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Drei

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„Aber ich bin doch keine Mörderin“, schluchzte Carolin Reiters unter Tränen hervor und machte ihrem Anwalt mit einer abwinkenden Handbewegung klar, dass sie sein Taschentuch nicht benötigte.

Timo war nach Absprache mit seinem Chef am Montagmorgen persönlich im Polizeipräsidium von Münster aufgetaucht, um mit den Kollegen vor Ort Licht ins Dunkel der Morduntersuchung zu bringen. Doch so schleierhaft kam der Fall auf den ersten Blick gar nicht daher. Frau Reiters besaß ein Motiv, befand sich zur Tatzeit in Berlin und konnte kein Alibi beibringen. Mitarbeiter und Besucher der Jugendherberge, in der sie während der besagten Woche abgestiegen war, konnten sich nicht an die junge Frau erinnern. Das hatten Timo und Carlos bereits am Montag gecheckt.

„Noch mal. Sie sind auf eigene Faust durch Berlin gezogen, haben einige Bier getrunken und anschließend die Nacht im Cage Club bis circa drei Uhr morgens verbracht. Und dabei haben Sie mit niemandem Kontakt aufgenommen. Machen Sie das immer so? Ganz allein feiern?“, fragte Timo bewusst provozierend.

Auch ein Besuch bei den von der Tatverdächtigen angegebenen Kneipen und dem Cage Club hatte ins Leere geführt. Kein Zeuge, der sich an die Person auf dem Foto, das die Münsteraner Kripobeamten den Hauptstadt-Kollegen zugeschickt hatten, erinnern konnte.

„Normalerweise lerne ich ja auch schnell jemanden kennen. Aber diesmal wollte ich einfach nur tanzen. Hätte ich diesen Scheißbrief bloß nicht geschrieben. Die Aktion war halt ein Frustventil. Was glauben Sie, wie hart das alles für mich war und ist? Ich habe damals sogar die Schule wechseln müssen, um nicht mehr in Tobis Nähe zu sein. Ich bin auch zu keinem Klassentreffen gegangen. Obwohl doch er das Arschloch ist, nicht ich. Können Sie das nicht verstehen?“ Jetzt liefen wieder Tränen über Carolins Wangen.

Außer Timo, Carolin und ihrem Anwalt, den sie auf Anraten ihrer Eltern nun doch eingeschaltet hatte – anfangs dachte sie, ein Rechtsbeistand wirke verdächtig – saß noch Kriminalhauptkommissarin Ingrid Möllers im Vernehmungsraum. Diese brachte sich nun in das Verhör mit ein. „Voll und ganz, Frau Reiters. Wir können Ihr Leid verstehen, die Vorkommnisse auf Ihrer Stufenfahrt waren bestimmt enorm belastend für Sie. Leider ist der vermeintliche Täter von damals nun tot und Sie kommen nicht nur aus den genannten Gründen für dessen Ermordung infrage, sondern sind der Polizei bereits einmal wegen Ihrer Aggressionen aufgefallen. Sie sind vorbestraft wegen Körperverletzung, bedenken Sie das bitte.“

„Aber doch nur, weil …“, jetzt brach es aus Carolin vollends heraus und diesmal nahm sie das Angebot ihres Anwalts an und schnäuzte kräftig in das Taschentuch.

„An dem Punkt waren wir schon gestern“, meldete sich dieser zu Wort. „Müssen wir das alles wiederholen? Sie merken doch, wie ungern meine Mandantin daran zurückdenkt. Frau Reiters hat ihre Schuld eingesehen und die Sozialstunden vorbildlich abgeleistet. Sie engagiert sich immer noch ehrenamtlich in dem Verein für Schutz suchende Missbrauchsopfer.“

„Damit unser Kollege Scherder sich selbst ein Bild machen kann, ist es wichtig, die entscheidenden Punkte erneut zur Sprache zu bringen. Also lassen Sie seine Fragen bitte zu. Wenn Frau Reiters unschuldig ist, kann ihr das nur helfen.“

Carolin hatte sich wieder einigermaßen gefangen und sah Timo mit geröteten Augen forsch ins Gesicht. „Der Faustschlag damals war eine Panikreaktion. Ich habe mich mittlerweile unter Kontrolle. Und den Brief wollte ich eigentlich gar nicht abschicken. Ich habe ihn nur verfasst, um mir meinen Frust von der Seele zu schreiben. Der Trip nach Berlin sollte mir wieder mehr Sicherheit geben. Gerade in einer anderen Stadt. Gerade allein. Klar, hätte ich jemanden kennengelernt, wäre das cool gewesen. Aber darauf kam es nicht an. Das ist auch alles Teil meiner Therapie. Ich gehe nämlich seit dem Vorfall im Schwarzen Schaf regelmäßig zu einer Psychologin – und zwar aus freien Stücken. Das war keine Auflage des Gerichts.“

„Trotzdem spricht vieles gegen Sie.“ Timo blieb beharrlich. „Entlastend ist lediglich, dass es am Tatort keine Spuren gibt und wir die Tatwaffe nicht bei Ihnen finden konnten. Das beweist aber gar nichts. Sie hätten diese auch einfach in die Spree werfen können.“

„Warum haben dann Ihre Polizeitaucher nicht danach gesucht?“ Der Anwalt schaute Timo herausfordernd an, als habe er soeben das Kennedy-Attentat aufgeklärt.

„Ein Skalpell in der Spree wäre wie die Nadel im Heuhaufen. Nicht zuletzt wegen der starken Strömung. Wir werden alles tun, um weitere Beweise zu finden, die Ihre Mandantin entweder be- oder entlasten. Aber eins noch.“ Timo richtete seinen Blick wieder auf Carolin. „Meine Kollegen haben mir mitgeteilt, dass Sie Ihr Mobiltelefon während der Berlin-Reise nicht dabeihatten. So können wir es natürlich auch nicht nachträglich orten. Können Sie mir erklären, weshalb Sie Ihr Handy nicht mitgenommen haben?“

„Na, weil ich von allen Bekannten Abstand halten wollte, ohne ständige Verfügbarkeit bei Facebook und wo man sonst heute noch permanent online sein muss.“ Carolin strich ihre blonde Lockenpracht nach hinten und schaute aus ihren tiefblauen Augen erst den Anwalt, dann Timo flehend an.

„Nun gut. Wir werden sehen.“ Timo hatte vorerst genug gehört. Sein Besuch in Münster diente vor allem dem Zweck, die Verdächtige persönlich kennenzulernen. Nur so konnten Tat und potenzielle Täterin auch gefühlsmäßig in Einklang gebracht werden. In diesem Fall jedoch sah er in dem zarten Mädchen nicht gerade die eiskalte Killerin, nach der sie suchten. Aber das behielt er vorerst für sich. Mit der gegenseitigen Zusicherung, sich über Fortschritte in den Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, verabschiedete er sich von Kollegin Möllers, verließ das Polizeipräsidium am Friesenring und trat in die unerwartet sonnige Fahrradhauptstadt Deutschlands.

Timo war vorher noch nie in Münster gewesen. Dabei gehörte er nicht zu den Berlinern, die ihre Hauptstadt über alles stellten und nichts hören und sehen wollten vom Rest der Republik. Dennoch war die kleine Domstadt für ihn bislang ein weißes Blatt. Abgesehen vom SC Preußen Münster, dem hiesigen Fußballverein. Timo wusste um dessen Tradition als Gründungsmitglied der Bundesliga und hatte die Mannschaft sogar live erleben dürfen. Und zwar zu Zeiten der Regionalliga Nord im Mai der Saison 2004/05. Union gewann zu Hause denkbar knapp mit 1:0. Die Preußen aber hielten am Ende die Klasse, während Berlin sang- und klanglos in die Bedeutungslosigkeit abstieg. Bittere Zeiten für die Fans der Eisernen, bis sie mit ihrem Team 2009 als Tabellenerster der gerade neu eingeführten 3. Liga den Wiederaufstieg in die 2. Liga feiern durften.

Und dann war noch ein Kollege von ihm in Münster aufgewachsen. Der geriet angesichts der Schmuddeligkeit von Berlin immer wieder darüber ins Schwärmen, was für eine schön begrünte Studentenstadt Münster doch sei. Mit all seinen alten Gebäuden, der Geschichte des Westfälischen Friedens und der idyllischen Atmosphäre.

Dabei war es gerade das Dreckige, das Timo an Berlin liebte. Weniger im Winter als im Sommer, wenn Künstler, Kreative und clevere Jungunternehmer auf den Hund gekommene Locations in einladende Hinterhof-Ausstellungen oder Dachrestaurants verwandelten.

Da er noch ein paar Stunden hatte, bevor sein Zug nach Berlin fuhr, wollte Timo es sich bei strahlend blauem Himmel nicht nehmen lassen, die lebens­werteste Stadt der Welt einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Ein Titel, den Münster bei einem Wettbewerb im Jahr 2004 mit nach Hause genommen hatte, wie er von seinem Kollege wusste.

Timo stieg in seinen Wagen und programmierte das Navi auf das Parkhaus Theater in der Tibusstraße. Als er von dort aus wenige Minuten später zu Fuß den Prinzipalmarkt von Münster erreichte und die drei seltsamen Käfige am Turm der St. Lamberti Kirche beäugte, wurde er beinahe von einem rasanten Fahrradfahrer über den Haufen gefahren. Das Klischee der überbordenden Anzahl an Fahrrädern in Münster wäre schon mal bestätigt, dachte Timo, der sich durch den fluchend davonradelnden jungen Mann nicht die gute Laune verderben ließ. Vor dem Hauptkommissar erstreckte sich eine lange Kopfsteinpflasterstraße, eingeschlossen von gereihten Giebelhäusern unterschiedlicher Bauart. Links und rechts flankierten den historischen Straßenzug kleine Boutiquen für den großen Geldbeutel und traditionell westfälische Gaststätten. Bei angenehmen Spätsommertemperaturen spazierte Timo entspannt den Prinzipalmarkt entlang, bis er auf den Domplatz einbog, wo gerade der Wochenmarkt mit unzähligen Produkten aus der Region sowie Erbsensuppe und Waffeln die Besucher anlockte.

Dank eines üppigen Frühstücks verzichtete Timo auf das kulinarische Angebot und hielt sich an die Wegbeschreibung seines Handys zum Münsteraner Aasee, den er nach kurzer Internetrecherche als seinen heutigen place to be auserkoren hatte. Schnell noch ein Kiosk-Wegbier auf die Hand und schon saß er zwischen Familien und Studenten auf einer grünen Wiese mit Blick auf zahlreiche Tret- und Segelboote, die auf der ruhigen Wasseroberfläche ihre kleinen Bahnen zogen. Entschleunigend, dachte Timo und stellte die geleerte Radlerflasche neben sich ins Gras. Er breitete seine Jacke auf dem Boden aus und legte sich rücklings hin. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt und mit fest zusammengekniffenen Augen als Sonnenbrillenersatz nickte Timo nach einer kurzen Weile unerwartet ein.

Rot ist die Rache

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