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Zwei

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Als Timo zwei Stunden später mit Carlos das Polizeipräsidium verließ, war er keinen Deut schlauer als vorher. Dafür umso gefrusteter. Denn in Sachen Spurenvermeidung erwies sich der Täter als Vollprofi. Außer dem Todeszeitpunkt gegen Mitternacht und dem Hinweis, dass es sich bei der Tatwaffe wohl um ein Skalpell gehandelt haben muss – ansonsten wären die feinen Schnitte kaum möglich gewesen – gab es keine weiteren Erkenntnisse.

Jetzt mussten sie weiter im Umfeld des Opfers herumschnüffeln. Das war der nächste logische Schritt. Zuerst in den vier Wänden von Tobias Mürle. Also informierte Timo dessen Mitbewohnerin, eine junge Frau namens Lisa Bröker, über ihren anstehenden Besuch.

Kurze Zeit später machten sich die Kommissare auf den dreißigminütigen Weg nach Oberschöneweide im südöstlichen Berliner Verwaltungsbezirk Treptow-Köpenick. Während der Bezirk als Ganzes mit seiner hohen Naturdichte, wie dem schicken Müggelsee in Köpenick, durchaus auch Touristen lockte, war Oberschöneweide – im Berliner Volksmund gern verschrien als Oberschweineöde – nicht ganz so attraktiv. Das lag nicht zuletzt an der bis vor einigen Jahren sehr aktiven Nazi- und NPD-Szene, die bis Anfang 2014 in der berüchtigten Kneipe Zum Henker und anderen Lokalitäten ihr Unwesen getrieben hatte.

Timo begleitete im gedrosselten Tempo die gelbe Tram 27, während er auf der Edisonstraße die Treskowbrücke überquerte, von der aus rechts unten die an der Spree gelegenen Rathenau-Hallen in das Blickfeld des Kommissars gerieten. Diese waren vor dem Zweiten Weltkrieg fest in der Hand der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, die Oberschöneweide in puncto Elektrotechnik zu einem weltweit bedeutenden Standort gemacht hatte. Im Krieg wurden Teile der Gebäude zerstört, danach wiederaufgebaut und zunächst von den Russen, dann vom DDR-Regime erneut in Betrieb genommen. In den 1990ern gelangten die Hallen über Umwege wieder in den Besitz der AEG. Mittlerweile nutzten viele private Investoren die Räumlichkeiten. Der wohl prominenteste Käufer unter ihnen war der US-amerikanische Rockmusiker und Künstler Bryan Adams, der sich ein Atelier mit Nähe zur Spree offensichtlich nicht durch den schlechten Ruf von Oberschöneweide madigmachen ließ.

Auch wenn Timo nicht gerade auf seichte Rockmusik stand, fand er das Tauschgeschäft – Bryan Adams gegen NPD – recht gelungen. Sein persönliches Highlight des gesamten Südostens Berlins war jedoch das nur wenige Kilometer in Richtung Köpenick entfernte Stadion An der Alten Försterei – der ganze Stolz eines jeden Union-Fans. Viel atmosphärischer als das im Verhältnis zur Berliner Einwohnerzahl stets überschaubar gefüllte Olympiastadion der Hertha.

„Hier musst du rechts abbiegen, Mann“, raunzte Carlos seinen Kollegen an, der gedankenverloren weiter geradeaus fuhr.

„Entspann dich mal. Die Nächste rechts rein geht genauso“, konterte Timo. Und er lag richtig. Kurz darauf erreichten sie ihren Zielort in der Plönzeile.

„Na dann mal schauen, ob wir hier weiterkommen. Ich hoffe, sie hat sein Zimmer so gelassen, wie es war, als er das Haus verlassen hat“, sagte Carlos und drückte auf den Klingelknopf unter dem Namensschild ­Bröker/Mürle.

Lisa Bröker wohnte im dritten Stock mit Blick auf den Innenhof einer Grundschule, der jetzt am späten Nachmittag wie leer gefegt war. Zwei Tischtennisplatten aus Stein mit Metallnetz, eine einsame Schaukel, die durch den Wind leicht hin und her wippte, und die vom Regen fast weggewaschenen Kreidezeichnungen am Boden vermittelten einen trostlosen Eindruck – verstärkt durch die dichten Wolken am trüben Himmel über Berlin.

Wie in einem postapokalyptischen Zombiestreifen, dachte Timo und lächelte bei dieser schrägen Assoziation unwillkürlich über sich selbst.

Die junge Studentin mit dem schmalen Gesicht und dem langen Pferdeschwanz betrachtete die beiden Polizisten argwöhnisch, als diese die Wohnung und insbesondere Tobias‘ Zimmer unter die Lupe nahmen. Außer ihrem leicht überprüfbaren Alibi für die Tatnacht – ein Konzertbesuch der Independentband Turnover im Berliner Club Musik & Frieden – konnte Lisa keinen verwertbaren Beitrag zur Aufklärung des Mordes an ihrem Mitbewohner leisten. Auch sie beschrieb, für die Kommissare anstrengend widerwillig, Tobias als unauffällig, vielleicht ein bisschen frustriert, aber keineswegs als einen potenziellen Kandidaten für das Opfer eines Racheaktes – oder was auch immer die postmortalen Spielchen mit dem Skalpell zu bedeuten hätten. Im Gegensatz zu dem, was die Berliner Polizei der Presse mitgeteilt hatte, hatten die Kommissare Lisa dieses pikante Detail in der vergeblichen Hoffnung verraten, sie könne damit etwas anfangen. Wie Tobias war sie Studentin der Soziologie, allerdings einige Semester darunter und ergo auch ein bisschen jünger.

„Was glauben Sie denn hier zu finden? Tobias’ Zimmer ist doch seine Privatsache, oder nicht?“, fragte Lisa mit bissigem Unterton.

„Na, das überlassen Sie mal schön uns, junge Dame“, erwiderte Timo, der sich aufgrund der Tonalität der Fragestellerin nicht die Mühe machen wollte, sich umzudrehen, während er mit dem Rücken zu ihr stehend die Schubladen des Opfers durchwühlte. Angesichts der überall in der Wohnung an die Wände gepinnten Flyer mit aussagekräftigen Statements wie Kein Mensch ist illegal und Polizeistaat – Nein danke! hatte der Hauptkommissar schon kurz nach Betreten der Studentenbude damit gerechnet, auf Gegenwehr zu stoßen. Erst wollte er sich zurückhalten. Jetzt, wo Timo mit seinem Kollegen in der kleinen Behausung eines ermordeten jungen Mannes stand, brauchte es nicht viel mehr und er hätte der Weltverbesserin den Marsch geblasen.

Als Lisa dem Kommissar fast den Gefallen getan hätte, ihm eine weitere Steilvorlage zu liefern, wurde sie von Carlos ausgebremst. „Das könnte uns weiterbringen“, sagte er interessiert und zog eine kleine Holzkiste ohne Deckel unter dem zerwühlten Bett des Studenten hervor.

„Weil …?“, fragte Timo und erhielt die Antwort prompt, als ihm sein Kollege den Inhalt der Kiste vor Augen führte. Sie enthielt einen Stapel leicht vergilbter Fotos und Briefe, von denen der oberste An das Arschloch Tobias Mürle adressiert war. Der Stempel verriet das Datum: 8. Juli 2016.

Behutsam stellte Carlos das Fundstück auf Tobias’ Bett, streifte sich Latexhandschuhe über und entnahm vorsichtig den Brief. Vorne und hinten kein Absender, wie zu erwarten. Aber das DIN-A4 große Blatt entschädigte die beiden Polizeibeamten für die fehlende Angabe des Verfassers. Carlos las laut vor, was in akkurater Handschrift auf dem Papier stand:

Für deine Taten der Vergangenheit wirst auch du erfahren großes Leid – glaube ja nicht, dass deine Sünd verjährt, denn meine Rache ist dein Tod, der dir in Kürze widerfährt.

„Volltreffer!“, rief Carlos aufgeregt.

„Und ob“, entgegnete Timo und wandte sich nun doch an Lisa, die wie angewurzelt im Türrahmen stand und ziemlich perplex dreinschaute. „Sagt Ihnen das irgendetwas?“

„Nein, gar nichts. Ich kann das kaum glauben. Davon hat Tobi kein Sterbenswörtchen erwähnt“, stammelte sie und war plötzlich so gar nicht mehr die selbstbewusste Revoluzzerin.

„Behalten Sie die Information vorerst für sich“, erwiderte Timo scharf, während Carlos den Brief in die Kiste zurücklegte. Ein weiterer Fall für das Labor. Gemeinsam sahen sie sich noch einmal gründlich im Zimmer um. Doch weder die umfangreiche CD- und DVD-Sammlung, die auf dem Schreibtisch übereinandergestapelten Uni-Lehrbücher, noch die ordentlich im Kleiderschrank platzierten Jeans, T-Shirts, Boxershorts und Socken konnten weitere Aufschlüsse bringen. Mussten sie auch nicht. Jetzt haben wir eine heiße Spur, dachte Timo, der sich bei der Verabschiedung von Lisa einen mahnenden Blick nicht verkneifen konnte.

„Du harter Bulle“, lachte Carlos im Treppenhaus auf dem Weg nach unten. Draußen nahm der Regen inzwischen richtig Fahrt auf, doch die Stimmung auf dem Rückweg zum Präsidium war gut. Wenn sie jetzt noch Fingerabdrücke auf dem Brief finden würden, wäre der Tag gerettet.

„Wir haben ein Match“, strahlte Timos Innendienst-Kollege Kommissar Heldt, der die Fingerabdrücke mit der Datenbank des Polizeicomputers abgeglichen hatte und nun aufgeregt in den Besprechungsraum hereinplatzte. Timo, Carlos und ihr Vorgesetzter Paul Matuschka erhoben sich zeitgleich von ihren Stühlen.

„Carolin Reiters, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft in Münster, also der Heimatstadt des Opfers“, präsentierte Heldt stolz seine Ergebnisse. „Sie ist uns bekannt, weil sie vor gut einem Jahr auf einer Party im Münsteraner Nachtclub Schwarzes Schaf einem männlichen Besucher die Nase gebrochen hat. Frau Reiters’ Anwalt plädierte auf Notwehr, aber das Gerichtsverfahren ergab, dass der junge Mann ihr lediglich einen Drink ausgeben wollte. Ihre Abweisung quittierte er mit einer Schimpftirade, wurde aber nicht gewalttätig. Sie hingegen hat voll zugeschlagen und ist seitdem vorbestraft.“

„Die Poetin mit der stählernen Faust“, frotzelte Carlos.

„Genau. Anscheinend mag da jemand keine Männer“, ergänzte Matuschka und griff zum Telefonhörer, um die Münsteraner Kripo-Kollegen zu kontaktieren. Er gab Carolin Reiters’ Adresse durch und erläuterte den aktuellen Stand der Ermittlungen. Mit der Gewissheit, dass noch heute Abend zwei Beamte der dringend Tatverdächtigen einen Besuch abstatten würden, beendete der Leiter der Berliner Mordkommission zufrieden das Telefonat.

„Klingt vielversprechend“, konstatierte Timo. „Allerdings passt die Affekt-Schlägerei nicht zu dem rituell inszenierten Mord.“

Matuschka runzelte die Stirn seines haarlosen Kopfes, der Timo stets an Telly Savalas alias Kojak erinnerte. „Jetzt sei mal optimistisch. Wann hatten wir schon mal so schnell ein handfestes Indiz? Und ein zügig aufgeklärtes Kapitalverbrechen wäre auch nicht schlecht für unsere Pressestelle.“

Es war bereits nach zwanzig Uhr, als Timo und Carlos beim Thailänder um die Ecke ihre leeren Mägen füllten. Timo entschied sich für die Reisnudelsuppe mit Huhn, sein Kollege wählte gebratene Ente mit Gemüse, Zitronengras und Mangosauce. Jetzt hieß es abwarten. Wenn die Kripo vor Ort die Tatverdächtige noch heute in ihrer Wohnung antreffen würde, könnte ein fehlendes Alibi ein kleiner Durchbruch im Mordfall Tobias Mürle sein.

Noch bevor Timo die überwürzte Suppe ausgelöffelt hatte, klingelte sein Mobiltelefon, das den Anrufer mit einem unverwechselbaren Foto als Kojak identifizierte. Timo nahm das Gespräch an und stellte sofort auf Lautsprecher, weil das Lokal beinahe leer war.

„Sie war zur Tatnacht in Berlin. Ha. Ich wusste es ja“, rief Matuschka erfreut in den Hörer. „Die Kollegen in Münster haben Carolin Reiters vor ihrer Wohnungstür abgefangen. Sie hat unverblümt zugegeben, heute Mittag erst von einem Wochenausflug aus der Hauptstadt zurückgekehrt zu sein. Sie hat sich auch ohne Umschweife als Verfasserin des Drohbriefes zu erkennen gegeben. Als die Beamten sie aber mit dem Mord konfrontiert haben, hat sie am ganzen Leib gezittert und sogar versucht zu fliehen. Jetzt ist sie auf dem Münsteraner Polizeipräsidium und wird ausgiebig verhört.“

„Klasse!“ Timo schluckte angestrengt ein Stück Hühnchen herunter, das er während Matuschkas Ausführungen vor lauter Spannung im Mund behalten hatte.

„Also bis Montag. Saubere Arbeit, Leute“, beendete ihr Chef das Telefonat. Carlos grinste zufrieden und gab die Abendplanung vor. „Das sind gute News. Lass uns erst mal aufessen und danach das verspätete Wochenende mit ein paar Bier einläuten.“ Timo nickte zustimmend und orderte direkt zwei Pils.

Aus dem einen Bier pro Mann wurden mindestens fünf. Sie machten es sich in dem asiatischen Restaurant gemütlich. Dann wollte Timo noch ein bisschen mit Stil saufen. Ihr Weg führte sie nicht zum ersten Mal, seit aus ihrem Kollegenstatus echte Freundschaft geworden war, in eine beliebte Gin Bar in Kreuzberg. Dort tranken sie exzessiv, bis Carlos gegen drei Uhr morgens sein Limit erreichte und nach einer kurzen, aber herzlichen Verabschiedung von Timo direkt vor der Bar in ein Taxi stieg. Auch der Hauptkommissar entschied sich gegen die U-Bahn und ließ sich dekadent auf dem Rücksitz eines elfenbeinfarbigen Mercedes nach Hause chauffieren.

Kurz vor vier zeigte Timos Armbanduhr, die er von Linda geschenkt bekommen hatte und die er trotz des ernüchternden Ausgangs der Beziehung gerne noch am linken Handgelenk trug. Der hochpromillige Kommissar zog Jacke und Schuhe aus und ließ sich auf sein Bett fallen. Als er die Augen schloss, drehte sich alles in seinem Kopf. Noch bevor ihm von der Bier-Gin-Mixtur in seinem Magen übel wurde, übernahm eine angenehme Müdigkeit die Kontrolle und schickte ihn in den wohlverdienten Schlaf.

Während sich die Aspirin in dem mit Leitungswasser aufgefüllten Union-Berlin-Bierglas sprudelnd auflöste, trug Timo schon seine Jogging-Klamotten und biss lustlos in das mit Gouda belegte Toastbrot. Sein Hunger war begrenzt, doch irgendetwas musste nach dem Besäufnis und vor dem Laufen in den Magen.

Timo schluckte den letzten Bissen herunter, trank das Glas in einem Zug leer und verließ in kurzer roter Trainingshose und schwarzer Kapuzenjacke seine Wohnung.

Die ersten Schritte auf dem am Sonntag wenig bevölkerten Bürgersteig der Pflügerstraße in Neukölln verursachten noch leichte Kopfschmerzen, doch nach gut zwei Kilometern hatte Timo den Alkohol fast ausgeschwitzt. Die Luft war angenehm klar und im Vergleich zum Vortag lugte ein bisschen die Sonne hervor. Gutes Laufwetter. Jetzt konnte er auch wieder seinen Denkapparat einschalten. Ihm ging die gestrige Verhaftung von Carolin Reiters durch den Kopf. War es diesmal wirklich so einfach? Eine fahrlässig mit Fingerabdrücken hinterlegte Todesdrohung und wenige Wochen später der Mord? Timo konnte die Ergebnisse des Verhörs kaum abwarten und nestelte sein Handy aus der rechten Reißverschlusstasche seines Oberteils. Kein verpasster Anruf. Keine SMS. Keine WhatsApp-Mitteilung. Gerade als er sein Telefon wieder einstecken wollte, klingelte es.

„Ich weiß, es ist Sonntag. Aber ich kenne deinen Ehrgeiz. Und dein langweiliges Privatleben“, eröffnete Timos Chef süffisant das Gespräch. So wie auch du am Wochenende nicht zur Ruhe kommst und dich nur allzu gerne vor deinen ehelichen Pflichten drückst, dachte Timo grinsend, sagte aber: „Stimmt. Also her mit dem Update. Was hat unsere Hauptverdächtige beziehungsweise bislang einzige Verdächtige gestern Abend noch zu Protokoll gegeben?“

„Dass sie lediglich weggerannt sei, weil sie Schiss bekommen habe. Aus Affekt. Der Brief stamme von ihr, aber nur um Tobi zu erschrecken. Sie wäre jedoch nicht so dämlich und brutal, ihn gleich auch noch umzubringen. Ein Alibi hat sie bislang nicht. Zur Tatzeit sei sie allein in Berlin unterwegs gewesen. Besonders interessant ist der Grund für ihren Hass auf Herrn Mürle.“

Matuschka machte eine wichtigtuerische Pause und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über das Kinn. Die Bewegung konnte Timo zwar nicht am Telefon, jedoch vor seinem geistigen Auge sehen. Er kannte diesen Akt der Spannungserzeugung von seinem Vorgesetzten nur zu gut und ließ ihn hilflos über sich ergehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr Matuschka fort. „Tobias scheint doch nicht der ach so freundliche Zeitgenosse zu sein, wie uns die Befragten bislang weismachen wollten. Zumindest gibt es einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit. Er war mit Carolin Reiters im selben Abiturjahrgang des Richard-Wagner-Gymnasiums in Münster und soll ihr auf der Abschlussfahrt in Madrid nach Zuführung von K.-o.-Tropfen unter den Rock gefasst haben. Dabei wäre sie aufgewacht und habe sich erfolgreich gewehrt. Das ist zumindest ihre Version. Zeugen gibt es keine, aber Frau Reiters besitzt noch die Untersuchungsergebnisse eines Arztes vor Ort, den sie am nächsten Tag aufgesucht hatte. Dort steht angeblich, dass man Schlafmittelsubstanzen in ihrem Blut gefunden habe. Die zuständigen Lehrer hätten den Vorfall einfach links liegen lassen und sie mit ihrer Not allein gelassen. Auch der Schuldirektor habe keine Anstalten gemacht, die Sache weiter zu verfolgen und sowohl den Test als auch die sexuelle Nötigung unter den Teppich gekehrt.“

„Wenn alles stimmt, ist das natürlich ungeheuerlich. Aber es macht sie ja nur noch verdächtiger“, warf Timo ein. Matuschka räusperte sich am anderen Ende der Leitung den Hals frei. „Herr Mürles mögliche Schuld von damals wird nicht mehr zu beweisen sein, aber Frau Reiters will alles offenlegen, um den Brief zu erklären. Jedoch nicht, um den Mord zu gestehen. Sie hat bislang sogar auf einen Anwalt verzichtet, obwohl sie die Nacht in Polizeigewahrsam verbringen musste.“

Timo behielt sein Lauftempo bei, konnte ein leichtes Hecheln aber nicht unterdrücken. „Wurde irgendetwas in ihrer Wohnung gefunden, was mit der Tat in Verbindung gebracht werden kann?“

„Nix. Kein Skalpell oder Ähnliches. Lediglich herkömmliche Küchenmesser, die nicht mit den Wunden am Opfer kompatibel sind. Alles Weitere morgen auf dem Kommissariat. Und sag Bescheid, wenn du mal wieder joggen gehst.“

„Na, jeden Mittwoch und Sonntag – das weißt du doch“, erinnerte Timo seinen Chef an die ihm bekannte Laufroutine. Aber Matuschka hatte schon aufgelegt. So kann man sich auch vor körperlicher Bewegung drücken, dachte Timo. Der Mann war keineswegs unsportlich. Doch die Büroarbeit der letzten Jahre sowie das tatsächlich gute Kantinenessen hatten dem Sechsundfünfzigjährigen einen mittelschweren Bauch verpasst. Vor Timos Augen tat sich nun das Tempelhofer Feld auf, das er in einer anspruchsvollen Geschwindigkeit einmal umrundete, um dann über den nördlich gelegenen Volkspark Hasenheide den Bogen zurück zu seiner Wohnung zu schlagen.

Rot ist die Rache

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