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1. Die Phänomenbereiche
Zahlreiche Straftaten und Fälle in den verschiedenen Phänomenbereichen politisch motivierter Kriminalität (PMK) in den letzten Monaten und Jahren haben sowohl den Sicherheitsbehörden und den politischen Entscheidungsträgern als auch den Medien und der Öffentlichkeit gezeigt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) durch alle unterschiedlichen Phänomenbereiche der PMK bedroht wird.
Die zahlreichen geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge innerhalb der letzten vier Jahre in Europa und Deutschland, darunter der homophob motivierte Anschlag auf zwei Touristen in Dresden am 4.10.2020, haben den Grad der Bedrohung verdeutlicht, die aktuell und zukünftig von Islamisten, Salafisten und islamistischen Terroristen für demokratische, westliche Staaten wie Deutschland ausgeht.
Die drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge innerhalb von acht Monaten – das Attentat auf Walter Lübcke im Juni 2019, der Anschlag in Halle im Oktober 2019 und der Anschlag in Hanau im Februar 2020 – sowie die zahlreichen Morde und Mordversuche des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verdeutlichen das Bedrohungsmaß, das aktuell und zukünftig von rechtsextremistischem Terrorismus für die Innere Sicherheit Deutschlands ausgeht.
Die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind in den Jahren als weiterer Akteur PMK in den Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden geraten, u.a. durch den Todesfall eines Polizisten bei einem Zugriff auf „Reichsbürger“.
Die linksextremistischen Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels Anfang Juli 2017 haben sowohl politische Entscheidungsträger als auch Sicherheitsbehörden und die Medien vor Erklärungsschwierigkeiten gestellt in Bezug auf die Qualität und Quantität dieser Gewaltexzesse, die von zahlreichen politischen und medialen Akteuren als „unerwartet“[1] und als „neue Dimension linksterroristischer und autonomer Gewalt“[2] bewertet wurden.
So unterschiedlich die Ideen und Ideologien der Akteure der politisch motivierten Kriminalität in Deutschland sind, wurde in den letzten Monaten den politischen Verantwortungsträgern, den Sicherheitsbehörden, den Medien und der Öffentlichkeit bewusst, dass ein eklatantes Analysevakuum in verschiedenen Bereichen der PMK in Deutschland besteht. So führte der Berliner Extremismusforscher Schroeder öffentlich-medial aus, dass der Linksextremismus in Deutschland „von Teilen der Gesellschaft seit langem verharmlost wurde“[3]. Ein weiterer Extremismusforscher, Pfahl-Traughber, erklärt vor dem Hintergrund der Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg, dass, während über rechtsextremistische Einstellungen in der Gesamtgesellschaft seit vielen Jahren kontinuierliche Meinungsfragen durchgeführt werden, die nicht nur Auskunft über das quantitative Ausmaß, sondern auch über die sozialen Hintergründe geben, es „komplett an Studien mit der Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz linksextremistischer Einstellungen und linksextremistischer Militanz“[4] mangele.
Diese Thesen muss man auch auf die Phänomenbereiche „Reichsbürger“, Rechtsextremismus sowie Islamismus und insbesondere auf die Radikalisierungsforschung dieser Phänomenbereiche übertragen. Auch nach über 19 Jahren nach den historischen Anschlägen des 11.9.2001 ist immer noch ein eklatantes Analysevakuum im Phänomenbereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch innerhalb der Sicherheitsbehörden, festzustellen. Spätestens die zahlreichen seit dem Jahr 2016 verübten und versuchten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union sollten bzw. müssen eine Zeitenwende der Betrachtung und Analyse des Phänomenbereiches islamistischer Terrorismus auslösen.
Was haben linksextremistische, rechtsextremistische, islamistische Straftäter und Straftäter der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ gemeinsam?
Was wiederum unterscheidet sie voneinander?
Eine effektive Analyse der unterschiedlichen Phänomenbereiche PMK muss von der Grundannahme ausgehen, dass dieser Phänomenbereich hoch komplex ist und notwendigerweise analysiert werden muss.
Folgende Analysebereiche stehen daher im Mittelpunkt der Untersuchung dieses Buches:
• | Radikalisierung: Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische (Islamismus) bzw. politische Ziele (Linksextremismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger“) zu erreichen? |
• | Akteursanalyse: Wer wird warum Extremist und/oder islamistischer, rechtsextremistischer, linksextremistischer Terrorist? |
• | Taktik und Mittel: Wie gehen Extremisten vor? Können (wiederkehrende) Muster identifiziert werden, aus denen dann Gegenmaßnahmen entwickelt werden können? |
Nicht erst die islamistischen Anschläge und Attentate der Jahre 2015 bis 2020 in europäischen Staaten wie Frankreich und Deutschland mit insgesamt 800 Toten und über 3.750 Verletzten, die drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge in den Jahren 2019 und 2020 sowie der Fall NSU und die Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg 2017 verdeutlichen die Bedeutung von Radikalisierungsforschung in den unterschiedlichen Phänomenbereichen politisch motivierter Gewalt. Die dominierende analytische Leitfrage dieses Buches lautet daher:
Warum und wie radikalisieren sich Menschen, die in demokratischen, freiheitlichen, sozialstaatlichen Gesellschaften aufgewachsen und/oder geboren sind, zu Extremisten und/oder Terroristen, die grundlegende Verfassungsprinzipien wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität und Minderheitenschutz ablehnen und ihre politische bzw. religiös-politische Ideologie zur Grundlage des Lebens aller Menschen machen wollen?