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Erster Schritt: Visuelle Textwahrnehmung
ОглавлениеDer Text Joh 4,1–15 stellt sich unseren Studierenden genauso wie uns als Lehrenden in einer bestimmten materialen Gestalt dar, die wir von Anfang an wie selbstverständlich visuell wahrnehmen. Ob in elektronischer Form aufgerufen oder traditionell in einer der zur Verfügung stehenden Bibelausgaben aufgeschlagen – die äußerlich sichtbare Textgestalt verliert ihre Selbstverständlichkeit, sobald wir entdecken, wie zeit- und mediengebunden sie ist. An den Buchausgaben wie an den elektronischen Versionen der Bibel lässt sich beobachten, dass derselbe Text je nach Publikationsorgan ein unterschiedliches Aussehen besitzt. Bereits beim ersten Schritt auf dem Weg zur Verssegmentierung lohnt sich daher der Blick in verschiedene Formate des Bibeltextes, um erstens sein Erscheinungsbild wahrzunehmen und sich dabei gegebenenfalls der eigenen Sehgewohnheiten bewusst zu werden, um sich zweitens früh für sprachliche Eigenheiten des Textes intuitiv zu sensibilisieren und um drittens ein erstes Problembewusstsein für seinen erzählerischen Aufbau zu entwickeln. Durch die folgenden Beschreibungen verschiedener Textgestalten möchte ich den heuristischen und didaktischen Wert der visuellen Textwahrnehmung veranschaulichen.
Textgestalt 1: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext Nestle-Aland 28. Aufl. online1
4 1 Ὡς οὖν ἔγνω ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἤκουσαν οἱ Φαρισαῖοι ὅτι Ἰησοῦς πλείονας
μαθητὰς ποιεῖ καὶ βαπτίζει ἢ Ἰωάννης 2– καίτοιγε Ἰησοῦς αὐτὸς οὐκ
ἐβάπτιζεν ἀλλ‘ οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ– 3 ἀφῆκεν τὴν Ἰουδαίαν καὶ ἀπῆλθεν πάλιν εἰς τὴν Γαλιλαίαν.
4 Ἔδει δὲ αὐτὸν διέρχεσθαι διὰ τῆς Σαμαρείας. 5 Ἔρχεται οὖν εἰς
πόλιν τῆς Σαμαρείας λεγομένην Συχὰρ πλησίον τοῦ χωρίου ὃ ἔδωκεν Ἰακὼβ [τῷ] Ἰωσὴφ τῷ υἱῷ αὐτοῦ· 6 ἦν δὲ ἐκεῖ πηγὴ τοῦ Ἰακώβ. ὁ οὖν Ἰησοῦς
κεκοπιακὼς ἐκ τῆς ὁδοιπορίας ἐκαθέζετο οὕτως ἐπὶ τῇ πηγῇ· ὥρα ἦν ὡς
ἕκτη.
Textgestalt 2: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext der Zürcher Bibel 20072
4 1 Als nun Jesus erfuhr, dass die Pharisäer gehört hatten, Jesus gewin-
ne und taufe mehr Jünger als Johannes 2 – allerdings taufte Jesus
nicht selber, sondern seine Jünger tauften –, 3 verliess er Judäa und ging
wieder nach Galiläa.
4 Er musste aber durch Samaria hindurchziehen. 5 Nun kommt er
in die Nähe einer Stadt in Samarien namens Sychar, nahe bei dem
Grundstück, das Jakob seinem Sohn Josef gegeben hatte. 6 Dort war der
Brunnen Jakobs. Jesus war müde von der Reise, und so setzte er sich an
den Brunnen; es war um die sechste Stunde.
Gut erkennbar wird für Studierende beim visuellen Vergleich von Textgestalt 1 und Textgestalt 2 – ganz unabhängig davon, ob sie für ihren Studiengang die Originalsprachen der Bibel erlernen oder nicht –, dass sowohl der textkritisch rekonstruierte Text, wie ihn das Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland 28. Aufl.) bietet, als auch die Buchversion der Zürcher Bibel 2007 typographisch einen versübergreifenden Fließtext präsentieren, der zugleich Sinnabschnitte abbildet. Für beide Textgestalten von Joh 4,1–6 liegt ein deutlich sichtbarer Sinneinschnitt nach V. 3. Studierende werden in einer kurzen Einzel- oder Partnerarbeit herausfinden können, dass zweierlei für diesen Abschnittswechsel verantwortlich sein könnte: zum einen die Tatsache, dass ab V. 4 die in den V. 1–3 genannten Pharisäer, Johannesjünger und Jesusjünger nicht mehr erwähnt werden; zum anderen, dass mit der Wegnotiz von V. 3 ein gewisser topographischer Abschluss erreicht zu sein scheint. Einigen Studierenden wird allerdings auffallen, dass auch V. 4 eine Wegnotiz enthält und daher das Itinerar als Ganzes (V. 3–4) zum ersten Sinnabschnitt gezogen werden könnte. Andere werden darüber hinaus den Wechsel der Tempora von V. 4 (im Deutschen: Imperfekt »er musste«; im Griechischen: Imperfekt ἔδει) zu V. 5 (im Deutschen: Präsens »nun kommt er«; im Griechischen: Präsens ἔρχεται οὖν) entdecken und als Argument für eine von den notierten Textgestalten abweichende Sinnabschnittsgliederung ins Spiel bringen.
Bestätigt sähen sich die Überlegungen der Studierenden zum Zusammenhang der Wegnotizen durch die modernen Druck- und Online-Versionen der Lutherbibel, die in Textgestalt 3 und Textgestalt 4 festgehalten sind:
Textgestalt 3: Joh 4,1–6 im sinnabschnittsgliedernden Fließtext der Lutherbibel 1984 online3
4 1 Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war,
dass er mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes 2 – obwohl Jesus
nicht selber taufte, sondern seine Jünger –, 3 verließ er Judäa und ging
wieder nach Galiläa. 4 Er musste aber durch Samarien reisen.
5 Da kam er in eine Stadt Samariens, die heißt Sychar, nahe bei dem Feld,
das Jakob seinem Sohn Josef gab. 6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich am Brunnen nieder; es war um die sechste Stunde.
Textgestalt 4: Joh 4,1–6 im versgebundenen Spaltentext der Lutherbibel 1984/Standardausgabe4
4 Als nun Jesus erfuhr, daß den Phari-
säern zu Ohren gekommen war, daß er
mehr zu Jüngern machte und taufte als
Johannes
2 – obwohl Jesus nicht selber taufte, son-
dern seine Jünger –,
3 verließ er Judäa und ging wieder nach
Galiläa.
4 Er mußte aber durch Samarien reisen.
5 ¶ Da kam er in eine Stadt Samariens, die
heißt Sychar, nahe bei dem Feld, das Ja-
kob seinem Sohn Josef gab.
6 Es war aber dort Jakobs Brunnen. Weil
nun Jesus müde war von der Reise, setzte
er sich am Brunnen nieder; es war um die
sechste Stunde.
Studierende werden in Einzel- und Partnerarbeit darauf stoßen können, dass die beiden Versionen der Lutherbibel typographisch unterschiedlich organisiert sind.5 Die Lutherbibel 1984 online gestaltet einen versübergreifenden Fließtext, der Sinnabschnitte durch Zeilenumbruch voneinander trennt, während die Lutherbibel 1984 in Buchform (Standardausgabe) einen versgebundenen Spaltentext bietet, in dem bereits jeder einzelne Vers einen eigenen Absatz bildet.6 Sinnabschnitte müssen in dieser Ausgabe daher zusätzlich durch das Druckzeichen Alinea (¶) kenntlich gemacht werden, das im ausgewählten Text Joh 4,1–6 für V. 5 Verwendung findet. Textgestalt 3 und Textgestalt 4 demonstrieren also auf je eigene Weise mit ihrem Druckbild, dass sie die itinerarischen Angaben der V. 3–4 zusammenbinden und somit die V. 1–4 als ersten Sinnabschnitt der Erzählung von Jesus und der Samariterin auffassen. Dies wahrnehmen und beschreiben zu können, wäre eine erste Kompetenzstufe, zu der der Schritt »visuelle Textwahrnehmung« Studierende bei der Vorbereitung auf die Verssegmentierung zu führen vermag.7