das Konsumniveau der breiten Masse gehoben, der unproduktive Klassenkonflikt stillgestellt und eine „Solidarität der gesammten werkthätigen Bevölkerung, der Arbeiter, Unternehmer und Grundherren“ begründet werden, die Deutschland in die Lage versetzen werde, erfolgreich auf dem Weltmarkt zu agieren und England aus seiner Führungsstellung zu verdrängen.21 Daß dies trotz des gegenwärtig geringen auswärtigen Besitzstandes des Reiches möglich sei, ist Betas feste Überzeugung. Weltmächte, heißt es in einem frühen Aufsatz, könne es jeweils nur drei geben. Da zwei Positionen bereits mit Amerika und Rußland besetzt seien, komme als dritte Macht von vergleichbarem Potential nur Europa in Frage, für dessen Führung letztlich allein Deutschland als der „Stamm Europa’s“ über die nötigen Voraussetzungen verfüge.22 Entsprechend begeistert kommentiert Beta nach der Jahrhundertwende die Flotten- und Weltpolitik des Kaisers als endliche Durchbrechung der „binnenländische(n) Befangenheit“ der Deutschen.23
Angesichts des Einflusses, den die Antisemitische Correspondenz und die Deutsch-Sozialen Blätter auf die völkisch-antisemitischen Parteien haben – die Deutsch-Sozialen Blätter firmieren im Untertitel als offizielles „Organ der deutsch-sozialen Partei“ – überrascht es nicht, auch in den Parteiprogrammen auf ähnliche Forderungen zu stoßen. Schon die Antisemitische Vereinigung verlangt 1887 in ihrem Programm unter Punkt 18: „Kolonisation: Eine tatkräftige und zielbewußte, auf Erwerb von Handels- und Ackerbaukolonien gerichtete Kolonialpolitik; Einrichtung von überseeischen Strafkolonien, Beförderung der inneren Kolonisation“; das Programm der Deutsch-sozialen (antisemitischen) Partei von 1893 wiederholt diesen Passus fast wörtlich.24 Die konkurrierende Antisemitische Volkspartei Böckels erwähnt zwar 1890 in ihren Leitlinien die Kolonialpolitik mit keinem Wort, ordnet sich aber bei der Vereinigung auf diesem Gebiet den Deutschsozialen unter. In ihrem Programm von 1895 verlangt die Deutsch-soziale Reformpartei unter Punkt 18: „Erhaltung und Erwerbung von Handels- und Ackerbaukolonien, Errichtung überseeischer Strafansiedelungen für rückfällige Verbrecher, Beförderung der inneren Kolonisation zur Stärkung des Deutschtums, kräftigen Schutz der Deutschen im Auslande, Verbesserung des Konsulatswesens, Schaffung eines Reichsauswanderungsgesetzes mit dem Hauptziele einer nationalen Regelung der deutschen Auswanderung.“25
Überzeugungen dieser Art haben die Völkischen wie von selbst in die nationalimperialistischen Agitationsvereine geführt, die zur gleichen Zeit wie die eigenen Verbände und Parteien entstehen: den Deutschen Kolonialverein (1882), die Gesellschaft für deutsche Kolonisation (1884), die aus der Verschmelzung beider Verbände hervorgehende Deutsche Kolonialgesellschaft (1887) und vor allem den maßgeblich von Exponenten der Kolonialbewegung bestimmten Alldeutschen Verband (1891), der sich in seinem Gründungsaufruf für die „Belebung des vaterländischen Bewußtseins“, die „Pflege und Unterstützung deutsch-nationaler Bestrebungen“, die „Förderung einer tatkräftigen deutschen Interessenpolitik“ und insbesondere auch die „Fortführung der deutschen Kolonialbewegung zu praktischen Ergebnissen“ einsetzt.26 Von den Reichstagsabgeordneten, die dem Alldeutschen Verband (ADV) bis 1914 angehören, zählen 15 % zur Deutsch-sozialen Partei beziehungsweise 9 % zur Wirtschaftlichen Vereinigung; prominente Repräsentanten der Deutschsozialen wie Liebermann von Sonnenberg und Ludwig Werner gehören zu seinen Gründungsmitgliedern und agieren gelegentlich als sein Sprachrohr im Reichstag.27 Andere ADV-Mitglieder aus der völkisch-antisemitischen Szene sind die Deutschsozialen Paul Förster, Friedrich Raab, Wilhelm Schack, Ludwig und Ernst Graf Reventlow und Wilhelm Lattmann, der 1911 Liebermann im Parteivorsitz nachfolgt, sowie die Deutschreformer Oswald Zimmermann und Ferdinand Werner, der spätere Vorsitzende der Deutschvölkischen Partei, die 1914 aus der (Wieder-)Vereinigung von DSP und DRP hervorgeht.28 Hinzu kommen aus den Verbänden Max Robert Gerstenhauer und Paul Langhans (Deutschbund), Alfred Roth (Reichs-Hammerbund), Ludwig Schemann (Gobineau-Vereinigung) sowie Publizisten mit multiplen Zugehörigkeiten wie Philipp Stauff, Adolf Bartels, Theodor Fritsch und Reinhold Wulle.29 Auch wenn sich die meisten dieser Verbindungen erst in den 90er Jahren und später kristallisieren, wird doch die Basis dafür bereits früher gelegt.
Im Gegenzug engagieren sich prominente Alldeutsche in völkisch-antisemitischen Verbänden und publizieren in entsprechenden Organen. Fritz Bley (1853 – 1931), seit 1899 Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses des ADV, gehört zum Vorstand des Verbandes gegen Überhebung des Judentums, stellt in Ernst Wachlers Kynast den Alldeutschen Verband vor und meldet sich auch im Hammer zu Wort.30 Paul Dehn (1848 – 1938), bis 1923 Vorstandsmitglied der Hamburger Alldeutschen und seit 1919 auch im Gesamtvorstand des ADV, porträtiert in den Deutsch-Sozialen Blättern den Verband gegen Überhebung des Judentums und steuert zwischen 1903 und 1905 mehrere Artikel für den Hammer bei.31 Ebenfalls mit mehreren Texten ist der Wilmersdorfer Regierungsrat Kurd von Strantz (1863 – 1949) im Hammer vertreten, der im ADV zu den schrillsten Verfechtern einer Expansion Deutschlands auf Kosten Frankreichs gehört.32 Der Privatdozent und politische Schriftsteller Albrecht Wirth, seit 1900 im Vorstand des ADV, schreibt im Hammer und im Volkserzieher.33 Heinrich Claß, ab 1908 Vorsitzender des ADV, ist von 1894 bis 1900 Mitglied des Deutschbundes.34
Befunde dieser Art werden in der Forschung freilich meist etwas zu schnell zum Anlaß genommen, den ADV en bloc zu einem Repräsentanten der völkischen Ideologie oder gar zu einem Teil der völkischen Bewegung zu erklären und diese wiederum als Erscheinungsform eines neuen „radikalen Nationalismus“ zu interpretieren.35 Gewiß gibt es ein nicht unerhebliches Maß an Übereinstimmungen: im ethnischen Nationsverständnis36, im Wunsch nach einer geschlossenen, die Kräfte der ‚Zivilisation‘ überformenden und sie integrierenden Nationalkultur37, in der Wendung zu einem „imperialistischen Nationalismus“38, dessen wirtschafts- und bevölkerungspolitische Aspekte so eng verknüpft sind, daß Dichotomien à la „Weltpolitik“ versus „Lebensraum“ fehl am Platze sind.39 Aber erstens ist dies alles nicht neu, sondern steht in Kontinuität mit der sehr viel älteren Tradition des liberalen Nationalismus40, und zweitens weist der ADV eine Reihe von Zügen auf, die für den aus dieser Tradition entspringenden ‚alten‘ Nationalismus und nicht für den völkischen typisch sind.
In sozialer Hinsicht ist er, wie schon sein Vorgänger, die Deutsche Kolonialgesellschaft, vom besitzenden und gebildeten Bürgertum geprägt41, genauer: von dessen ehemals liberalen und nun zunehmend nach rechts rückenden Segmenten, wohingegen die völkischen Verbände ihren Schwerpunkt eher in kleinbürgerlichen Schichten haben; die zentrale Leitung liegt in den Händen der sozialen Führungsgruppen des Kaiserreichs und repräsentiert ein beachtliches Machtpotential, während die Völkischen vielfach von entwurzelten, proletaroiden Intellektuellen geführt werden. Zumal auf außenpolitischem Gebiet bedingt dies einen sehr unterschiedlichen Politikstil, der die Alldeutschen bisweilen nötigt, sich von der ebenso maß- wie hemmungslosen Agitation der Völkischen zu distanzieren.42 Auf zeitlicher Ebene entspricht dem eine den ‚Fortschritt‘ nicht nur akzeptierende, sondern enthusiastisch begrüßende Einstellung, wie sie etwa in Carl Peters’ Jugendwerk hervortritt, das den ‚Weltproceß‘ als eine in steter Steigerung begriffene teleologische Entwicklung deutet und für einen „verklärten und veredelten Optimismus“ eintritt, der noch im Spätwerk der Bewunderung für Englands zivilisatorische Leistung zugrundeliegt.43 In sachlicher Hinsicht endlich dominiert die Überzeugung, daß als mächtigstes Vehikel dieses Fortschritts die Akkumulation des Kapitals gelten muß, auch und gerade, wo sie durch Konzentration und Zentralisation gewaltige Disparitäten erzeugt. Für Treitschke, der den Alldeutschen zahlreiche Stichworte geliefert hat, ist diese Zentralisation schlechterdings heilsam, sei doch „jedes neue Hunderttausend, das die Kruppsche Fabrik ihrem Kapitale zugelegt hat, […] bisher der deutschen Volkswirtschaft zugute gekommen“44; für Carl Peters gehören dazu auch das Aktien- und Börsenwesen als selbstverständliche Begleiterscheinungen hochkapitalistischer Wirtschaft45, und auch für Ernst Hasse ist das Großkapital eine Großmacht, deren Vernichtung weder möglich noch wünschenswert sei, so bedenklich auch ihre Mißbräuche seien. „Es bleibt die notwendige Voraussetzung für den Fortschritt der Zivilisation und der Kultur.“46 Aufgabe der Politik sei es nicht, dem Rad in die Speichen zu greifen, sondern durch „Weltpolitik“ dafür zu sorgen, daß Austausch und Verkehr „sich auf die vorteilhafteste Weise für ein begrenztes Wirtschaftsgebiet vollziehen, […] und daß das betreffende Wirtschaftsgebiet eine genügende Ausdehnung gewinnt, um der Träger großer wirtschaftlicher Unternehmungen (Handel, Kapitalanlagen in der Fremde) sein zu können.“47
Für die Völkischen dagegen stellt sich die Lage völlig anders dar. „Die ganze industrielle Herrlichkeit, die uns umgiebt“, wird Theodor Fritsch später schreiben, „ist eitel Lug und Schein.“48 Industrie, Handel und Verkehr fördern den allgemeinen Wohlstand nicht, sie bringen vielmehr den wirtschaftlichen Organismus aus dem Gleichgewicht und zerstören sein Zentrum, die städtischen und ländlichen Besitzklassen.49 „Seit Jahrzehnten zeigt unser Wirtschafts-Leben die Wirkung, daß es die Reichtümer der Nation immer mehr in einzelnen Händen aufhäuft und dabei die breitere Masse des Volkes immer mehr ihres Besitzes beraubt – sie enterbt.“ Infolge dieser fortschreitenden „Besitz-Verschiebung“ hat der technische und materielle Fortschritt die Tendenz, „das Übel zu steigern, denn gerade dort, wo Verkehr, Produktion und Handel am lebhaftesten, wo die Bevölkerung am dichtesten, wo der Reichtum am größten und die Werkzeuge der Produktion und des Austausches am höchsten entwickelt sind, finden wir auch die tiefste Armut, den härtesten Kampf um’s Dasein und die schlimmste Arbeitslosigkeit.“50 Dem Wachstum der Kapitalien auf der einen Seite entspricht die fortschreitende Verschuldung im Volke auf der anderen Seite. „Jede übermäßige Bereicherung Einzelner kann nur auf Kosten der Gesamtheit vor sich gehen. Die irdischen Güter sind nicht unbegrenzt an Menge und Zahl. Wer davon ein Uebermaß an sich reißt, der muß sie Anderen entziehen.“51 Wirtschaft erscheint aus dieser Perspektive als Nullsummenspiel, das jedoch aufgrund der mit der modernen Kapitalbildung zusammenhängenden Konzentrationstendenz das gesellschaftliche Gefüge zu zerreißen droht.52 „Der blendende Industrie- und Verkehrs-Rummel blüht auf dem Grabe der heimischen Landwirtschaft und des gesamten produktiven Mittelstandes […] Je höher der sogenannte National-Reichtum steigt, desto näher rücken wir dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und der sozialen Revolution.“53 Was diese Entwicklung allein noch aufhalten kann, ist eine „Neubildung im Mittel, die allmälig (sic) die gesunden Elemente von den Extremen zurückzieht“54: durch eine Steuerpolitik, die den Mittelstand fördert, durch antimonopolistische Maßnahmen, durch staatliche Kontrolle des Aktienkapitals – und nicht zuletzt: durch Aufhebung der Judenemanzipation: denn vor allem das angeblich jüdische, das „zinsen-saugende“ Kapital ist gemeint, wenn Fritsch behauptet, man könne einem Staat und einer Nation keinen größeren Dienst erweisen, „als daß man das Kapital zum Lande hinaustreibt.“55
Das alles sind Gedankengänge, die bei den häufig aus den Reihen des Liberalismus herkommenden Alldeutschen mit wenig Zustimmung rechnen können.56 Zwar sieht man auch hier im agrarischen Großbesitz eine gefährliche Erscheinung, der durch die Einführung von Höchstgrenzen zu begegnen sei, doch wird ähnliches für die industriellen Riesenbetriebe kategorisch zurückgewiesen: handele es sich hierbei doch „um wirklich organisch Gewordenes, das man nicht spalten, nicht zurückschrauben kann.“57 Gänzlich anathema ist diesen durchaus klassenkämpferisch gestimmten Kreisen das Verständnis, das die Völkischen bisweilen dem sozialdemokratischen Radikalismus entgegenbringen58, neigt man doch hier zu der Auffassung Treitschkes, dem Sozialismus sei „nicht halbe und bedingte, sondern ganze und rücksichtslose Feindschaft“ anzusagen, und das selbst da, wo er in der gemäßigten Form staatlicher Sozialpolitik auftrete, die die „Versorgung des arbeitsscheuen, staatsgefährlichen, großstädtischen Proletariats auf öffentliche Kosten“ anstrebe.59 Nicht einmal in der Politik gegenüber den Juden ist man hier bereit, den Völkischen entgegenzukommen, obwohl man sich im Ressentiment nicht selten einig ist. Zwar wird mit Heinrich Claß 1908 ein erklärter Vertreter des Radikalantisemitismus zum Vorsitzenden des ADV gewählt, doch veröffentlicht dieser sein Dissimilationsprogramm 1912 unter Pseudonym.60 Sein Vorgänger, Ernst Hasse, will dagegen, wie bereits Treitschke, die Judenemanzipation unangetastet lassen und beschränkt seinen antisemitischen Forderungskatalog auf die Einwanderungspolitik.61 Carl Peters, Mitbegründer des ADV, läßt sich von seinen antijüdischen Ressentiments nicht davon abhalten, für seine Unternehmungen um jüdische Geldgeber zu werben, mit Juden wie Otto Arendt befreundet zu sein und bei Reichstagswahlen für die Nationalliberalen gegen einen Antisemiten zu kandidieren; im ADV tritt er mit Erfolg allen Bestrebungen zur Einführung eines Arierparagraphen entgegen.62 Erst mit der Bamberger Erklärung von 1919 wird es der Verband explizit als seine Aufgabe definieren, „den jüdischen Einfluß zurückzudämmen“ und „alle Bestrebungen zu fördern“, „die ruhig und bestimmt dafür eintreten, daß Deutschland den Deutschen gehört, und daß es demgemäß in allen inneren, äußeren, kulturellen und wirtschaftlichen Fragen geleitet werde.“63