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1. Die antisemitische Bewegung der Reichsgründungszeit
ОглавлениеDie Uneinigkeit darüber, was als „völkisch“ zu verstehen sei, setzt sich in der Uneinigkeit über die Frage fort, seit wann überhaupt von einer völkischen Bewegung gesprochen werden kann. Während nicht wenige der Akteure den Terminus a quo in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des politischen Antisemitismus gegeben sahen und damit der Forschung lange Zeit die Richtung wiesen1, tendiert ein Teil der neueren Forschung dahin, beide Bewegungen voneinander zu trennen.2 Die antisemitische und die völkische Bewegung, meint Werner Bergmann, „entstanden unabhängig voneinander und liefen eine Weile parallel“, bevor sie sich seit den späten 90er Jahren einander annäherten3; Uwe Puschner sieht ähnlich eine von der antisemitischen Bewegung unabhängige Wurzel der völkischen Bewegung im Kulturnationalismus der 90er Jahre, wie er sich 1894 und 1896 in der Gründung des Deutschbundes und der Zeitschrift Heimdall niedergeschlagen habe. Was davor liegt, die antisemitische Bewegung, der Bayreuther Regenerationsidealismus, gilt dementsprechend als „prävölkisch“.4 Erst gegen Ende der 90er Jahre hätten sich beide Bewegungen verbunden, was dadurch ermöglicht worden sei, daß ihre Leitideen von unterschiedlicher Reichweite gewesen seien. Beim Antisemitismus habe es sich um eine vorwiegend negative und auf einen einzigen Punkt beschränkte Erscheinung gehandelt, wohingegen die völkische Bewegung über eine „Weltanschauung“ verfügt habe, in die der Antisemitismus als „konstitutives Element“ habe eingehen können.5 Noch größer erscheint der zeitliche Abstand in anderen Darstellungen, die die völkische Bewegung erst am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Lohalm) oder gar erst in der Weimarer Republik (Heberle) beginnen lassen.6
Für diese Trennung gibt es sachliche Gründe. Mit seiner Kombination von Ideologie und Gesinnung, von zweck- und wertrationalen Motiven, bewegt sich der völkische Nationalismus in der Sphäre der „Vergesellschaftung“, worunter Max Weber eine soziale Beziehung versteht, bei der „die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“ Der Antisemitismus dagegen wurzelt in einem Affekt: der Judenfeindschaft, und fällt damit zunächst, sobald er über eine rein individuelle Äußerung hinausgeht, in die Sphäre der „Vergemeinschaftung“, bei der die Einstellung des sozialen Handelns „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.“7 Judenfeindschaft wird zu Antisemitismus freilich erst dann, wenn eine Reihe von hinzutretenden Bedingungen gegeben sind: Erstens, eine Hemmung und Zurückhaltung der konstitutiven Affekte (in der Regel: Haß, Racheimpulse, Neid, Eifersucht), die deren Realisierung der „vorblickenden Überlegung“ unterwirft, wodurch aus dem bloßen Impuls ein „Ressentiment“ wird, eine „dauernde psychische Einstellung“ vorwiegend negativer Art, wie sie sich vor allem im „Groll“ manifestiert: einem „dunkel durch die Seele wandelnde(n), verhaltene(n) und von der Aktivität des Ich unabhängige(n) Zürnen, das durch wiederholtes Durchleben von Haß-Intentionen oder anderen feindseligen Emotionen schließlich sich bildet und noch keine bestimmte feindliche Absicht enthält, wohl aber alle möglichen Absichten solcher Art in seinem Blute nährt.“8 Zweitens: die Kommunikation dieses Ressentiments, seine Artikulation in mündlicher und zunehmend auch schriftlicher Form, womit zugleich eine gewisse Diskursivierung, Rationalisierung und Intellektualisierung verbunden ist. Drittens: die damit einhergehende Anpassung an die Selbstbeschreibungen, Programme und Interessentenideologien, wie sie für die unterschiedlichen Handlungsfelder einer funktional differenzierten Gesellschaft charakteristisch sind. Zugespitzt ließe sich sagen: der Antisemitismus ist ein Affekt, welcher rationalisiert wird: Vergemeinschaftung, die zur Vergesellschaftung drängt; wohingegen der völkische Nationalismus als Ausdruck eines bestimmten Nationalbewußtseins primär eine Sache der Rationalität ist, die freilich ihrerseits bestimmte Affekte zu attrahieren vermag: Vergesellschaftung, die auch Vergemeinschaftung sein will. Und das wiederum heißt: Antisemitismus ist ein breiteres Phänomen, das sich mit den unterschiedlichsten wertrationalen Einstellungen, Präferenzen, Glaubensüberzeugungen und materiellen Interessen zu verbinden vermag, während der völkische Nationalismus deutlich enger und voraussetzungsvoller und entsprechend nicht dekkungsgleich mit Antisemitismus ist. Auch wenn wohl die meisten völkischen Nationalisten Antisemiten sind, so kann man doch das eine sein, ohne das andere zu sein9; und selbst dort, wo beides zusammenfällt, sind doch sehr unterschiedliche Grade der Intensität und Radikalität denkbar, die so erstaunliche Phänomene zulassen wie die Freundschaft zwischen einem antisemitischen „Edelvölkischen“ wie Wilhelm Schwaner und einem Juden wie Walther Rathenau.10
Man kann deshalb der analytischen Trennung zwischen beiden Komplexen zustimmen und doch darauf beharren, daß es Überschneidungen gibt: sowohl auf rein zeitlicher als auch auf sachlicher Ebene, auch wenn es sich bei der letzteren lediglich um eine Teilidentität handeln kann. Es ist die These der folgenden Überlegungen, daß gerade die Heterogenität der antisemitischen Bewegung mit ihren extremen Gegensätzen erst das Spannungsfeld erzeugt hat, in dem sich der völkische Nationalismus konstituiert hat. Die zentralen Elemente des völkischen Diskurses haben sich in der antisemitischen Bewegung des frühen Kaiserreichs gebildet, als Produkt des Bemühens, eine mittlere Linie zwischen den Extrempolen zu finden, die für diese Bewegung charakteristisch waren. Dazu muß etwas weiter ausgeholt werden.
Die öffentliche Artikulation von Judenfeindschaft, sei es im Sinne eines religiös-theologisch argumentierenden Antijudaismus, sei es im Sinne eines säkular begründeten Antisemitismus, datiert in Deutschland nicht erst seit der Nationalstaatsgründung von 1871 oder dem Börsenkrach von 1873.11 Gleichwohl markieren diese beiden Ereignisse eine Schwelle, weil sich seitdem die Diskussion über die sogenannte Judenfrage mit den Diskursen über die Gestaltung des Nationalstaats und seines Verhältnisses zur religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung verknüpft. Aus der Perspektive des religiösen Feldes, das in dieser Zeit in Deutschland wie auch in einigen anderen Ländern eine Revitalisierung erlebt (nicht nur, aber auch im fundamentalistischen Sinne12), erscheint der neue Staat als potentieller Träger einer umfassenden Offensive gegen den „Geist der Zeit“, der als irreligiös und materialistisch, auf jeden Fall im Gegensatz zum „Geist Gottes“ befindlich gilt13: Züge, die von prominenten Repräsentanten dieser Richtung wie De le Roi und Stoecker im protestantischen, Rohling und der Germania im katholischen Lager dem „modernen Judentum“ zugeschrieben werden14 – notabene: dem modernen Judentum, denn der zu führende Kampf wird nicht so sehr als Religionskrieg vorgestellt, denn als Kampf um Religion, der im Judentum eine der Hauptstützen des Säkularismus treffen will. Der angestrebte „christliche Staat“15 wird dabei in seiner aktuellen Gestalt als Nationalstaat akzeptiert, womit Brückenschläge zum Nationalismus möglich werden, ohne daß der Fundamentalismus deshalb mit diesem koinzidierte; und er wird zugleich als sozialer Staat konzipiert, womit wiederum Brückenschläge zu den Forderungen der sozialistischen Bewegung möglich werden, ohne daß es deshalb auch hier zu einer Identifizierung gekommen wäre.16 An beiden Aspekten des christlichen Staates macht sich eine judenfeindliche Rhetorik fest, die die trans- oder internationalen Aspekte des Judentums je nach Bedarf unter- oder überbetont und diesem zugleich die Kosten für die unsozialen Folgen des Kapitalismus anlastet.
Die gleiche Schuldzuweisung ist selbstverständlich auch von anderen Feldern aus möglich. Sie artikuliert sich dann in einem vornehmlich säkular-protektionistischen Sinne, der sich auf ganz unterschiedliche Bestände beziehen kann: den modernen Nationalstaat im ethnisch-kulturellen Sinne17, die föderalistische Struktur des Alten Reiches18, Besitz und öffentlichen Einfluß des „Germanenthums“19, des ostelbischen Junkertums20, die Interessen von Handel und Gewerbe21 oder des Bayreuther Regenerationswerks.22 Nicht immer muß diese mal auf vormoderne, mal auf moderne Bestände bezogene und deshalb nicht gut auf Einheitsformeln wie „Konservatismus“ zu bringende Verteidigungsstrategie nur gegen die Juden gerichtet sein; und nicht immer sind dort, wo Antisemitismus vorliegt, die Forderungen einheitlich, wie die auf Rürup und Nipperdey zurückgehende Unterscheidung von gemäßigtem und radikalem Antisemitismus zeigt.23 Gleichwohl überrascht die monotone Regelmäßigkeit, mit der viele dieser protektionistischen Diskurse in Anschuldigungen gegen das Judentum münden, das für alles und jedes verantwortlich gemacht wird: für die mangelnde Festigkeit des deutschen Nationalbewußtseins (Treitschke); für den kleindeutschen Nationalismus (Frantz); für die schlechten Publikationsmöglichkeiten „germanischer“ Journalisten (Marr) und die noch schlechteren Marktchancen der Agrarier; für die Verschuldung der deutschen Handwerker und Hausbesitzer und die offenen Rechnungen der Bayreuther Festspiele. Durchmustert man die antisemitische Publizistik des Reichsgründungsjahrzehnts, so scheint es keine Frage zu geben, die sich bei näherer Prüfung nicht als Ausdruck der Judenfrage entpuppt.
In der Forschung wird die Kampagne gegen das Judentum oft mit der Tendenz zur Ethnisierung des Nationalismus und einer damit einhergehenden Disposition zum Rassismus erklärt, die für diese Epoche typisch sei. Tatsächlich ist in den verschiedenen Diskursen über die Judenfrage eine Wir/Sie-Dichotomie erkennbar, die Deutsche und Juden als unterschiedliche Völker beziehungsweise Nationen präsentiert und beide wiederum größeren Familien zuordnet, die als „Rassen“ vorgestellt werden. Versteht man unter Ethnisierung, wie Klaus Holz vorschlägt, „daß die Gesamtheit einer Personengruppe als historisch-genealogische, in der Geschichte durch Abstammung sich erhaltende Gruppe vorgestellt wird“, und unter Rassismus einen „Spezialfall der Ethnisierung“24, dann wird man dafür mühelos Beispiele finden. Treitschkes Deutung des Judentums als „Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes“25 begründet die Fremdheit der Juden mit der Abstammung, auch wenn sie diese grundsätzlich durch Assimilation für überwindbar hält. Stoecker sieht in den Juden „ein Volk für sich“, das einen „fremde(n) Blutstropfen in unserem Volkskörper“ bilde.26 Für die Germania steht fest, „daß die Juden nicht nur nach Geschichte, Abstammung und Religion, sondern wie nach ihrer körperlichen Erscheinung, so auch nach Eigenschaften des Geistes und Charakters und der Sitte heute noch eine eigene Race sind, deren Assimilirung bis jetzt nicht gelungen ist, vielleicht niemals gelingt und sicherlich auch nur unter den erforderlichen Vorsichtsmaßregeln stufenweise geschehen darf“27; für die von Wilhelm Marr herausgegebene und überwiegend wohl auch geschriebene Deutsche Wacht ist ebenso evident, „daß in der That der unversöhnliche Gegensatz zwischen Deutschen und Juden sich ausdrückt in der anderen Abstammung, in der anderen Religion als Trägerin einer anderen Sittlichkeit und in ihrer Abneigung gegen redliche Arbeit“.28 Als Abstammungsgemeinschaften seien beide zugleich Rassen, die allerdings nicht für sich stünden, sondern Teil größerer Einheiten seien – im deutschen Fall der arischen Rasse, zu der auch noch die slavische und keltische Rasse zählten, im jüdischen Fall der semitischen Rasse.29 Vorstellungen dieser Art, die in der Rasse gleichsam die Inkarnation, die körperliche Erscheinungsform eines Volksgeistes oder einer Volksseele sehen, welche ihrerseits übergreifenden Familienverbänden zugerechnet werden, gehören auch in der folgenden Zeit zum Standardrepertoire des Antisemitismus, ob bei Bernhard Förster oder Otto Glagau, Julius Langbehn oder Böckel.30
Das Vorhandensein derartiger Vorstellungen erklärt für sich genommen freilich nicht viel. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß auch dort, wo die Zugehörigkeit zur Nation durch Staat und Recht anstatt durch Ethnizität bestimmt wird, das Judentum zum Objekt innerstaatlicher Feinderklärungen werden kann, wie ein Blick auf die entsprechenden Äußerungen und Maßnahmen Napoleons lehrt. Sodann erscheint es auch als zu kurz gegriffen, eine zwingende Verbindung zwischen Ethnizität und Antisemitismus zu unterstellen. Gewiß konstituiert sich eine ethnische Gruppe auch durch den Glauben an eine gemeinsame Abstammung, doch kann dieser gegenüber der jeweiligen Umwelt offene oder geschlossene Sozialbeziehungen stiften. Je größer und unüberschaubarer eine ethnische Gruppe, desto fiktiver und willkürlicher die Zuordnung, desto größer das Gewicht zusätzlicher Kriterien, die nach Max Weber für den ethnischen Gemeinsamkeitsglauben mindestens ebenso wichtig sind wie die Abstammung: die kulturellen Gemeinsamkeiten der Sprache, der Sitten, der Religion, die Erinnerung an ein gemeinsames geschichtliches Schicksal und so weiter.31 Die Identität ethnischer Gruppen, ihr jeweiliges Wir-Bewußtsein, pflegt sich aus einer Auswahl aus diesen Faktoren zu bilden, deren Gewichtung je nach historischer Lage ganz unterschiedlich ausfallen und sowohl Abschließung als auch Öffnung bewirken kann. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel der in Deutschland lebenden Juden, die nach dem Befund Till van Rahdens eine ethnische Gruppe bilden, welche sich in bezug auf Sprache, Kultur und Nationalbewußtsein immer weiter in Richtung der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft öffnet, intern pluralistisch ist und doch aufgrund der Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung und einer gemeinsamen Religion ein gewisses Gruppenbewußtsein bewahrt, das nicht allein auf den äußeren Druck zurückgeführt werden kann.32
Auch die Beziehung zwischen Ethnisierung und Rassismus stellt sich bei näherer Prüfung als keineswegs so eindeutig dar, wie dies in manchen Darstellungen erscheint.33 Was als „Spezialfall der Ethnisierung“ (Holz) gedeutet wird – der Rekurs auf „Racentypen“ – ist insofern kein „Rassismus“ im strengen Sinne, als der Einteilung der Menschen in Ethnien, Völker und Nationen kein neuer Gesichtspunkt hinzugefügt wird, der eine entsprechende wertrationale Präferenz begründen würde. Rasse ist nicht nur in den antisemitischen Diskursen, sondern weit darüber hinaus in der Publizistik des 19. Jahrhunderts keine von Ethnos, Volk oder Nation irgendwie unterscheidbare Größe, sondern bezeichnet den zum Volksgeist gehörenden Volkskörper und dessen Perpetuierung in der Zeit; durchaus geläufig sind deshalb Bezeichnungen wie der 1840 von Rudolf Wagner nach dem englischen „race of peoples“ gebildete Begriff „Volksrasse“, der sich bald so weit eingebürgert hat, daß er 1864 in das Staats-Wörterbuch von Bluntschli und Brater aufgenommen wird.34 In der Presse der liberalnationalen Bewegung des Vormärz ist es selbstverständlich, von einer englischen, französischen und deutschen „Race“ zu reden35, und noch ein Max Weber findet nichts dabei, in seiner Freiburger Antrittsrede von 1895 von „physischen und psychischen Rassendifferenzen zwischen Nationalitäten im ökonomischen Kampf ums Dasein“ zu sprechen.36 Dasselbe Verständnis liegt Carl Peters’ Konzept der „nationalen Rassen“ zugrunde, auch wenn es für Deutschland vorerst zu dem negativen Ergebnis kommt, „daß wir hier noch keiner ausgesprochenen ‚Rasse‘ gegenüberstehen.“ Das hat die Gewißheit von Peters und anderen, in der Epoche der „Herausprägung nationaler Rassen“ zu stehen, ebensowenig beeinträchtigt wie den Glauben, „daß der deutschen Nation, wenn sie ihre Durchbildung zu einer Edelrasse ungehemmt durchlaufen kann, eine hervorragende Stellung in dieser Welt der Völker, welche wir kennen, zufallen muß.“37 Erst als sich gegen Ende des Jahrhunderts Rassenanthropologie, Degenerationstheorie und selektionistische Soziobiologie verbinden, wird es möglich, ein eigenständiges, gegenüber dem Volks- und Nationsbegriff distanziertes Konzept von Rasse zu entwickeln, so daß auch erst seitdem von Rassismus und Rassenantisemitismus im strengen Sinne die Rede sein kann.38 Bis dahin ist der Bezugsrahmen für Antisemitismus, soweit säkulare Motive im Spiel sind, nicht Rasse, sondern Volk und Nation, und auch diese wiederum nicht in ihrer engeren („ethnischen“), sondern in ihrer weiteren Bedeutung, die sowohl die Volks- als auch die Staatsnation umfaßt.39
Die bloße Evokation von Volk und Rasse in der antisemitischen Bewegung des Reichsgründungsjahrzehnts, soviel bleibt festzuhalten, macht diese noch nicht zu einer völkischen Bewegung. Dafür sind die Begriffe zu wenig fixiert, sind die handlungsleitenden Motive zu diffus und zu sehr auf ein einziges Ziel fixiert: die Rücknahme der Judenemanzipation von 1869 / 71 oder doch wenigstens die Eindämmung ihrer Folgen.40 In ihr entsteht jedoch ein geistiges Spannungsfeld, das durch extrem entgegengesetzte Verknüpfungen von Judentum und Modernität gekennzeichnet ist und damit eine Reihe von Vermittlungs- und Lösungsversuchen stimuliert, wie sie für die völkische Bewegung typisch werden. Um dieses Feld zu vermessen, hält man sich am besten nicht an die politisch wirkungsmächtigsten, sondern an die gedanklich konsequentesten Positionen, die gleichsam die Grenzgestalten abgeben, um Abstand oder Nähe aller übrigen festlegen zu können. Nach der Seite der Anti- oder Gegenmoderne ist dies nicht, wie man zunächst vermuten sollte, der religiöse Fundamentalismus, steht dieser doch bereits vielfach, speziell in den unter lutheranischen Prämissen operierenden Spielarten, für eine Reihe von Kompromissen mit der Moderne und entfernt sich damit bereits vom reinen Typus.41 Radikale Konsequenz findet man dagegen im ästhetischen Fundamentalismus eines Richard Wagner (1813 – 1883), der schon in den 50er Jahren eine massive und seitdem immer weiter radikalisierte Zeitablehnung formuliert hat, die den modernen Staat mitsamt seinen Apparaten, die moderne, auf Geldgebrauch und Kapitalverwertung gestützte Wirtschaft und nicht zuletzt die moderne Kultur mit ihrer Betriebsamkeit, ihrer Oberflächlichkeit und Modeabhängigkeit in toto verwirft und nach einer ebenso totalen Regeneration verlangt, als deren einziges Medium das von Wagner geschaffene Gesamtkunstwerk gilt.42 Vor dessen Verwirklichung hat indes ein ungutes Geschick das „Judenthum in der Musik“ gesetzt, von dem sich Wagner seit den erniedrigenden Erfahrungen seines ersten Pariser Aufenthalts regelrecht verfolgt fühlt.43 Sein Antisemitismus ist zwar noch kein „Erlösungsantisemitismus“, der den Sieg über Verderbnis und Entartung der modernen Zivilisation von der Entfernung oder gar Vernichtung der Juden erwartet, sind diese in Wagners Augen doch nur die Nutznießer, nicht aber die Ursache des Verfalls.44 Weil ihre Emanzipation jedoch vermeintlich zu früh, vor der Überwindung der Moderne erfolgt ist, stärkt sie die kunstfeindlichen Mächte und muß deshalb zurückgenommen werden, wenn das Regenerationsprojekt nicht allzusehr verzögert werden soll. Die aufkommende antisemitische Bewegung verfolgt Wagner jedenfalls mit unverhohlener Befriedigung und prangert die „Staats-Autoritäten“ wegen der „an die Juden ertheilte(n) Vollberechtigung“ an, „die eine so ungeheure, unabsehbar folgenschwere Umgestaltung unseres Volkswesens“ bewirkt habe.45
Am andern Pol dieses Spannungsfeldes steht Eugen Dühring (1833 – 1921), nach einer gescheiterten Universitätskarriere nicht weniger vom Ressentiment zerfressen als Wagner und stets bereit, seine vermeintlichen Verfolger – „die Professoren, die Juden und die durch und durch verjudeten Socialdemokraten“ – mit ätzenden Haßtiraden zu überziehen.46 Wie Wagner von der politischen Linken herkommend, teilt er doch dessen Fortschrittskritik nicht und setzt sich statt dessen für eine volle Entfaltung aller von der Moderne entwickelten Kräfte im Rahmen einer „socialitären“ Ordnung ein.47 Während Wagner von der Idee besessen ist, mit den Mitteln der Kunst einer Wiederkehr der Religion die Bahn zu ebnen, sieht Dühring, der sich selbst in der Nachfolge Voltaires plaziert, seine Aufgabe ganz im Gegenteil im Kampf gegen die Religion, die er der Lebensfeindschaft entspringen läßt; attackiert Wagner die Juden als Teil der von ihm perhorreszierten Fortschrittsmächte, so wirft Dühring ihnen genau umgekehrt vor, den Fortschritt zu behindern, als ein „Erbschaftsstück, welches nach mittelalterlichen Grundsätzen in die neuere Zeit hinein überkommen ist.“ Sie seien unfähig zur Wissenschaft, intolerant und illiberal, „die eifrigsten Agenten und Beschöniger der politischen Unfreiheit“, nur darauf aus, die Errungenschaften der Französischen Revolution in ihr Gegenteil zu verkehren, weshalb nichts anderes helfe, als sie mit ihren eigenen Mitteln zu bekämpfen: der Aufhebung der ihnen gewährten Freiheits- und Gleichheitsrechte. Damit sind nicht bloß die durch die Emanzipation etablierten politischen Rechte gemeint, sondern auch die bereits zuvor garantierten bürgerlichen Rechte, verlangt Dühring doch weitgehende Einschränkungen der Vertragsfreiheit, der freien Gattenwahl (Verbot von Mischehen) und der Freizügigkeit. Die Rede ist von ‚äußerlicher Einschränkung, Einpferchung und Abschließung‘, die im Falle eines kollektiven Landesverrats um die Deportation zu ergänzen seien.48 Maßnahmen wie diese, die Dühring in späteren Jahren um die Forderung nach „Ausscheidung und Vernichtung“ ergänzen wird49, stünden nicht in Widerspruch zu den Prinzipien der Moderne, sondern zielten gerade auf deren Bewahrung. Die „Judenrace“, die sich selbst als auserwählte betrachte, müsse auch mit einer auserwählten Ausnahmegesetzgebung bedacht werden. „Die Juden sind (…) ein inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zerstörung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden“.50