Читать книгу Die Kiste Gottes - Stefan Gämperle - Страница 10

7.

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Jessica rannte die schmale, gewundene Strasse hinunter. Der Verfolger kam ihr immer näher. Sie suchte nach einer Möglichkeit sich zu verstecken - aber weit und breit konnte sie nichts finden. Nur ein weites, offenes Feld, durch das sich die Schotterstrasse wand und auf der sie ihrem Verfolger zu entkommen versuchte. Langsam stieg feiner Nebel aus den Feldern, am Himmel schien keine Sonne. Weiter vorne erschien ein grauer, flacher Platz: weit, ohne Gebäude. Auf dem Platz standen reglose, blasse Menschen. Sie schrie um Hilfe. Niemand reagierte. Jessica blickte zurück. Der Verfolger befand sich nur noch wenige Meter hinter ihr. Bald würde er sie einholen.

Sie hatte den Platz erreicht. Sie schrie wieder verzweifelt um Hilfe, aber niemand beachtete sie. Die Leute standen teilnahmslos da und unterhielten sich. Niemand nahm Notiz von ihr.

Der Verfolger rannte noch eine Armlänge entfernt hinter ihr her. Jeden Moment würde er sie packen. Sie hörte Stimmen. Jemand rief ihren Namen. Verzweifelt schaute sie sich um.

Nichts.

Sie hastete weiter zwischen den Leuten umher. Da vorne spielten Kinder. Nein, sie weinten. Sie riefen ihren Namen. Als sie völlig ausser Atem die Kinder erreichte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

Jessica schreckte hoch. Sie brauchte einen kurzen Moment um zu realisieren, dass sie bei sich zu Hause in ihrem eigenen Bett lag. Durch die geschlossenen Jalousien zwängte sich sanftes Morgenlicht ins Zimmer. Die Hand auf ihrer Schulter gehörte Simone, die weinend neben dem grossen Doppelbett stand und ihren Namen rief.

Jessica setzte sich auf und zog Simone zu sich heran. „Was ist denn los?“, fragte sie ihre jüngste Tochter und schloss sie in die Arme. Nach dem Traum taten ihr die Nähe und Wärme gut.

„Marco und Julia lassen mich nicht mitspielen“, antwortete Simone schluchzend und strich sich ihre blonden Haare aus der Stirn. Tränen rannen aus den blauen Augen und kullerten über die runden Backen. „Sie sind in Marcos Zimmer und lassen mich nicht hinein.“ Schluchzend schmiegte sie sich fester an ihre Mutter.

„Willst du denn nicht lieber alleine etwas spielen?“

„Nein! Ich will mit den anderen spielen!“ kam die trotzige Antwort. Das Weinen hatte aufgehört.

„Aber, wenn du alleine etwas spielst, dann kannst du machen, was du willst und musst dir nicht von den anderen sagen lassen, was du zu tun hast. Das ist doch viel schöner.“

„Ich will aber nicht alleine spielen!“

„Aber, wenn Julia und Marco alleine spielen wollen, kann ich sie doch nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Sie…“

„Doch das kannst du! Sag ihnen, dass sie mich mitspielen lassen sollen!“

„Aber dann lassen sie dich nur mitspielen, weil ich es ihnen befohlen habe und dann sind alle unzufrieden.“

„Das ist mir egal! Ich will nicht alleine spielen!“ Simone begann wieder zu schluchzen. Das war ihre Masche. Wenn sie etwas erreichen wollte, begann sie immer zu weinen. Da es beim Vater wirkte, versuchte sie es auch bei ihrer Mutter.

„Simone, es nützt nichts, wenn du wieder zu weinen beginnst. Wenn du mit den anderen spielen möchtest, dann musst du das alleine mit ihnen ausmachen. Ich werde sie nicht zwingen, dich mitspielen zu lassen. Du und Julia, ihr lasst Marco auch nicht immer mitspielen.“

„Du sollst ihnen sagen, dass sie mich mitspielen lassen müssen!“, sagte Simone. Sie zwang sich wieder zu weinen.

„Simone, hör auf zu weinen. Du weisst genau, wo du dich ausweinen kannst. Dies ist kein Grund zum Weinen.“

„Mami, bitte!“, brachte sie unter Tränen hervor.

„Ich habe nein gesagt!“

Simone riss sich los und rannte weinend in ihr Zimmer. Die Tür flog mit einem lauten Knall ins Schloss und das Heulen drang nur noch gedämpft zu Jessica hinüber. Bald würde das Weinen in ein Schluchzen übergehen, um danach ganz zu verstummen.

Jessica schaute auf den Wecker. Acht Uhr. Normalerweise konnte sie an einem Samstag nicht solange schlafen, wenn die Kinder bei ihr waren. Sie fühlte sich noch immer müde. Es kam ihr vor, als habe sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Mehrere Male war sie erwacht und konnte immer nur mit Mühe wieder einschlafen.

Sie streckte sich und die Decke glitt von ihr herunter. Die Kühle im Zimmer liess sie erschaudern. Sie widerstand der Versuchung sich noch einmal in die warme Decke zu kuscheln. Schnell stieg sie aus dem Bett, zog Trainingshosen und ein Pullover über. Auf dem Weg zur Küche horchte sie an Simones Tür. Simone sang leise vor sich hin. Aus Marcos Zimmer hörte sie etwas, was sich anhörte wie ein Ritter- und Prinzessinenspiel.

Als sie in der Küche die Kaffeemaschine eingeschaltet hatte, schlurfte sie ins Wohnzimmer und nahm den schnurlosen Apparat aus der Ladestation. Sie wählte die Nummer ihres Vaters. Während es klingelte, ging sie zurück in die Küche und liess die Kaffeemaschine spülen, leerte das Spülwasser aus und drückte auf den Knopf für den extrastarken Frühstückskaffee. Die Maschine begann lautstark die Bohnen zu mahlen. Am andern Ende der Telefonleitung meldete sich erneut der Anrufbeantworter. Ungläubig hörte Jessica die Bandansage. Sie schaute auf die Küchenuhr. Es war nun viertel nach Acht. Unmöglich, dass ihr Vater so lange schlief. Selbst mit einem Jetlag. Für gewöhnlich stand er immer um Sieben auf. Er hielt es für Verschwendung, wenn man länger schief.

Was war nur los?

Jessica fühlte wie das Unbehagen wieder in ihr aufstieg. Sie nahm die Kaffeetasse von der Maschine und trank langsam. Sie musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Was könnte passiert sein, fragte sie sich. Sie ging alle Möglichkeiten durch, die ihr einfielen. Doch mehr als gestern Abend fielen ihr nicht ein. Obwohl sie davon ausging, dass ihr Vater sie angerufen hätte, wenn er das Flugzeug verpasst hätte, entschloss sie sich bei der Fluggesellschaft anzurufen.

Sie ging mit dem Kaffee ins Büro und startete den Computer. Während dieser hochfuhr und sie sich danach mit dem Internet verband, wählte sie nochmals die Nummer ihres Vaters - wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter. Auf der Webseite der Fluggesellschaft fand sie eine Kontaktnummer. Die Frau am anderen Ende der Leitung wollte ihr allerdings keine Informationen über die Passagiere geben, die auf dem Flug an Bord gewesen waren. Sie erklärte lediglich, dass der Flug von Los Angeles nach Zürich gestern planmässig verlaufen sei. Die Dame von der Fluggesellschaft schaute noch nach, ob auch der Flug von Hawaii nach Los Angeles laut Plan abgelaufen sei. Aber auch dieser Flug war ordnungsgemäss verkehrt. Jessica bedankte sich und legte auf.

Sie suchte die Nummer des Hotels in Hawaii, die ihr Vater ihr vor der Abreise gegeben hatte. Der Zettel hing noch immer am Kühlschrank neben den Zeichnungen ihrer Kinder. Beim wählen der langen Nummer vertippte sie sich zwei Mal, beim dritten Versuch klappte es. Die Rezeption meldete sich und der Mann erklärte ihr, dass Mister Oberhofer am Donnerstagmorgen ausgecheckt habe. Die Frage, ob er ein Taxi zum Flughafen genommen habe, konnte er Jessica nicht beantworten, da er zu dieser Zeit keinen Dienst gehabt habe.

Es schien, als sei bei der Rückreise alles planmässig verlaufen. Anders hatte sie es eigentlich nicht erwartet. Sie setzte sich an den Küchentisch, der wie der Rest der Küche in hellem Holz gearbeitet war. Die Küche bot viel Platz zum Arbeiten und Essen. Jessica sass gerne in dem hellen Raum und las die Zeitung, doch im Moment war ihr nicht nachlesen. Sie ging nochmals durch was geschehen sein könnte.

Die Kinder rissen sie aus ihren Gedanken. Sie gestattete ihnen fernzusehen, damit sie weiter nachdenken konnte.

Was konnte sie jetzt noch unternehmen? Sie kam zur Einsicht, dass sie im Moment nichts weitermachen konnte, ausser abzuwarten. Die Zeit reichte nicht aus, um mit den Kindern nach Sumiswald zu fahren und nachzuschauen, ob ihr Vater zu Hause angekommen war. Also entschloss sie erst einmal duschen zu gehen und am Nachmittag zum Hause ihres Vaters zu fahren, wenn ihr Ex-Ehemann die Kinder abgeholt hatte.

Nach der Dusche fühlte sich Jessica fit. Sie stand nackt im Badezimmer und genoss die Kühle, die ihr nach der warmen Dusche wie ein sanftes Streicheln über die Haut kroch. Mit einem Tuch wischte sie den Dampf vom grossen Spiegel über dem Waschbecken, der von drei Spots beleuchtet wurde. Sie betrachtete ihr Gesicht. Die ersten Falten zeichneten sich um die Augen ab, aber das störte sie nicht. Sie fand, dass sie trotz ihrer Sechsunddreissig Jahre noch immer attraktiv aussah. Ihr schwarzes Haar glänzte noch immer ohne graue Strähnen darin und ihre blauen Augen strahlten Lebensfreude aus - trotz der kleinen Falten. Die Haut spannte sich noch immer straff über ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen.

Sie hatte gerade den Föhn eingeschaltet, als es an der Haustür klingelte. Die Kinder rannten kreischend zur Tür. Alle wollten die Tür öffnen und taten dies auch lautstark kund. Jessica warf sich ihren Morgenmantel um ihren schlanken Körper, kämmte sich die Haare in den Nacken und band sie mit einem Gummiband zusammen.

„Opa! Opa! “ hörte sie die Kinder im Flur rufen.

Jessica war verwirrt und erleichtert zugleich. Warum besuchte sie ihr Vater so früh am Morgen und ohne sie vorher anzurufen? Aber glücklicherweise schien bei ihm alles in Ordnung zu sein. Sie beeilte sich und hastete in den langen Flur.

„Es ist Opa“, rief ihr Marco entgegen und machte sich wieder auf den Weg zum Fernseher. Die beiden Mädchen folgten ihm und bestätigten ihr nochmals, dass es Opa sei.

„Hallo Papi, was machst denn du hier? Und wie siehst du denn aus?“, fragte Jessica, die ihren Vater verwundert musterte.

Er sah schmutzig aus. Die kurzen, grauen Haare standen in allen Richtungen vom Kopf ab, Bartstoppeln sprossen und unter den braunen, listigen Augen hatten sich Ringe gebildet. Über der schwarzen Jeans spannte sich ein graues Sweatshirt über den immer grösser werdenden Bauch. Ein dunkler Mantel hing ihm offen über die Schultern und die Füsse streckten in den roten Nike–Turnschuhen. Das entsprach nicht seinem üblichen Erscheinungsbild. So hatte sie ihren Vater noch niemals ausserhalb seiner eigenen vier Wände gesehen. Er legte stets grossen Wert auf ein gepflegtes Auftreten. Etwas, das sie von ihm übernommen hatte.

„Hallo mein Schatz, entschuldige bitte mein Aussehen, und dass ich unangemeldet hier auftauche, aber ich wusste sonst nicht wohin.“ Sie umarmten sich in der Tür.

„Das macht doch nichts, komm rein. Du siehst aus, als ob du einen Kaffee vertragen könntest.“

„Ja danke, ein starker Kaffee wird mir jetzt guttun.“ Oberhofer hängte seinen langen, braunen Lodenmantel an die eiserne Garderobe und folgte Jessica in die Küche. Die Maschine mahlte bereits die Bohnen, als er die Küche betrat. Er setzte sich an den Küchentisch.

„Danke“, sagte er, als Jessica ihm den Kaffee servierte. Er trank in langsamen Schlucken. Die Wärme durchfloss seinen Körper. Jessica setzte sich ebenfalls mit einer Tasse zu ihm an den Tisch.

„Was ist denn bloss geschehen?“, fragte sie, nachdem sie ebenfalls einen Schluck getrunken hatte. „Ich konnte dich gestern Abend und auch heute Morgen nicht zu Hause erreichen. Ich habe mir bereits Sorgen gemacht.“

„Es tut mir leid, Kleines“, antwortete Oberhofer und umklammerte die Tasse, um seine Hände zu wärmen. „Seit ich gestern heimgekommen bin, hat sich eine Menge zugetragen. Ich habe ganz vergessen dich anzurufen. Es tut mir leid“, wiederholte er.

„Warst du denn gestern gar nicht zu Hause? Ich habe mehrmals angerufen.“

„Kaum hatte ich die Koffer abgestellt, musste ich wieder los, um mich mit jemandem zu treffen. Dann war ich wohl zu sehr in das vertieft, was ich geschickt bekommen habe.“

„Macht ja nichts. Die Hauptsache ist, dass es dir gut geht“, sagte sie und legte ihm die Hand beruhigend auf den Arm. „Was ist denn so Wichtiges geschehen, dass es dich komplett eingenommen hat?“

Er legte seine warme Hand auf ihre und streichelte sie langsam. „Ich weiss es nicht…“, sagte er schliesslich leise und nach einer längeren Pause.

„Was weisst du nicht?“, fragte Jessica verwundert. „Du weisst nicht, was dich gestern so beschäftigt hat?“

„Ja und nein“, antwortete er und blickte in die Kaffeetasse.

Jessica sagte nichts und wartete ab. Nach einer Weile blickte er auf und schaute sie mit einem fragenden Blick an. „Ich weiss schon, was mich gestern so beschäftigt hat…“, er stockte erneut. „Aber ich weiss nicht, woher es kam und was es ist.“

„Das klingt aber geheimnisvoll…“

„Ist es auch, glaub mir! Ich habe keine Ahnung um was es sich bei der Sache dreht. Aber es ist faszinierend.“ Er stand auf und liess sich noch eine Tasse Kaffee von der Maschine zubereiten.

„Los erzähl schon!“, drängte ihn Jessica, ihr Interesse war geweckt. Sie wusste, dass ihr Vater nicht zu Übertreibungen neigte, eher im Gegenteil.

„Ich weiss nicht, ob ich dich damit hineinziehen soll.“ Er schaute sie liebevoll an und tätschelte ihre Hand, als er sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. „Ich weiss ja selber noch nicht, was es ist und um was es genau geht. Es ist auf jeden Fall sehr mysteriös und scheinbar interessieren sich noch andere dafür. Deshalb bin ich ja hier: Ich musste letzte Nacht aus meinem Haus fliehen. Es…“

„Was?“, unterbrach ihn Jessica besorgt.

„Keine Sorge, es ist mir ja nichts passiert“, beruhigte er sie mit seiner sanften Stimme.

„Aber um was geht es denn?“, fragte Jessica immer noch verblüfft und besorgt.

„Wenn ich das nur wüsste.“ Er trank einen Schluck Kaffee und fuhr dann langsam fort: „Lass mich von Anfang an erzählen. Kaum zu Hause angekommen, klingelte das Telefon. Eine Männerstimme forderte mich auf ihn in einer Stunde auf einem abgelegenen Parkplatz zu treffen. Er habe ein Packet, dass er mir persönlich übergeben müsse. Auf meine Frage, was es sei, sagte er, er wisse es nicht. Er habe den Auftrag, mir ein Packet persönlich zu übergeben. Du weisst, ich bekomme viele solche Anrufe und die meisten ignoriere ich, weil es sich um irgendwelche geltungssüchtigen Spinner handelt.“ Er blickte von der Tasse auf und schaute Jessica an. Sie nickte und er fuhr fort: „Da er mir nicht sagen konnte oder wollte, was in dem Packet sei, wurde ich neugierig und entschloss mich hinzugehen. Denn normalerweise prahlen die Leute schon am Telefon was sie Grossartiges für mich hätten. Ich hatte nicht einmal genug Zeit die Post durchzusehen, wenn ich rechtzeitig am Parkplatz sein wollte. Also fuhr ich sofort los. Auf dem Parkplatz erhielt ich eine Holzkiste ohne irgendwelche weiteren Informationen. Nur die Kiste. Keine Angaben woher sie stammt oder wer sie mir geschickt hat.“

„Wer hat sie dir übergeben? Kanntest du ihn?“

„Nein, ich konnte nicht einmal sein Gesicht erkennen. Er sprach mit einem italienischen Akzent und achtete sehr darauf, dass ich ihn nicht erkennen konnte.“

„Was geschah dann?“ Die Geschichte begann Jessica zu faszinieren.

„Nun, ich nahm die Kiste und fuhr mit ihr nach Hause. Es…“

„Konntest du keinen Hinweis auf den Absender entdecken?“, unterbrach sie ihn.

„Nein. Es war eine schlichte Holzkiste, die in Packpapier eingewickelt war, etwa so gross“, er zeigte mit den Händen die ungefähren Masse. „In meinem Haus angekommen, habe ich die Kiste dann geöffnet.“ Er trank einen weiteren Schluck Kaffee.

„Und?“, fragte ihn Jessica ungeduldig.

„Wenn ich bis dahin schon gedacht hatte es sei mysteriös, musste ich jetzt feststellen, dass es erst begonnen hatte. In der Holzkiste steckte eine Art Metallkiste. Sonst nichts. Kein Brief, keine Erklärung, kein Hinweis auf den Absender, nur die Metallkiste.“

„Was meinst du mit eine Art Metallkiste?“, fragte Jessica verwundert.

„Nun, es ist Metall, da bin ich mir sicher. Aber ich kenne es nicht.“ Er schaute sie an und schüttelte leicht den Kopf.

„Was heisst das, du kennst es nicht?“

„Die Kiste müsste für ihre Grösse viel schwerer sein.“

„Was willst du damit sagen?“, sie war vollkommen verwirrt.

Er schaute sie an und sagte mit einem gequälten Lächeln: „Ein solches Metall gibt es nicht.“

Sie lehnte sich zurück und starrte ihn an. Sie wusste, dass er sich in den zwanzig Jahren, die er bei der NASA gearbeitet hatte, viel mit Metallen beschäftigt hatte und damit beauftragt war neue Werkstoffe für die Raumfahrt zu entwickeln. Wenn ihr Vater ein Metall nicht kannte, dann musste es sich um etwas ganz Spezielles handeln. „Aber was ist es dann?“, fragte sie perplex.

„Ich wage nicht auszusprechen, was ich denke. Du hältst mich dann sicher für einen alten Trottel.“

„Vater!“, sagte Jessica mit gespielter Empörung. „Du weisst, dass ich das niemals von dir denken würde. Auch wenn ich mit einigen deiner Theorien nicht einverstanden bin.“

„Eben darum geht es. Ich glaube, dass die Kiste nicht von diesem Planeten stammt.“

„Was?“, sie starrte ihn ungläubig an. „Und wer hat sie dir dann geschickt? Ausserirdische?“, sagte sie mit einem ironischen Unterton. Jessica begann nun doch zu zweifeln. Obwohl es gar nicht die Art ihres Vaters war solche Geschichten zu erfinden.

„Siehst du“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Du glaubst mir nicht.“

„Entschuldige Papi, aber das ist unglaublich.“

„Ich weiss! Aber was soll ich denn machen? Ich habe die Kiste gestern Abend mit eigenen Augen gesehen und habe sie lange untersucht.“

„Wer sollte dir eine solche Kiste schicken?“

„Ich habe keine Ahnung. Ich weiss noch nicht einmal, woher sie gekommen ist. Bei meinen Projekten, an denen ich zurzeit arbeite, gibt es niemanden, der mir so etwas kommentarlos schicken würde.“

Jessica stand auf, machte zwei neue Kaffees und setzte sich dann wieder an den Tisch. „Vielleicht will dich jemand auf den Arm nehmen“, spekulierte sie, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte.

„Das glaube ich nicht. Wozu der ganze Aufwand? Und ich sage dir, das Metall gibt es hier nicht“, wiederholte er eindringlich. „Sicher, zuerst muss ich es genauer untersuchen, damit ich hundertprozentig sicher sein kann. Aber ich erkenne ein Metall, wenn ich es sehe und so etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Es müsste sich um eine völlig neue Legierung handeln. Die ganzen Umstände lassen mich einfach glauben, dass es sich hier um etwas ganz Spezielles handelt. Ob es nun von diesem Planeten stammt oder nicht. Es ist kein Metall, dass man hier findet.“

„Was ist denn überhaupt in der Kiste?“

„Keine Ahnung“, antwortete Oberhofer kopfschüttelnd. „Ich habe sie nicht öffnen können. Ich habe alles versucht, aber keinen Weg gefunden, sie zu öffnen.“

Jessica sah in fragend an und als sie nichts sagte, erklärte er: „Ich habe die Kiste gründlich untersucht - sicher zwei Stunden lang. Ich konnte nichts finden, um die Kiste zu öffnen. Es gibt keine Scharniere, keine Schlösser, keine Knöpfe, rein gar nichts. Nur ein paar Schriftzeichen auf einer Seite.“

„Was sagen die Schriftzeichen?“

„Keine Ahnung. Ich konnte sie nicht entziffern.“

„Was für Schriftzeichen könnten es denn sein?“ Jessicas Forscherdrang erwachte und sie war wieder völlig fasziniert. Eine solche Geschichte erfände ihr Vater niemals.

„Das kann ich dir nicht sagen. Im Zusammenhang mit dem Metall kann es für mich nur eine Erklärung geben. So fantastisch sie auch klingen mag.“

„Wo ist die Kiste jetzt?“, plötzlich fiel Jessica ein, dass ihr Vater nichts bei sich getragen hatte. Die Erzählung hatte sie so gefesselte, dass ihr das gar nicht aufgefallen war.

„Ich konnte sie nicht mitnehmen, es wäre zu gefährlich gewesen, wenn sie mich finden. Zudem konnte ich nicht mehr zum Haus zurück.“

„Wieso, wer soll dich finden?“

„Ich weiss nicht, wer es ist. Aber scheinbar haben sie etwas in meinem Haus gesucht. Ich nehme an, die Kiste.“

„In deinem Haus? Ist jemand eingebrochen? Wann? Musstest du deshalb fliehen?“, Jessica staunte. Die Geschichte wurde immer undurchsichtiger.

„Ja, gestern Nacht ist jemand eingebrochen.“ Er erzählte ihr, was in der der letzten Nacht vorgefallen war und was er beobachtet hatte.

„Ja, und so bin ich nun hier und weiss nicht, was ich weitermachen soll. Du bist der einzige Mensch dem ich vertrauen kann“, schloss Oberhofer seinen Bericht ab.

Jessica hatte die ganze Zeit gebannt zugehört. Wie konnte so etwas nur geschehen, dachte sie sich. Sie nahm die Hand ihres Vaters und hielt sie mit beiden Händen fest. Es gab für sie keine Zweifel mehr, dass es sich bei der Kiste um etwas sehr Bedeutendes handelte. „Wer könnte hinter den Einbrüchen stecken? Hast du irgendeine Idee?“, fragte sie nach einer längeren Pause.

„Ideen habe ich viele, aber es sind nur Spekulationen. Es gibt viele Gruppen und Organisationen, die alles unternehmen würden, um an einen solchen Gegenstand zu gelangen. Auch gewisse Regierungsorganisationen schrecken vor nichts zurück, um so etwas in ihren Besitz zu bringen.“

„Was sollen wir tun?“

„Wir?“, er schaute seine Tochter mit einem fragenden und flehenden Blick an.

„Sicher, ich werde dich mit dieser Sache nicht alleine lassen. Die Kinder sind über Weihnachten und Neujahr bei ihrem Vater, also muss ich mir um sie keine Sorgen machen.“

„Und hast du eine Idee, was wir als Nächstes unternehmen sollten?“

„Wir müssen noch jemanden einweihen“, schlug sie vor.

„Wie bitte?“, Oberhofer zog die Hand zurück und schaute seine Tochter überrascht an. „Wir dürfen niemandem etwas von der Kiste erzählen! Erst wenn wir alle Fakten kennen und wissen um was es sich handelt, dürfen wir an die Öffentlichkeit treten. Wir brauchen hieb- und stichfeste Beweise, die von niemandem widerlegt werden können. Die Gefahr ist zu gross, dass irgendetwas zu früh durchsickert und alles gefährdet.“

„Wir müssen aber davon ausgehen, dass wir überwacht werden. Nicht nur du, sondern mittlerweile auch ich. Wenn sie dich kennen, ist es nur ein Gedanke, der sie zu mir führt. Wir können keinen Schritt mehr machen ohne Gefahr zu laufen, dass wir observiert werden. Es ist nicht möglich auf diese Weise Nachforschungen zu betreiben.“

„Ja, da hast du Recht“, pflichtete Oberhofer nachdenklich bei. „Was unternehmen wir als Erstes?“

„Wir müssen herausfinden, wer dir die Kiste geschickt hat und wer gestern Nacht in dein Haus eingebrochen ist.“ Sie schaute ihren Vater an, der nickte. „Und um das herauszufinden, brauchen wir jemanden, dem wir vertrauen können und der uns hilft.“

„An wen hast du dabei gedacht?“

„Philipp Marthaler“, sagte sie entschlossen und schaute ihren Vater fragend an.

„Ist er nicht mit dir zur Schule gegangen?“ Nach einer kurzen Pause fragte er: „Ist er nicht bei der Polizei?“

„Nicht mehr, er hat seine eigene Privatdetektei eröffnet.“

„Du meinst, er wird uns helfen – und dass wir ihm vertrauen können?“

„Da bin ich mir ganz sicher, ja.“

„Gut, wenn du dir so sicher bist, dass wir ihm trauen können, dann bin ich einverstanden.“

„Ich werde ihn sofort anrufen.“ Jessica holte das Telefon aus dem Wohnzimmer.

Die Kiste Gottes

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