Читать книгу Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945 - Stefan Breuer - Страница 11

Depotenzierung des Bodens I: Nationalismus, Neoaristokratismus und planetarischer Imperialismus

Оглавление

Der bisher gewonnene Überblick wäre unbalanciert, wenn wir nicht auch für die Seite der Progression und die daran angekoppelten Hybridbildungen deutlich machten, daß eine erhebliche Zahl von Autoren zum Chthonismus Abstand hielt: sei es, indem man der Erde bzw. dem Boden nur die Rolle eines Faktors neben anderen zuwies, sei es, indem man sie als bloße Bühne für Vorgänge auffaßte, die gewissermaßen aus einer anderen Welt stammten. Zur ersten Gruppe kann man für den alten Nationalismus Heinrich von Treitschke rechnen, der nach sorgfältiger Abwägung zu dem Schluß kam, daß die Einwirkung der Naturverhältnisse auf das menschliche Leben wohl eine sehr starke sei, dennoch nicht übertrieben werden dürfe. „Die Geschichte eines Landes allein aus seiner geologischen und geographischen Gestaltung abzuleiten und zu erklären ist absurd, diese ist immer nur ein Faktor unter vielen anderen“ (Treitschke 1918, I, 216). Der Mensch besitze in hohem Maße die Kraft, die Naturverhältnisse zu überwinden, und ganz besonders gelte dies für den weißen Menschen. „Die Fähigkeit der weißen Rasse klimatische Verhältnisse zu überwinden, ist im ganzen eine große. Darin liegt physisch der Beruf der Europäer begründet als eine Massenaristokratie die ganze Welt zu beherrschen“ (208).

Ähnliche Anschauungen lassen sich bei völkischen Autoren nachweisen. Wilhelm Heinrich Riehl setzte sich in seiner Naturgeschichte des Volkes zwar das Ziel, „den Zusammenhang von Land und Volk als Fundament aller sozialen und politischen Entwicklung“ aufzuzeigen (Riehl 1908, X), erkannte aber wie Treitschke dem Boden nur die Rolle eines Faktors in einem umfassenderen Ursachengeflecht zu. Das Volk sei stets mehr als eine „Staffage der Landschaft“. Viel näher liege es, „in der Landschaft bloß einen Hintergrund des Volkslebens zu sehen“ (Riehl 1862, 208). Houston Stewart Chamberlain war der Meinung, „dass die Entstehung einer hochedlen Menschenrasse unter Anderem auch von bestimmten historisch-geographischen Bedingungen abhängt“ (Chamberlain 1941, I, 339), hatte dies aber bei der Aufstellung seiner fünf „Naturgesetze“ der Rassenentstehung schon wieder vergessen. Und wenn Theodor Fritsch sein Klagelied über den Verlust der Bodenhaftung anstimmte, so meinte er damit ebenfalls nicht den Verlust von etwas qualitativ Bestimmtem, sondern das Fehlen eines Arbeitsgegenstands: „Der Acker-Boden ist also kein Wert an sich; er hat nur den Charakter eines Werkzeuges, das erst Werte erzeugen kann, wenn man Arbeitskraft hinzuthut und es in Thätigkeit setzt. Wer das Werkzeug erbt, hat die Pflicht es zu handhaben und zu arbeiten. Kurz: Wer Boden erbt, erbt eine Arbeits-Last“ (Fritsch 1894, 15).

Das gilt auch für die neonationalistische Tat, die bei ihrer Bestimmung des Nationalgefühls nur an Blut und Sprache anknüpfte, den Boden aber unerwähnt ließ (Zehrer 1929a, 646f.). Und auch dieses Nationalgefühl wurde noch der Politik untergeordnet. Dezidiert heißt es: „Volk und Raum stellen lediglich das tote Material der Politik dar“ (Zehrer 1931a, 933). Zwar wird für die Außenpolitik eine bestimmte Raumvorstellung gefordert und sogar ein „Gefühl des Verwachsenseins mit diesem Raum“ verlangt (ebd.). Doch steht dieses seinerseits in Abhängigkeit von politisch-staatlichen Kräften. Die Idee einer Re-Territorialisierung und Re-Agrarisierung erwächst aus wirtschafts- und geopolitischen Erwägungen und kommt ohne jeden Rekurs auf chthonische Qualitäten aus (948; Zehrer 1932e, 873). Ähnliches kann man für Otto Straßer sagen, der den Landschaftsbegriff erst sehr spät entdeckte, in Zusammenhang mit den agitatorischen Möglichkeiten, die die Landvolkbewegung Ende der 20er Jahre dem nationalsozialistischen Dissidententum bot.8 Der Autor einer Schrift über Das Landvolk, der Soziologe Gunther Ipsen, verbreitete sich zwar vollmundig über die Verwurzelung des Volkstums im Boden und im organischen Leben, ordnete dann aber beides der Sprache unter. „Alle Gegebenheiten des Raumes sind nie als solche wirksam und gültig, sondern nur soweit sie den Verlauf von Sprachgrenzen bestimmen. Die Ausbreitung des sprachbestimmten Volkstums setzt das natürliche Staatsgebiet mit“ (Ipsen 1931/32, 64).

In der zweiten Gruppe finden sich vor allem Neoaristokraten, Neonationalisten mit Oszillation nach links und planetarische Imperialisten. Schon dem jungen Nietzsche, der noch stark fundamentalistischen Motiven verpflichtet war, hat Baeumler mit Recht bescheinigt, daß ihm „jeder Sinn für den Boden, den Kult, das Lokale, die Heroen und die Unterwelt“ fehle (Baeumler 1965, 257). Dasselbe gilt für den reifen Nietzsche, dem neben den Verstandeskategorien und den Regeln der Logik auch Raum und Zeit als bloße Fiktionen gelten, vermöge deren der Wille zur Macht sich die Welt zurechtlegt. Die bekannte Zarathustra-Formel „Bleibt mir der Erde treu“ besagt über die Erde gar nichts, sondern fordert nur dazu auf, die bisherige, jüdisch-christlich-nihilistische Weltauslegung aufzugeben und der Erde einen neuen Sinn zu geben, „einen Menschen-Sinn“ bzw. einen Übermenschen-Sinn. „Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde“ (NW II, 338, 280). Setzte man anstelle des Übermenschen die nordische Seele, war es nur ein kleiner Schritt, um die Erde bzw. die Landschaft vollends als gegenständlichen Ausdruck eines ‘Gestalt-Plans’ zu fassen. In der inneren Landschaft der Seele, so Ludwig Ferdinand Clauß, sei vorgezeichnet, was der gearteten Seele jeweils zur äußeren Landschaft werden könne: „Alle äußere Landschaft einer Seele ist (…) bestimmt durch diese innere; die äußere Landschaft verhält sich zur inneren, wie sich die Wirklichkeit zu ihrer Möglichkeit verhält“ (Clauß 1923, 83).

So ungefähr dachten auch jene Neonationalisten, die Nietzsches Übermenschen mit Spenglers preußischem Sozialismus zusammenbringen wollten. Zeitschriften wie Der Umsturz, Der Vorkämpfer, Der Vormarsch und Die Sozialistische Nation zollten wohl hier und da der Formel von Blut und Boden ihren Tribut, verstanden den Raum aber überwiegend als geschichtlichsoziale Größe; die Entscheidung fiel ihnen zufolge nicht auf dem Land, sondern in der Großstadt.9 Der Herausgeber des Vormarsch, Friedrich Hielscher, der schon in seiner Dissertation Nietzsche und Spengler verband (Hielscher 1928), veröffentlichte 1931 sein Werk über Das Reich, das um die These kreiste, „daß in allem Sein des Raumes und der Zeit nur seelische Mächte erscheinen, daß überhaupt alles Wirkliche seelisch ist“ (Hielscher 1931, 35). Der Raum war damit als Resonanzraum bestimmt, als Erscheinungsraum, in dem sich die Epiphanie des Reiches vollzog, eines Seelentums, das seinem Wesen nach außerraumzeitlich war, aber der räumlichen und zeitlichen Welt als Bühne bedurfte, um sich zu offenbaren. Den Offenbarungsmodus konzipierte Hielscher in enger Anlehnung an die Hegelsche Logik, nach der sich das Dasein zunächst als endliches Etwas mit einer Grenze manifestiert, um dann in der Bestimmung der Grenze als einer Schranke über sich hinauszugehen – mit der virtuellen Herrschaft des Reiches über die Erde als Endpunkt. „Der Hegelsche Dreiklang der Weltgeschichte zeigt sich als das Gesetz, nach dem die Erscheinung des Reiches heranwächst: wenn Ermin dem Feinde das Wort von der Freiheit entgegenwirft, so ist dies ein reines Nein; wenn Theoderich des germanischen Wesens dadurch inne wird, daß er die Geister des Mittelmeers in sich aufnimmt, so ist dies ein Ja zur Fremde; wenn Heinrich den durch die Fremde hindurchgegangenen Germanen die Fülle ihrer Kraft zeigt, so bedeutet dies ein Nein gegenüber der Umwelt, in welchem das Ja enthalten und eingeschmolzen ist“ (113f.).

In diesem Beharren auf der Dialektik von Grenze und Schranke, die sich politisch als Dialektik von nationaler Identitätsbildung und imperialer Expansion darstellt, unterscheidet sich der neue Nationalist Hielscher vom planetarischen Imperialisten Spengler. Dessen Bezugspunkt war nicht das in einer wie immer auch undeutlich bestimmten Nation erscheinende Reich,10 sondern die faustische Seele, an der alle Nationen des Abendlands ihren Anteil hatten. In Spenglers Kategoriensystem war die Seele als Zentrum und Wurzel aller Kultur etwas Werdendes und damit Zeit; der Raum war, wie bei Hielscher, Erscheinungsraum, in dem das Werdende sich verendlichte. Das seelische Leben als etwas Gerichtetes ‘gebar’ den Raum, um in ihm sich auszudehnen; Raumtiefe war deshalb nichts anderes als ‘erstarrte Zeit’, ‘Natur’ eine Funktion der durch das Seelentum bestimmten Kultur (1973, 223f., 386, 219). Während alle anderen Seelentümer sich in einem endlichen Raum manifestierten, durch einen je spezifischen ‘Horizont’ bestimmt waren, zeichnete sich die faustische Seele durch die „gigantische Verneinung eines noch irgendwie begrenzten Heimatgefühls“ aus (433). Die Heimat der faustischen Seele war „die grenzenlose Einsamkeit“, ihr Ursymbol „der reine, unendliche Raum“ (238, 227). „Faustische Völker sind historische Völker, Gemeinschaften, die sich nicht durch den Ort oder consensus, sondern durch Geschichte verbunden fühlen“ (773). Diese Nichtbindung an einen spezifischen Ort erlaubte es der faustischen Kultur, wie keine andere auf Ausdehnung ausgerichtet zu sein und, indem sie alle geographisch-stofflichen Schranken überwand, einen wahrhaft „planetarischen Charakter“ zu entwickeln (430, 432).

Auf diesen Hintergrund müssen Spenglers Äußerungen über Kultur und Landschaft bezogen werden, wenn man sie nicht mißdeuten will. Der Satz, daß Kulturen „mit urweltlicher Kraft aus dem Schöße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen“ (29), meint keineswegs den Vorrang von Mutter Natur gegenüber der Kultur, er besagt nur, daß jede Kultur ihren Raum und ihre Landschaft produziert, in dem sie sich entfaltet: erst die hohen Kulturen, heißt es an anderer Stelle, bringen überhaupt so etwas wie Erdverbundenheit hervor (899). Entsprechend ist das Muttertum denn auch nicht, wie bei Bachofen-Baeumler, ein dem zeitlichen Progreß vorgeordnetes, die Macht der Vergangenheit und der Tradition garantierendes Prinzip, sondern ganz im Gegenteil das Prinzip des Progresses und der Zukunft. „In der Idee des Muttertums ist das unendliche Werden begriffen. Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal“ (341). Für die Rolle eines ‘Vordenkers der archetypischen Stilisierung’ des ländlichen Milieus und eines darauf fußenden Konservatismus ist Spengler deshalb denkbar ungeeignet,11 auch wenn nicht abgestritten werden soll, daß seine politischen Ambitionen durchaus in diese Richtung wiesen.

In seinem Arbeiter hat Ernst Jünger die Positionen Spenglers weiter ausgeschrieben. Obwohl hier noch, als Rudiment der nationalistischen Phase, allerlei elementare Mächte herumspuken, sind sie doch gänzlich qualitätslose, rein energetische Größen, denen nur dadurch Bedeutung zukommt, daß sie von der ‘Gestalt’ des Arbeiters mobilisiert werden. Sie ist das besondere Sein, „das seinen Raum, seine Zeit, seine Gesetzmäßigkeit zu erfüllen sucht“ (Jünger 1981, 95). Zur negativen Seite hin geschieht dies durch eine radikale Entwertung der natürlichen Landschaft und des Terrains, ja durch „völlige Vernichtung ihrer Gesetzmäßigkeit“, zur positiven durch die Substitution des natürlichen Raumes durch einen künstlichen, der eine Reihe neuartiger Aspekte aufweist. Er ist, erstens, ‘Arbeitsraum’, bestimmt durch die Leistung, die das technische Kollektiv, die Gesamtheit der Arbeiter, erbringt. Er ist, zweitens, ‘technischer Raum’, bestimmt durch Eindeutigkeit, Berechenbarkeit, Systematik und Übersichtlichkeit. Er ist, drittens, ‘planetarischer Raum’, zielt doch „die geheime Anlage der Mittel, der Waffen, der Wissenschaften (…) auf Raumbeherrschung von Pol zu Pol“. Und er hat, viertens, imperiale Qualität: die Expansion der alten Nationalstaaten führt zunächst zur Bildung von „Planlandschaften“, die festungsartig abgeschlossen sind und miteinander um die Hegemonie konkurrieren. Sobald dieses Ringen entschieden ist, kommt es zur „Einordnung und Unterordnung der Planlandschaften“ durch einen „Staatsplan von imperialem Rang“. In diesem imperialen Raum wird dann auch die Dynamik zum Stillstand gelangen, die für den Aufstieg des Arbeiters charakteristisch war (99, 156, 179, 231, 295):

„Die Perfektion der Technik ist nichts anderes als eines der Kennzeichen für den Abschluß der Totalen Mobilmachung, in der wir begriffen sind. Sie vermag daher wohl das Leben auf eine höhere Stufe der Organisation zu erheben, nicht aber, wie der Fortschritt glaubte, auf eine höhere Stufe des Wertes. In ihr deutet sich an die Ablösung eines dynamischen und revolutionären Raumes durch einen statischen und höchst geordneten Raum. Es vollzieht sich also hier ein Übergang von der Veränderung zur Konstanz – ein Übergang, der freilich sehr bedeutende Folgen zeitigen wird“ (182).

Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945

Подняться наверх