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Zweiter Schritt: Einblick gewinnen in die drucksemantische Qualität eines Textes
ОглавлениеDass Druckformate Sinn- und Bedeutungsträger sind, lässt sich besonders gut im Umgang mit dem letzten von Luther autorisierten und noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Bibeldruck (Wittenberg 1545) vergegenwärtigen und didaktisch vermitteln. Die Arbeit mit diesem Bibeldruck empfehle ich Lehrenden aus Gründen seiner Erschließungskraft im Blick auf die Vers- und Satzgliederung des Bibeltextes ausdrücklich. Er ist leicht zugänglich in einer Studienausgabe (Reclams Universalbibliothek)1, die »buchstaben- und zeichengetreu die Textgestalt des Originals«2 bewahrt. Der Text Joh 4,1–6 zeigt in dieser Druckfassung – in der Sprachgestalt des Frühneuhochdeutschen3 – folgendes Erscheinungsbild:
Textgestalt 5: Joh 4,1–6 im Druckbild der Lutherbibel 15454
DA nu der HErr innen ward / das fur die Phariseer
komen war / wie Jhesus mehr Juͤnger machet /vnd
teuffet / denn Johannes 2(wiewohl Jhesus selber nicht
teuffet / sondern seine Juͤnger) 3verlies er das land
Judea / vnd zoch wider in Galileam / 4Er muste aber
durch Samariam reisen.
DA kam er in eine stad Samarie / die heisset Sichar /
nahe bey dem Doͤrfflin / das Jacob seinem son Jo-
seph gab / 6Es war aber daselbs Jacobs brun. Da nu
Jhesus muͤde war von der Reise / satzte er sich also auff
den brun / Vnd es war vmb die sechste stunde.5
Die optischen Besonderheiten von Textgestalt 5 werden Studierende im Vergleich mit den bisher betrachteten Textgestalten klar hervorheben können: die ungewohnte Schreibweise der Wörter (wie etwa die Schreibung des Jesusnamens, die uneinheitliche Schreibung des Vokalklangs »u« als »v« oder »u«, der hochgestellte Umlaut-Vokal und das fett gesetzte D in »Doͤrfflin«); die satzgliedernden Schrägstriche (Fachausdruck: »Virgel«6), die sich vielen bei genauerem Hinsehen als mit Punkt und Komma vergleichbare Satzzeichen erschließen werden;7 vor allem aber die beiden Großbuchstaben zu Beginn eines Absatzes sowie die beiden Großbuchstaben im Gottesnamen »HErr«.
Manche werden von selbst die Frage nach Funktion und Charakter dieser Großbuchstaben (Fachausdruck: »Versalien«8, »Majuskeln«9) stellen – eine Frage, die es lohnt, in kurzem Partneraustausch ventiliert zu werden, bevor sie im Plenum erörtert wird. Einige mögen die Versalien vage als »typisch altmodisch« bewerten. Andere, die etwa im Geschichts- oder Germanistikstudium schon mit alten Handschriften und Drucken zu tun hatten, könnten sich an visuelle Eindrücke von Initialen erinnert fühlen und die hervorstechenden Großbuchstaben als Verschönerung des Druckbildes, als Schmuck verstehen (Fachausdruck: »typographisch-ornativ«10). Einzelne werden in dieser Diskussion aber möglicherweise auch vorschlagen, die Großbuchstaben funktional und inhaltlich noch genauer mit Sinn zu füllen. Hintergrund ihres Vorschlags könnte nämlich die Verwunderung darüber sein, dass die Verwendung der Doppel-Großbuchstaben offensichtlich nicht einlinig zu begründen ist. Das Großbuchstabenpaar DA, dessen erster Großbuchstabe größer und in Fettdruck erscheint, scheint funktionalen Sinn zu haben: Es zeigt einen neuen Absatz an (Fachausdruck: »Abschnitt-Initiale«11). Das Großbuchstabenpaar HE hingegen könnte inhaltlich motiviert sein: Es könnte darauf hinweisen wollen, dass es sich bei Jesus nicht um einen menschlich-alltäglichen »Herrn«, sondern eben um den »Herrn Jesus Christus« handelt.
Mit solchen wichtigen, aus der visuellen Textwahrnehmung erwachsenen Vermutungen wären die Studierenden der »symboltypographische[n] Gestaltung«12 des historischen Luthertextes auf die Spur gekommen. Bei dieser Gestaltungsweise handelt es sich um ein »Auszeichnungsprinzip«13 des Textes, das den Laien-Lesern der Reformationszeit »visuelle Hilfen zum besseren (und schnelleren) Erfassen gewisser Wörter, Begriffe, Sentenzen usw. geben«14 sollte. Luthers Mitarbeiter Georg Rörer (1492–1557)15, der als Protokollant auch die Revisionsarbeit an Luthers Bibelübersetzung im Wittenberger Kreis festhielt,16 notiert in seinem Nachwort zum Bibeldruck von 1545 einige der Auszeichnungsregeln, die auf Luther selbst zurückgehen.17 So werden die wichtigsten »Spruͤche« des Alten Testaments, in denen Luther bereits eine Verheißung auf Christus hin erkennt, »mit groͤsser schrifft gedruckt«, damit sie der Leser »leicht vnd bald finden koͤnne«.18 Im Neuen Testament werden, wenn auch nicht völlig konsequent, die direkte Rede Gottes (wie etwa die Himmelsstimme bei Jesu Taufe nach Mk 1,9–1119), herausragende Worte und Reden Jesu (wie etwa der Taufbefehl in Mt 28,18–2020), aber auch menschliche Zeugnisse von Gotteserkenntnis und Gotteslob (wie etwa das Magnificat der Maria in Lk 1,46–5521) durch eine besondere Schriftart22 gekennzeichnet, um solche Passagen als theologisch bzw. christologisch relevante Aussagen erkennbar und wirksam werden zu lassen.
Eine Hervorhebung dieser Art zeigt sich im Textabschnitt Joh 4,1–15 gleich innerhalb des ersten Wechselgesprächs, das sich aus Jesu Bitte, die zum Brunnen gekommene samaritische Frau möge ihm zu trinken geben, entwickelt (V. 9–10):23
Textgestalt 6: Joh 4,9–10 im Druckbild der Lutherbibel 1545
9Spricht nu das Samaritisch weib zu jm / Wie bittestu
Von mir trincken / so du ein Juͤde bist / vnd ich ein
Samaritisch weib? Denn die Juͤden haben keine ge-
meinschafft mit den Samaritern. 10Jhesus antwortet /
vnd sprach zu jr / WENN DU ERKENNETEST DIE GABE
GOTTES / VND WER DER IST / DER ZU DIR SAGET / GIB MIR
TRINCKEN / DU BETEST JN / VND ER GEBE DIR LEBENDI-
GES WASSER.
Die für Jesu Antwort gebrauchten Kapitälchen signalisieren, dass seine Worte von der »Gabe Gottes« und vom »lebendigen Wasser« auf ihn selbst verweisen und also christologisch zu deuten sind. Die Kapitälchen erweisen sich somit als »drucksemantische Zeichen«24, in denen sich sowohl die exegetische Reflexion Luthers und des Wittenberger Übersetzer- und Revisionskreises spiegelt als auch deren Intention, den Lesern schon auf visueller Ebene einen theologischen Text zu präsentieren.
Auch zu den bei der visuellen Textwahrnehmung gewonnenen Überlegungen der Studierenden, die Großbuchstaben könnten bestimmten funktionalen oder inhaltlichen Sinn besitzen, finden sich Hinweise in Rörers Nachwort zum Bibeldruck von 1545 sowie bei Luther selbst in seiner Vorrede zum Alten Testament von 1523. Wenn es bei Rörer heißt: »so offt eine newe Historien / Straffe oder Trostpredigt / Ermanung / Wunderzeichen etc. angehet/ Jst am anfang derselben ein grosser Buchstab gesetzt«25, so bestätigt sich die studentische Vermutung, das Großbuchstabenpaar, dessen erste Versalie in Fettdruck und größer als die zweite gesetzt ist, diene der Absatzgliederung. Was wiederum die studentische Erwägung betrifft, das Großbuchstabenpaar HE solle inhaltlich auf Jesus Christus hinweisen, so lässt sich auch diese stützen durch den Hinweis darauf, dass Luther ausdrücklich festhält, die Schreibweise »HErr« – und davon unterschieden die Schreibung »HERR« oder »HERRE« – sei theologisch begründet: »Es sol auch wissen / wer diese Bibel liesset / das ich mich geflissen habe / den namen Gottis den die Juden / tetragrammon heyssen / mit grossen buchstaben aus zu schreyben / nemlich also /HERRE / vnd den andern / den sie heyssen /Adonai / halb mit grossen buchstaben / nemlich also / HErr / denn vnter allen namen Gottis / werden dise zween alleyn / dem rechten waren Gott ynn der schrifft zu geeygent / die andern aber werden offt auch den engelen vnd heyligen zu geschryben. Das hab ich darumb than / das man da mit gar mechtiglich schliessen kan / das Christus warer Gott ist / weyl yhn Jeremia. 23. HERR nennet / da er spricht / sie werden yhn heyssen HERR vnser gerechter / also an mehr orten des gleichen zu finden ist.«26
Studierende werden mit Hilfe eines Lehr-/Lern-Gesprächs, in dem Luthers Ausführungen erklärt und auf die Sprachtradition der Hebräischen Bibel bezogen werden, feststellen können, dass der abschnitts- und kapiteleinleitende Temporalsatz in seiner frühneuhochdeutschen Fassung und Schreibweise (»Da nu der HErr innen ward« [neuhochdeutsch: »weil/als nun der Herr sich dessen bewusst war«]) intentional den von Luther für die hebräische Gottesbezeichnung אָדוֹן [Adon/Herr] bzw. אֲדֹנָי [Adonai/(mein) Herr] reservierten Gottesnamen birgt. Es wird sich ihnen in der Anfangsphase ihres Studiums die Frage stellen, wie eine hebräische Gottesbezeichnung aus dem Alten Testament Eingang in die Sprache des Neuen Testaments findet.27 In Erwartung dieser Frage werden wir als Lehrende die Septuaginta in ihrer griechischen Fassung28 und die Ausgabe Septuaginta Deutsch – in Buchform29 (samt Erläuterungsbänden30) und mit dem entsprechenden Hinweis auf die elektronische Version31 – bereithalten, um auf Belege zugreifen zu können, in denen das griechische Wort κύριος zum einen in alltagssprachlich-profaner, zum anderen in theologischer Verwendung hervortritt. Anschauliche Beispiele für die profane Bedeutung »Herr, Gebieter, Besitzer« könnten etwa im Rahmen der Erzählung von Abrahams Kauf einer Grabhöhle für Sara (Gen 23,1–20) die Belege Gen 23,11.15LXX sein (Anrede Abrahams als κύριε) oder im Rahmen der Rechtsordnungen Ex 21,1–23,19 das Syntagma ὁ κύριος τῆς οἰκίας (Ex 22,7LXX). Beispiele für die theologische Füllung des Wortes bieten permanent die Psalmen mit der wiederkehrenden Gottesanrede κύριε/Herr (vgl. nur Ps 3,2LXX; 5,2LXX; 6,2LXX; 9,2LXX; 12,2LXX; 14,2LXX; pass.). Stilistisch eindrücklich lässt sich die Verwendung der Kyrios-Anrede durch die Repetition in Ps 134,13LXX (κύριε, κύριε/Herr, Herr) und durch die Alliteration in Ps 8,2LXX belegen (κύριε ὁ κύριος ἡμῶν/Herr, unser Herr[scher]). Semantisch besonders überzeugend wird für Studierende der Hinweis auf Ps 7,2LXX und Ps 79,5LXX sein, wo sich »Herr« und »Gott« in einem Atemzug als Invokationen ergänzen können: κύριε ὁ θεός μου (Ps 7,2LXX: Herr, mein Gott)/κύριε ὁ θεὸς τῶν δυνάμεων (Ps 79,5LXX: Herr, Gott der Heerscharen). Das Lehr-/Lern-Gespräch wird in diesem Zusammenhang die Gelegenheit nutzen, die sprach- und kulturgeschichtliche Leistung der Septuaginta zu thematisieren32 und fachsprachliche Termini wie »Gottesnamen«, »Würdenamen«, »christologische Hoheitstitel« einzuführen und zu reflektieren.33
Möglicherweise werden wir als Lehrende aber zunächst mit einer ganz anderen Frage der Studierenden konfrontiert. Es könnte ihnen nämlich bei der Arbeit an Textgestalt 5 im Vergleich mit den bisher betrachteten Versionen von Joh 4,1 aufgefallen sein, dass anstelle des explizit benannten Subjekts »Jesus« (vgl. Textgestalt 1–4) im Druck der Lutherbibel von 1545 eben der Auszeichnungsname »HErr« steht. Wenn wir nicht davon ausgehen wollen, dass Luther hier eine andere Ausgabe des griechischen Textes vorlag – Nestle-Aland 28. Aufl. verzeichnet jene Zeugen, die in V. 1 κύριος lesen –, so werden wir mit den Studierenden entdecken können, dass Luther bewusst für »Jesus« den christologischen Titel »Herr« einsetzt und mit der dafür verwendeten Druckgestalt »HErr« zum Ausdruck bringen möchte, dass er Jesus als Gott versteht.
Um nun die berechtigte Vermutung der Studierenden, das Großbuchstabenpaar HE könne Jesus als den »Herrn Jesus Christus« zur Geltung bringen wollen, endgültig als relevant zu würdigen und im Blick auf die drucksemantische Dimension »Jesus ist Gott« hin zu vertiefen, lohnt sich der Blick auf das Wechselgespräch zwischen Jesus und der Samariterin in den V. 11–15, in denen gerade das alltagssprachliche »Herr« erscheint. Nach Jesu Wort vom lebendigen Wasser in V. 10 beginnt mit V. 11 eine neue Phase des Dialogs, die durch die irritierte Frage der samaritischen Frau eingeleitet wird, woher denn Jesus, zumal ohne Schöpfgefäß, »lebendiges Wasser« nehme – die Samariterin bezieht solches Wasser auf das sprudelnde Grundwasser, das der Brunnen als »›gefasste Quelle‹«34 und aufgrund seiner Tiefe bereit hält. In V. 15 weicht ihre Irritation einer dringenden Bitte: Wenn wirklich, wie Jesus ihr sagt, er ein anderes Wasser zu bieten habe als der Jakobsbrunnen – eines, das in dem, der trinkt, eine Quelle von Wasser erzeugt, das ins ewige Leben »springt«35 – , dann möge er ihr eben dieses Wasser geben!
Textgestalt 7: Joh 4,11.15 im Druckbild der Lutherbibel 1545
11Spricht zu jm das weib / Herr / hastu doch nichts / da
mit du schepffest / vnd der Brun ist tieff / Wo her hastu
denn lebendig wasser?
15Spricht das weib zu jm / Herr / Gib mir dasselbige
wasser / auff das mich nicht duͤrste / das ich nicht her
komen muͤsse zu schepffen.
Eindeutig können die Studierenden nun erkennen, dass zwischen »HErr« (V. 1) und »Herr« (V. 11.15) ein Unterschied besteht. Die Samariterin spricht Jesus mit der Höflichkeitsanrede »Herr« an – und dem Bibeldruck von 1545 scheint daran gelegen zu sein, diese Anrede als eine alltags- bzw. routinesprachliche Anrede zu kennzeichnen. Weder in V. 11 noch in V. 15 wird »Herr« als christologischer Titel ausgezeichnet. Soll das zeigen, dass die samaritische Frau noch am Anfang eines Verstehensprozesses steht? Wird ihr im weiteren Gesprächsverlauf, in dem sie sich Schritt für Schritt an Jesu Bedeutung als Prophet (V. 19) und Messias (V. 15) herantastet, das doppelte Großbuchstabenpaar als Zeichen wachsender Christuserkenntnis zugebilligt? Studierende werden sich nicht ohne Neugier auf solche Fragen einlassen.