Читать книгу Deutsch als Zweitsprache in der Schule - Stefan Jeuk - Страница 10
1.1 Begriffsbestimmung
ОглавлениеIm Gegensatz zu Deutschland und anderen (europäischen) Nationalstaaten ist Mehrsprachigkeit in den meisten Ländern der Welt der Normalfall (Crystal, 1995, S. 360). Dies gilt z. B. für die Länder, in denen neben der Sprache der ehemaligen Kolonialmächte, die häufig als Verständigungs- und Verwaltungssprache dient, verschiedene Regionalsprachen in unterschiedlichen Gewichtungen gebraucht werden. Historisch gesehen sind einsprachige (monolinguale) Staaten erst im Zeitalter des Nationalismus entstanden, und häufig ist die Einsprachigkeit mittels staatlicher Repressionen durchgesetzt worden. So gab es z. B. auf dem Staatsgebiet des heutigen Frankreichs bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Reihe von Sprachen: Katalanisch, Baskisch, Okzitanisch, Provenzalisch und Bretonisch, um nur die wichtigsten zu nennen. Eine Minderheit sprach Französisch. Um sich in diesem mehrsprachigen Land verständigen zu können, mussten die Menschen selbstverständlich verschiedene Sprachen beherrschen. Erst eine repressive Sprachenpolitik, die im 16. Jahrhundert begonnen hatte, sorgte dafür, dass sich Französisch nach und nach als einzige Nationalsprache durchsetzte (vgl. Klünemann & Arnauld-Kreutzer, 2008). Dieser Prozess führte zum Aussterben oder zumindest zur Abwertung von Sprachen, um deren Erhalt man sich heute wieder bemüht. Da die Entstehung von Staaten mit einer Sprache als Nationalsprache eng mit dem Nationalismus verknüpft ist, wird die Ansicht, dass es in einer Nation eine Sprache gäbe, die als Muttersprache und als Sprache der Bildung für alle Menschen gleichermaßen in standardisierter Form gelten müsse, als Linguizismus (lingua = lat. Sprache) bezeichnet (vgl. Gogolin, 1994).
Selbst in sprachlich relativ homogenen Staaten gibt es Sprachminderheiten, deren Mehrsprachigkeit dauerhaft ist, wie zum Beispiel in Sachsen und Brandenburg bei der sorbischen Sprachminderheit. Dort sind zwei oder mehr Sprachen über mehrere Generationen hinweg Familiensprachen. In Deutschland sind Dänisch, Sorbisch, Romani und Friesisch im Rahmen der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen besonders geschützt. Dieser Schutz gilt allerdings nicht für die Sprachen eingewanderter Sprachminderheiten. Innerhalb der Nationalstaaten kommt dem Begriff Muttersprache erhebliche Bedeutung zu. Damit wird die Sprache bezeichnet, die das Kind als erste erwirbt, die in der Regel die Sprache der Mutter bzw. der Eltern ist, die es am besten beherrscht und die es emotional bevorzugt (Skutnabb-Kangas, 1992, S. 43). Der Begriff Muttersprache wird in vielen Spracherwerbskontexten problematisch: Es kommt z. B. häufig vor, dass Kinder aufgrund von Migration in jungen Jahren weitere Sprachen lernen, wenn die erste gelernte Sprache nicht weiter gefördert wird, kann es zum Sprachverlust kommen. Dies ist z. B. bei manchen deutschen Auswanderern in die USA der Fall. Ein weiteres Beispiel sei genannt: In Marokko wachsen manche Kinder viersprachig auf: Französisch, marokkanisches Arabisch, regionale Berbersprache der Mutter, regionale Berbersprache des Vaters. Vermutlich gibt es dort wenige Menschen, die alle vier Sprachen vollständig und in allen Registern beherrschen. Vermutlich werden die Sprachen in verschiedenen Lebensbereichen, je nach Verwendung, unterschiedlich gut beherrscht. Es wird jedoch deutlich, dass es in diesem Fall kaum möglich ist zu bestimmen, welche Muttersprache ein Kind hat. Die Beispiele zeigen, dass die Frage, wie und mit welchen Zielen der Erwerb einer (zweiten) Sprache gefördert werden soll, nicht ohne Berücksichtigung des soziokulturellen Umfelds beantwortet werden kann. Aufgrund der vielfältigen Facetten des Begriffs »Muttersprache« wird in der Forschung dem Begriff »Erstsprache« der Vorzug gegeben, damit wird die Sprache benannt, die ein Kind als erstes erwirbt (Ahrenholz, 2017a, 3f).
Der Begriff »Muttersprache« schlägt sich auch in der durchaus üblichen Bezeichnung »Muttersprachlicher Unterricht« nieder, wenn vom Unterricht in der Mehrheitssprache die Rede ist. Dies ist unter anderem deshalb problematisch, weil die Sprache, um die es in der Schule geht, ein konzeptionell schriftliches Register ist und somit keineswegs mit dem eher mündlichen Sprachgebrauch der ›Muttersprache‹ in den Familien gleichzusetzen ist ( Kap. 3.1). Da außerdem eine Vielzahl von Schüler*innen keine »Muttersprachler« sind, schlägt Haueis (2007) den Terminus »Unterricht in der Landessprache« vor.
Wenn im Folgenden von Erstsprache (S1) und Zweitsprache (S2) die Rede ist, bezieht sich dies auf die Reihenfolge des Erwerbs. Eine Wertigkeit, insbesondere im Hinblick auf die mehr oder weniger gute Beherrschung einer Sprache, kommt damit nicht zum Ausdruck. Auf den Begriff Muttersprache wird so weit wie möglich verzichtet und dem Begriff Familiensprache der Vorzug gegeben. Damit ist die Sprache gemeint, die in der Regel in der Familie gesprochen wird. Mit diesem Begriff bleiben der Grad der Beherrschung und der emotionale Bezug offen, es wird lediglich die Kommunikationssituation gekennzeichnet. In vielen Familien gibt es mehrere Familiensprachen, da z. B. die Zweitsprache Deutsch mit der Dauer des Aufenthalts häufig auch in der Familie mehr und mehr gebraucht wird. Deutsch wird dann zu einer zweiten Familiensprache. Erwirbt ein Kind zwei Sprachen von Geburt an, z. B. in zweisprachigen Familien, so ist von früher Zweisprachigkeit oder vom simultanen Erwerb zweier Sprachen die Rede. Sukzessiver Bilingualismus bzw. sukzessiver Zweitspracherwerb steht für den Erwerb einer zweiten Sprache nach der ersten, etwa ab drei Jahren. Frühe Zweisprachigkeit ist in Familien zu beobachten, in denen die beiden Elternteile unterschiedliche Sprachen mit dem Kind sprechen. Da dies häufig in Akademikerfamilien dokumentiert ist, wird es auch als »Elitebilingualismus« (Tracy, 1996, S. 77) bezeichnet.