Читать книгу Das exegetische Proseminar - Stefan Fischer - Страница 6
Der methodische Ausgangspunkt
ОглавлениеZunächst ist festzuhalten: Es gibt keine einheitliche Literaturwissenschaft. Entsprechend gibt es auch nicht nur die eine literaturwissenschaftliche Exegese. In der Tat haben sich in dieser »Stilrichtung« mittlerweile viele verschiedene Spielarten entwickelt.1
Forschungsgeschichtlich höchst wirksam war die sog. »Richter-Schule«, die stark auf strukturalistischen Thesen basiert und sich v.a. mit der formalen Gestaltgebung biblischer Texte auseinandersetzt.2 Ein zweiter Ansatz wird von Christof Hardmeier verfolgt, der sich von der Handlungsspiel-Theorie herkommend mit der Wirkung der Texte beschäftigt.3 Daneben gibt es – besonders im angelsächsischen Bereich – viele weitere Herangehensweisen, die spezifische Methoden auf biblische Texte anwenden, wie z.B. narratologische Ansätze,4 aber auch dramentheoretische,5 dann der sog. canonical approach,6 oder neuerdings Versuche, das Konzept der Intertextualität fruchtbar zu machen.7 Die Vielfalt dieser Ansätze kann hier allerdings nicht hinreichend dargestellt werden. Stattdessen soll in diesem an der Hochschuldidaktik interessierten Forum der Vorteil literaturwissenschaftlichen Arbeitens anhand einschlägiger deutschsprachiger Lehrwerke zur alttestamentlichen Exegese vorgestellt werden. Der Ausgangspunkt liegt dabei bei dem »Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung« von Helmut Utzschneider und Stefan Ark Nitsche, dem Lehrwerk, das unter jenen mit einer literaturwissenschaftlichen Orientierung die wohl größte Verbreitung aufweist.
Die theoretischen Grundlagen: Zum besseren Verständnis wird im Folgenden die grundlegende Hermeneutik des Lehrwerks anhand einiger wichtiger Wendungen verdeutlicht:
(a) Rezeptionsästhetik:8 Ein Grundsatz des »Arbeitsbuchs« ist, dass Texte nicht losgelöst von ihren Kontexten zu lesen sind. Dies gilt in doppelter Hinsicht: Einerseits ist der Kontext ihrer historischen Entstehung zu beachten, was sicherlich ein Allgemeinplatz der Exegese ist. Daneben tritt aber ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal: Das Verständnis eines Textes ist immer auch abhängig von den Rezipierenden.9 Das individuelle Vorwissen, die persönliche Situation, dazu der zeitgenössische Kontext und zeitgeschichtliche Strömungen – all diese Faktoren wirken darauf ein, wie ein Text wahrgenommen wird.10 Da keine Lesesituation wie die andere ist, ist auch kein Leseverständnis einem anderen völlig gleich.11 Texte sind insofern als »situationsoffen« zu bezeichnen.12 Über diese Vielfalt in der Rezeption hinaus liegt die Uneindeutigkeit eines Textes aber bereits in seiner Grundstruktur selbst begründet. Kein Text ist in sich völlig abgeschlossen und eindeutig, sondern besitzt immer Vieldeutigkeiten, die unterschiedliche Verständnisse ermöglichen. Erst im Leseprozess werden diese »Leerstellen« je unterschiedlich durch die Rezipierenden gefüllt und vereindeutigt.13 Leserinnen und Leser wirken also dabei mit, welche Bedeutungen einem Text zugeschrieben werden. Die Sinnbildung geschieht gleichermaßen durch einen sinnoffenen Text wie durch sinngebende Leserinnen und Leser.
(b) Die drei Text-Intentionen: Angesichts dieser Prämisse der Rezeptionsästhetik bringt jeder Leseakt vielleicht keinen neuen Text, aber doch ein je neues Textverständnis hervor. Das führt zu einer wichtigen Unterscheidung im Anschluss an Umberto Eco, nämlich zu den sog. drei intentiones:14 die intentio auctoris, die intentio operis und die intentio lectoris.
Die intentio auctoris ist wohl diejenige Intention, an der Leserinnen und Leser vermutlich zunächst interessiert sind: Man will wissen, was die Autorin/der Autor »eigentlich gemeint hat«. Auch Eco geht davon aus, dass sie der hauptsächliche Fluchtpunkt des Leseverstehens ist. Allerdings ist er gleichzeitig überzeugt, dass sie immer nur ein virtueller Punkt bleibt,15 der nie erreicht wird, da kein Versuch des Verstehens genau exakt das reproduzieren wird, was die Autorin/der Autor tatsächlich intendierte. An dieser Stelle setzt die intentio operis ein. Man könnte sie als eine Art weites Feld von Textaussagen beschreiben, welches ein Text uns bietet – viele verschiedene Verständnisse sind möglich.16 Eine Intention innerhalb dieses Feldes ist die intentio auctoris, aber hinzu treten weitere, nämlich jene der Leserinnen/Leser: die intentiones lectoris. Nach Eco wird jede intentio lectoris dem Text regelrecht »aufgezwungen«.17 Ein wissenschaftlich lauterer Leseakt wird sich also immer darum bemühen, die intentio operis gegenüber einer »übergriffigen« intentio lectoris zu verteidigen.18
Hervorzuheben ist, dass die eine Intention des historischen Autors – wenn überhaupt – bestenfalls tentativ und fragmentarisch zu eruieren sein wird. Primärer Gegenstand der Untersuchung ist darum zunächst und v.a. die intentio operis.19
(c) Der Text als ästhetisches Subjekt: Für einen biblischen Text folgt daraus, dass die intentio auctoris auf der Ebene des Endtextes in der intentio operis aufgeht; oder mit den Worten Utzschneiders: »Der Endtext hat keinen Autor, der ihn oder für ihn spricht, er spricht für sich selbst.« Aus diesem Grund bezeichnet Utzschneider einen Text als »ästhetisches Subjekt«, weil er »ein selbständiges Gegenüber ist, das die Hörenden oder Lesenden in deren Wahrnehmung unmittelbar […] betrifft und anspricht«20.
Ein Text bietet in diesem Sinne immer Potentiale des Verstehens an, er ist eine Art »Anleitung für Leser, sinnvolle Gehalte hervorzubringen«.21 Eine solche Texthermeneutik steht natürlich in einem gewissen Widerspruch zur Fokussierung der »klassischen« Methoden auf die intentio auctoris.22 Genau genommen wird dort ein Text primär als Mittel zum Zweck gebraucht, um die historischen Aussageabsichten zu ermitteln.23 Natürlich legt ein Text niemals seine historische Prägung durch Autoren, Fortschreiber oder Redaktoren ab. Diese ist allerdings auf der Ebene des Endtextes zunächst nicht zugänglich und kann m.E. erst jenseits einer grundlegenden Textwahrnehmung erhoben werden.
(d) Die Lese-Hermeneutik der Behutsamkeit: Die Wahrnehmung eines Textes steht immer in der Gefahr, Sachfremdes in diesen hineinzulesen – also »Eisegese« zu betreiben.24 Darum ist für den Umgang mit Texten ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein nötig – eine »Lese-Hermeneutik der Behutsamkeit«25. Letztlich geht es dabei um nichts anderes als um ein methodisch abgesichertes mehrfaches Lesen des Textes,26 das diesen in einer »theoretisch-wissenschaftlich begründeten, nachvollziehbaren Weise«27 beschreibt. Durch eine solche Systematisierung der Textwahrnehmung wird intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewährleistet und der Text als textum (»Gewebe«) erschlossen.28 Zudem will gerade diese literaturwissenschaftliche Textanalyse der intentio operis ihr Recht gegenüber einer Vereinnahmung durch die intentio lectoris verschaffen.29 Die Grundfrage in diesen mehrfachen Lesedurchgängen kann dabei – ein wenig salopp – etwa so gefasst werden: »Wie und warum funktioniert ein Text gerade so, wie er es tut?«
Methodische Beispiele: Wie sich diese Texthermeneutik auswirkt, wird nun anhand zweier Beispiele demonstriert, an denen der literaturwissenschaftliche Impetus des Ansatzes besonders deutlich wird.
(a) Beispiel 1: Die Textanalyse: Die methodische Textanalyse nach Utzschneider/Nitsche ist an jedem atl. Text durchführbar – wenngleich sicherlich mit unterschiedlichen Fokussierungen je nach Text. Die Analyse fungiert als »Universalschlüssel«, um den Text zu erschließen, während die späteren Arbeitsschritte als »Spezialschlüssel« auf spezielle Themen und Fragestellungen passen.30
Für die Textanalyse hat sich die wichtige Unterscheidung der Untersuchungsebenen in Textoberflächenstruktur, Texttiefenstruktur und Textpragmatik bewährt. Die ersten beiden Begriffe stammen aus der strukturalistischen Literaturwissenschaft, in der die Oberflächenstruktur für die formale, »oberflächenhafte« Textur eines Textes unter Absehung von seinem Inhalt steht. Dieser Inhalt wird dann in einem zweiten Analyseschritt als Tiefenstruktur zu erfassen versucht.31 Die Textpragmatik versteht den Text demgegenüber als einen Kommunikationsakt, der bei den Rezipierenden etwas bewirken will.32 Diese Wirkung ist der Gegenstand der Untersuchung.
Für die Oberflächen- und Tiefenstruktur ist weiterhin die Unterscheidung in Lautebene, Wortebene, Satzebene und Textebene sinnvoll. Dabei wird die Fokussierung von einer größtmöglichen Detailwahrnehmung zu Beginn immer stärker geweitet, bis schließlich der gesamte Text in den Blick kommt.33
Im Einzelnen beschäftigt sich die Untersuchung der Textoberflächenstruktur u.a. mit folgenden Textphänomenen: Alliterationen, lautliche Anspielungen, Reime sind Gegenstand der Lautebene; auf der Wortebene interessieren v.a. die Wortarten und die Wurzelstatistik;34 die Satzebene betrachtet Syntax und Satzformationen; die Textebene umfasst Textstrukturierung, Personage und Verweisstruktur (Phorik). Bei der Untersuchung der Texttiefenstruktur wird das Augenmerk bei der Laut-/Wortebene dann auf die Aspekte der Wortfelder und Leitworte gelegt; für die Satzebene sind die Parallelismen von Belang; in der Textebene geht es v.a. um die inhaltliche Gliederung. Außerdem müssen auch die Textgrenzen eingehend untersucht werden.35
Die Textpragmatik wird anders unterteilt. Im Anschluss an Andreas Wagner wird versucht, die Wirkung auf die Rezipierenden durch unterschiedliche Sprechaktklassen zu beschreiben. Dabei wird differenziert in expressive Sprechakte (Darstellung von Haltungen, Werturteilen etc.), direktive Sprechakte (Aufforderung zu Handlungen; v.a. in Rechtstexten), kommissive Sprechakte (Selbstverpflichtung des Sprechers), deklarative Sprechakte (performative Rede im eigentlichen Sinn, in der durch Sprache Wirklichkeit geschaffen wird) sowie repräsentative Sprechakte (behauptende Darstellung von Sachverhalten als wahr bzw. falsch).36
Diese Unterteilungen mögen zunächst etwas künstlich wirken – so z.B. die prinzipielle Unterscheidung von Form und Inhalt, da diese in vielerlei Hinsicht interdependent sind.37 Man darf die Einteilungen jedoch gerade nicht als absolute Abgrenzungen missverstehen, sondern als eine pragmatische Schematisierung zugunsten der Handhabbarkeit, gewissermaßen als kontrollierte Lesehilfe. So verstanden ist die daraus resultierende systematisierte Wahrnehmung des Textes hilfreich, auch wenn in der Praxis die Methoden bisweilen durchaus überlappend oder mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen angewendet werden.38 Insgesamt aber ist die grundsätzliche Unterteilung für eine präzise und reflektierte Wahrnehmung textlicher Phänomene sinnvoll und dienlich.39
(b) Beispiel 2: Die Gattungskritik: Das zweite Beispiel ist die Gattungskritik, die sich bei Utzschneider/Nitsche, deutlich von der älteren Exegese absetzt. Lange Zeit diente die Formgeschichte, wie sie meist heißt, v.a. dazu, hinter die älteste schriftliche Fassung eines Textes zu fragen. In Fortführung der Studien von Hermann Gunkel wurde versucht, noch jenseits der redaktionsgeschichtlichen Schichtungen verlässliche Aussagen über das mündliche Textwachstum zu treffen.40 Die Forschung war dabei von einer sehr optimistischen Grundhaltung geprägt: Bereits die älteste schriftliche Fassung sei im Wortlaut zu rekonstruieren und im Anschluss daran seien im Rückgriff auf die mündlichen Gattungen sogar recht klare Aussagen über ältere Entwicklungsstufen möglich.
Utzschneider/Nitsche verfolgen hingegen ein anderes Ziel: Gattungen werden zwar nach wie vor als wiederkehrende Textbildungsmuster aufgefasst, welche sich anhand formaler wie inhaltlicher Gesichtspunkte bestimmen lassen. Gleichzeitig verändert sich die Stoßrichtung aber erheblich, da stärker mit literarischen Entwicklungen solcher Textbildungsmuster gerechnet wird. Gattungen gelten damit nicht alleine als Indizien für ursprünglich mündliche Kurztexte, die in der Textgeschichte als Vorstufen späterer schriftlicher Fassungen dienen.41 Vielmehr werden Gattungen sozusagen als Stilmittel verstanden, die ggf. literarisch eingesetzt werden, um bestimmte Effekte zu erzielen.42
Folgerichtig rechnen Utzschneider/Nitsche darum mit einem »Sitz im Leben ›Literatur‹«,43 der für viele atl. Texte anzunehmen sein dürfte: Der Sitz im Leben einer Gattung ist dann nicht notwendigerweise irgendein mündliches Setting aus der Frühzeit. Viel wahrscheinlicher ist die bewusste literarische Gestaltung von Texten anhand bekannter Muster innerhalb des »biblischen Literaturbetriebs«44.
Aufgrund dieses Verständnisses ist die Gattungskritik mit der Traditionskritik unter dem Titel »Welt des Textes« zusammengefasst und direkt nach der Textanalyse positioniert: Die Gattungskritik will den literarischen Verstehenskontext des Textes erhellen, indem sie die hermeneutischen Muster der Textbildung offenlegt. Insofern ist auch bei Utzschneider/Nitsche die Gattungskritik historisch ausgerichtet, aber es soll nicht mehr primär die mündliche Entstehungsgeschichte im Fokus stehen.45 Dies schlägt sich auch in der veränderten Nomenklatur nieder, wenn von analytischer Gattungskritik die Rede ist statt von primär diachroner Formgeschichte.46
Infolge dieser veränderten Hermeneutik wird im Arbeitsbuch versucht, solche Textbildungsmuster vor allem unter literarischen Gesichtspunkten zu beleuchten. Ein Proprium bei Utzschneider/Nitsche liegt daher in den drei anschließenden Kapiteln, in denen sich ein umfassendes Instrumentarium zur literaturwissenschaftlichen Erschließung von Gattungen für narrative und poetische Texte sowie für Texte aus dem corpus propheticum findet.47