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Zeit für Wohngemeinschaften
ОглавлениеEine Woche vor Jahreswechsel war Jean-Francois, genannt Frankholz, zu Besuch gekommen. Ich ahnte bereits, dass er bleiben würde. Und so war es auch. Er war ein typischer Franzose, trug Cordhose und stets Hemd, manchmal ein Jackett, und er war wirklich nett und konnte gut kochen. Seine Brille und seine etwas gelockten wirren Haare machten aus ihm einen ausgeflippten Akademiker, der stets auf Durchreise und auf der Suche nach der Weltformel schien. Nun also waren wir eine Siebener-WG, und wenn wir alles teilen würden, wären wir eine Siebener-Kommune. Darüber mussten aber erst noch einige klärende Diskussionen geführt werden. Wir hatten Zeit und wir ließen uns zur Klärung Zeit.
Jeder hatte eine Arbeit und wir beschlossen, vorerst zu gleichen Teilen in eine Gemeinschaftskasse einzuzahlen. Der Betrag für die Miete war nach Zimmergröße gestaffelt. Die Gemeinschaftsräume wurden zu gleichen Teilen aufgeteilt. Blieben noch Strom, Telefon und Lebensmittel.
Die Zimmeraufteilung ging problemlos. Wir hatten ja bereits spontan bei Einzug entschieden, und jeder war zufrieden gewesen. Wenn nun jemand neu in die WG aufgenommen wurde, stand natürlich nicht jeder Raum zur Disposition sondern nur der frei gewordene. Tommis Freundin Rosi stellte dieses „Naturprinzip“, wie Rolf es einmal getauft hatte, in Frage. Tommi und ich hatten ihr Paroli geboten, aber jetzt – bei sieben Personen – sahen wir ein, dass wir neu aufteilen mussten, und es kam uns beiden gar nicht so ungelegen. Tommi und Rosi zogen gemeinsam in eines der großen Zimmer, Karin und ich in das andere.
So kamen wir alle problemlos in der Fünf-Zimmer-Wohnung unter. Als Gemeinschaftsraum mit Fernseher und sauteurer Blaupunkt-Stereoanlage diente uns der riesig große Flur, der mit unserer Gemeinschaftsküche eine räumliche Einheit bildete und gar nicht wie ein Flur wirkte.
Während wir heiß über Rolfs gescheiterte Beziehung, über Besitzansprüche, Egoismus, Neid und Eifersuchtsprobleme diskutierten, bereitete der oberbayrischen Stadt Laufen, der Quiny entstammte, eine Anti-Kriegsparole Kopfzerbrechen. Ein Unbekannter – oder war es gar ein heimliches und heimisches Revoluzzerweib? – hatte mittels gut haftender Farbe einen Kampfspruch aufs alte Stadttor gesprüht. Nachdem der Bürgermeister Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt und die Polizei ergebnislos nach dem Täter gefahndet hatte, beschäftigten sich jetzt auch die Stadträte mit dem Spruch auf der geschichtsträchtigen Pforte:
„Vietnam 150.000 Tote – Amis raus!“
In einem Antrag an den Rat hatte der evangelische Ortspfarrer Dr. Hohenberger, 47 Jahre alt, gefordert, die Parole nachträglich zu genehmigen und als improvisiertes Mahnmal „gegen einen der schmutzigsten Kriege der Menschheit“ zu erhalten. Pfarrer Hohenberger: „Ein solches Mahnmal fehlte leider bisher in Laufen. Jetzt haben wir eins. Noch dazu kostenlos!“ Davon jedoch wollten die ehrenwerten konservativen Stadtväter nichts wissen. Der Antrag wurde einstimmig abgeschmettert. Quiny hätte den Stadträten gewiss literweise Bier über die Seppelhosen gekippt … hätte, hätte, Fahrradkette.
*
„Hier werden Sie von Willy Brandt gefahren!“ Mit diesem Slogan an der Windschutzscheibe sollte auf Vorschlage eines stern-Reporters der Namensvetter des Bundeskanzlers, Taxifahrer Willy Brandt aus Bonn, für sein Unternehmen werben. Um die Wettbewerbsgleichheit nicht ins Schleudern zu bringen, verzichtete der Droschkenbesitzer jedoch auf diese Art von Public Relation. Nachher würde vielleicht der Kanzler mit der Parole „Hier regiert Sie ein Taxifahrer“ werben; wir Ex-Frankfurter lachten uns schepp, wie man in unserer Heimatstadt so schön sagte – aber wie konnten wir damals wissen, dass Jahre später tatsächlich ein Taxifahrer als Außenminister regierte?
Dass der im vergangenen Oktober neu gewählte Bundeskanzler Gas gab und die als „Zone“ verpönte DDR anerkennen wollte, machte uns Mut. Entspannungspolitik konnte die Kriegshetzer entwaffnen. Entwaffnend freundliche Ostpolitik konnte dem inneren wie äußeren Frieden nur nützlich sein. Für viele Erzkonservative war das aber zunächst verwunderlich. Doch große Teile der Bevölkerung waren des langen Wartens auf ein Zeichen der überfälligen Grenzöffnungen müde und wollten endlich eine realistische Politik.
Mein guter altsozialdemokratischer Vater Otto schrieb in einem Brief Anfang Januar: „Mein lieber Sohn, es wird Zeit, dass man verhandelt. Das finde ich gut an unserer neuen Regierung. Jedem Vernünftigen muss klar sein, dass man die Existenz eines zweiten deutschen Staates nicht wegwischen und übersehen kann …“
Ich hätte ja gerne gewusst, welcher Partei meine Eltern im September letzten Jahres bei der Bundestagswahl ihre Stimme gegeben hatten. Ob sie Willy Brandts SPD gewählt hatten? Als ich Vater gefragt hatte, berief er sich auf das Wahlgeheimnis: „Das nehme ich ernst!“
Mutter sagte, dass sie nach dem Wahlgang traditionsgemäß ins Wirtshaus gegangen seien. „Weißt du, was ich da gewählt habe? Rippchen mit Sauerkraut!“
Otto schrieb noch etwas zur neuen Ostpolitik, was ich gut fand: „Brandt macht eine Politik des Realismus. Das ist längst überfällig. Auch die Aussöhnung mit den Russen. Wir haben denen viel Leid zugefügt. Und der ostdeutsche Staat ist ein Produkt des Nazi-Krieges. Man muss das anerkennen, man muss den Tatsachen ins Auge sehen.“
Tja, den verdammten Tatsachen ins Auge sehen. Das fällt manchmal schwer. Insbesondere, wenn es um die Liebe geht. Irgendwann später rief Quiny an. Erst war Rolf am Apparat. Ein Gedöns machte der! „Blöde Schlampe! – Wortbrüchiges Luder! – Untreues Weib! – Bleib wo der Pfeffer wächst!“, brüllte er in den Hörer. Ich befürchtete, dass er unseren teuren neuen Telefonapparat auf den Boden pfeffern könnte und machte ihm ein Handzeichen, mich ran zu lassen und sich zu beruhigen.
„Mach mal auf Entspannungspolitik!“, rief ich ihm zu. Er zog eine Fratze, gab mir den Hörer und verzog sich in sein Zimmer, ließ aber die Tür einen Spalt offen.
„Kannst du Rolf bitten, dass er meine Sachen zusammenstellt, damit ich sie morgen abholen kann?“, fragte Quiny. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Weißt du, im Moment kann ich nicht vernünftig mit ihm reden.“
„Ich versuch‘ mein Bestes“, beruhigte ich sie. „Ich bin jedenfalls da. Vielleicht hat Rolf morgen eine Verabredung …“. Das sagte ich besonders laut in Richtung der angelehnten Tür. „Dann braucht ihr euch nämlich nicht zu begegnen und eure emotionalen Tretminen werden nicht scharf gemacht.“
Apropos Minen: Willy Brandt würde der DDR-Regierung Verhandlungen über eine Entschärfung der sogenannten Todesgrenze und über beidseitige Gewaltverzichts-Erklärungen vorschlagen, berichtete entrüstet ein CDU-INTERN-Pamphlet; das war so etwas wie eine stille Post für konservative Scharfmacher. Das wäre doch Verrat. Purer Verrat!
Wie konnte Gewaltverzicht Verrat bedeuten, fragte ich mich. Was ging in diesen schwarzen Hirnen alles schief? Waren da irgendwelche Minen im Oberstübchen explodiert?
Als Quiny kam, um ihre Sachen abzuholen, war Rolf tatsächlich unterwegs. Wolle wartete diskret unten in seinem VW-Bulli. Ich half Quiny beim Runtertragen und setzte mich noch eine Weile zu den beiden in den Bus, nachdem Wolle um die Ecke gefahren war, falls Rolf vorzeitig zurückkommen würde. Aus Wolles Transistorradio lief „Goodbye Ruby Tuesday“ von den Rolling Stones:
Es ist keine Zeit zu verlieren,/ hörte ich sie sagen./Erfülle deine Träume, bevor sie entschwinden./ Die ganze Zeit sterben./Deine Träume verlieren./Und du wirst den Verstand verlieren./Ist das Leben nicht lieblos?/Lebwohl, Ruby Tuesday,/wer könnte dir einen Namen geben,/ wenn du dich veränderst mit jedem neuen Tag?/ Ich vermisse dich immer noch.
Gerade in diesem Moment sahen wir Rolf weit vorn zum Hauseingang unserer WG schleichen. Man sah ihm an, dass er etwas vermisste, was ihn sichtlich bedrückte. Kurz vor ihm schlich in seiner etwas schäbigen Hochwasser-Hose ein anderer Schleicher, der unscheinbare Eigentümer der Clausewitzstraße 2, unser Vermieter, Herr Brat. Erst kurz vor Weihnachten hatte er mir im Zusammenhang mit dem Selbstmord meines früheren Grundschulkameraden Joschi, der wie er Mitglied der Jüdischen Gemeinde von Westberlin war, seine eigene Leidensgeschichte erzählt. Und dass sein millionenschweres Immobilien-Erbe all das nicht wettmachen könne, was sich nachts in seinen Albträumen abspiele.
Er schien sehr großes Vertrauen in mich zu setzen, weil er mir sein hartes, grobes Äußeres im Kern als Ausdruck seiner inneren Zerbrechlichkeit offenbarte. Ohne es bei ihm auszusprechen und ohne es jemals bei meinen Mitbewohnern anzusprechen, interpretierte ich es so: Ich hatte eine Art Nervenzusammenbruch dieses alten Mannes miterlebt. Seine harte Hand, seine dauernde juristische Peitsche gegen seine Mieter waren Ausdruck einer völligen Zerrissenheit und Projektion all seiner Ängste, vielleicht auch seines Eigenhasses.
Sein karges einsames Leben erhielt für ihn offenbar nur Sinn durch ein gnadenloses Regiment gegenüber den von ihm Abhängigen. Denn wann immer ich zu ihm kam, klagte er darüber, gegen wen und warum er schon wieder Klage einreichen müsse. Klagen bestimmten sein Leben. Später erinnerte es mich ein wenig an die Aggressionspolitik der verschiedenen israelischen Regierungen gegenüber den von ihr abhängigen Palästinensern. Es mochte ein schiefer Vergleich sein – aber so dachte ich eben.
Ich tippte Wolle auf die Schulter. „Wollt ihr wirklich nach Spanien abzwitschern und ein Hippieleben führen? Job aufgeben und so?“
„Wir waren eben im Reisebüro am Kudamm, Ecke Olivaer Platz, und haben uns erkundigt. Das wird toll, glaub mir. Aber wir brauchen kein Reisebüro, um unseren Traum zu verwirklichen. Wir brauchten nur den Prospekt. Wir reisen selbst“, sagte Wolle.
„Wie kamt ihr darauf?“
Quiny sah mich verschmitzt an. „Das war meine Idee. Weißt du, Kara, im November hatte ich mit Rolf einen Streit, der sich über eine Woche lang hinzog. Eines Tages ging ich bummeln, um etwas Abstand zu gewinnen. Da stand ich plötzlich vor dem Schaufenster dieses Reisebüros. Ein übergroßes Plakat sprang mir ins Auge. Es zeigte vor einer uralten steinernen Windmühle ein lebensgroßes blondes Hippiemädchen im Bikini mit einem durchsichtigen Wickelröckchen, Blumenkränzchen im Haar, bunte Arm- und Fußbänder und im Hintergrund das blaugrüne Mittelmeer. Da standen nur drei Worte: Komm nach Torremolinos!“
Sie war weiter gegangen und ahnte nicht, dass diese erste Begegnung mit Torremolinos das Besondere jenes düsteren November-Bummels war. Doch wieder bei Rolf und seinem Gezeter wegen irgendwelcher Nichtigkeiten angekommen, flüchtete sie sich in ihre Phantasie und sah sich im Sonnenlicht neben einer Windmühle in Spanien stehen. „Anfangs erweckte dieses Traumbild noch keine starke Sehnsucht in mir, lediglich ein paar Überlegungen: Wie sah es dort wohl genau aus? Wie groß war die Stadt? Wo lag sie genau und gab es da viele Hippies?“
Als Quiny in unserem Gemeinschaftsraum den Weltatlas aus dem Regal nahm, fand sie jedoch kein Torremolinos auf der Spanienkarte.
„Rolf wollte ich nicht fragen, denn ich hatte vor, mal ohne ihn für eine Weile wegzufahren. Das wusste er aber damals noch nicht. Torremolinos wird sehr klein sein, dachte ich! Nachdem mich der Gedanke an Spanien auch noch in der darauffolgenden Woche verfolgte, nahm ich mir vor, mich näher zu erkundigen.“
Am Montag nach dem dritten Advent hatte sie dann das Reisebüro betreten und ging auf die Mittdreißigerin hinter dem Beratungstresen zu. Sie war drahtig, brünett, ziemlich klein und schien keine Berlinerin zu sein, denn beim Sprechen stolperte sie eher über einen spitzen Stein.
„Das Plakat mit Torremolinos … also, das …, also ist das was?“
„Ich kann ihnen Spanien wärmstens empfehlen“, sagte die Brünette. „Ich war selbst schon dort. Torremolinos ist ein Paradies für jugendliche Paradiesvögel.“ Quiny hatte sich auch die vielen anderen Plakate hinter dem Tresen angeschaut, wo es hieß: Neckermann fliegt Sie ins sonnige Italien. Daneben lockte ein türkisfarbenes Plakat mit der Aufschrift: Griechenland – ein sonniger Traum geht in Erfüllung. In den Reisebüros Westberlins, das ein abgeschiedenes Inseldasein führte, war der unkomplizierte Flug in die Sonne die gängigste und beliebteste Ware, auch wenn das Fliegen noch teuer war. Berliner traf man überall, wo auch immer man Urlaub machte.
„Sagt mir rechtzeitig, wann ihr losfahrt. Lasst uns Kontakt halten; vielleicht besuchen Karin und ich euch in Torremolinos.“
„Klaro“, sagte Wolle.
Quiny drückte mich. „Ich halte dich auf dem Laufenden. Nur sag bitte Rolf nichts von unseren Plänen. Man muss ihm ja nicht unnötig Schmerz zufügen.“
*
Zu all den neunmalklugen Neuparteien gesellte sich Ende Januar eine superneue Partei mit dem Kürzel DSP, das war die Deutsche Sex-Partei. Sie konstituierte sich sinniger Weise in der Hamburger Gaststätte Justizhof. Deutschlands meistpropagierter Industriezweig sollte endlich seine parlamentarische Lobby bekommen. Ihr Ziel war es, „die geschäftsmäßigen Interessen derjenigen Leute zu vertreten, die sich für die Lust einsetzen.“ Mit dem für Vereins-, Partei- und ähnlichen Gründungen nötigen Bierernst lieferte der sechsunddreißigjährige Parteiboss Joachim Driessen einen historischen Abriss jener Bewegung, als deren vorläufigen Höhepunkt die DSP sich gern begriff.
„Ich sag nur: Trau keinem über Dreißig!“, rief Karin in die abendliche Essensrunde.
Unter dem Parteisymbol – einem goldenen Tropfen auf schwarz-rotem Grund – lieferte der Polit-Neuling mit dem Erscheinungsbild eines arbeitslosen Pastors ein Parteiprogramm der Öffnung nach rechts und links: Mehr Porno-Importe aus Skandinavien, Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Vatikanstaat und Schaffung einer „befriedigten Gesellschaft“.
Richy war mit Kochen dran, und so gab es heute Abend eines seiner Standardgerichte, wahrscheinlich weil es so einfach und billig war: Bauchfleisch mit Sauerkraut und Salzkartoffeln. Nebenbei musste ich von meinem ersten journalistischen Honorar-Auftrag für die politische Kulturzeitschrift „konkret“ berichten, den ich Mitte Oktober des Vorjahres vom Chefredakteur Klaus Rainer Röhl erhalten hatte. Das hatte wohl auch etwas mit Bauchfleisch zu tun. Ich sollte nämlich von der ersten in Europa stattfindenden Pornomesse berichten.
Damals im Oktober hatte ich nach zahlreichen telefonischen Vorkontakten die Redaktion in der Hamburger Gerhofstraße 40 besucht. Ich war dort schon einmal im Februar bei Ulrike Meinhof, der Chefkolumnistin, vorstellig geworden, erfolglos. Jetzt hoffte ich auf einen Durchbruch. Röhl war für mich, den antiautoritären Revoluzzer, eine unbestreitbare journalistische Autorität. Aber als ich ihn so in seinem Büro sitzen sah, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem großen Eichen-Schreibtisch, freundlich lächelnd, in der Rechten eine dicke Zigarre à la Che, da atmete ich erleichtert auf. Er ist zwar eine absolute Respektperson, aber er ist auch locker drauf, dachte ich. Hier konnte ich wohl offen sein und angstfrei meine Bewerbung als zukünftiger Journalist loswerden.
„Na, junger Mann, dann schießen Sie mal los. Was haben Sie denn bisher so gemacht außer Schule?“
Er schien nichts von meinem damaligen Besuch bei Ulrike Meinhof mitbekommen zu haben und so wollte ich nichts verkomplizieren und sparte es aus.
Was ich bisher gemacht hatte außer Schule? Ich berichtete ihm natürlich dennoch als erstes von meinen damaligen Schulaktivitäten als Chefredakteur zweier Schülerzeitungen, erst in der Realschule und nach mittlerer Reife und dem Wechsel ins Gymnasium als Mitarbeiter der Oberstufenzeitung.
„Und wie ging es nach dem Abitur weiter?“
Ich weiß nicht, ob Röhl bemerkte, wie mir das Blut aus dem Kopf wich, aber mit dieser Fragestellung, in der das Abitur versteckt war, hatte ich dummerweise überhaupt nicht gerechnet.
Sollte meine journalistische Karriere so jämmerlich am Anfang scheitern? Nur weil ich drei Monate vor dem Abi aus politischen Gründen (Kein Mensch muss zertifiziert werden!) hingeschmissen hatte? Nur weil ich im Solidaritätsverband zur Unterstützung des vietnamesischen Freiheitskampfes praktische Solidarität und nicht nur hohle Abitur-Worte zu meiner politischen Daseinsdevise gemacht hatte? Ich ging auf die Sache mit dem Abi nicht ein, berichtete aber ausgiebig über all die Solidaritätsaktionen für Vietnam und legte ihm meine mitgebrachten Schülerzeitungs-Artikel vor. Das war zwar ein Ausweichmanöver und nicht gelogen, aber auch nicht ganz aufrichtig.
„Wenn Sie finanziell durch Ihre Arbeit beim Solidaritätsverband abgesichert sind, dann können wir es ja mit einem ersten Honorarauftrag versuchen. Ob es später mehr wird, werden wir sehen. Trauen Sie sich zu, über die erste Pornomesse in Kopenhagen zu berichten. Wir zahlen Ihnen die Reisekosten und wenn der Artikel gelungen ist, dann landet eine Pauschale von 350 Mark auf Ihrem Konto.“
Ich schaute in die lachende Runde meiner WG-Mitbewohner. „Was lacht ihr da so hämisch?“, wollte ich wissen. Natürlich wusste ich, weshalb sie lachten. Statt knallharter solider politisch-kultureller Berichterstattung sollte ich von einem Nebenfeld der gesellschaftlichen Umwälzung berichten. Das war wahrlich kein heldenhafter Erstauftrag. Aber war das überhaupt ein Nebenfeld? Das war gegenwärtig doch schon sehr prägend.
„Ich habe das angenommen, weil es immerhin ein Einstieg war“, sagte ich. „Und außerdem gehört das Thema in einen Zusammenhang mit der sexuellen Revolution, die Bestandteil unseres Befreiungskampfes im eigenen Land ist.“
„Schon gut“, sagte Tommi und lächelte ein klein wenig zu mild und viel zu süffisant. „Brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Kam denn was dabei heraus?“
„Ja. Ein halbseitiger Artikel mit Foto einer Pornodarstellerin, die Reisekosten und die Knete.“
Karin meinte mich in Schutz nehmen zu müssen und sagte: „Es ist ja echt unter aller Sau, dass man heutzutage in unserem immer noch sexuell verklemmten Land offiziell keine Pornohefte erwerben darf. Wer Bedarf an solchen Dingen hat, kann sich das nur illegal als Schubladenware besorgen. Das ist doch einer mündigen Gesellschaft unwürdig. Und ist man schließlich irgendwie an ein Heftchen gekommen, dann hält man womöglich ein Pornoheft in der Hand, das mit einem Tiefkühlfleisch-Transporter aus Dänemark eingeschmuggelt wurde.“
„Genau das habe ich in meinem Artikel auch beschrieben. Das war eine beliebte Schmuggelmethode. In Dänemark waren Pornos nämlich schon seit 1967 frei erhältlich, auch für Jugendliche ab sechzehn Jahren. Und die Kopenhagener Messe war halt Ausdruck dieser sexuellen Freizügigkeit.“
Rolf ging in seine Bude und legte den neuesten Hit „Down On The Corner“ von Creedence Clearwater Revivival auf, und wir klopften unterm Abendbrottisch mit den Füßen im Takt:
„Früh am Abend/ Gerade um die Essenszeit/ Drüben beim Gerichtsgebäude/ Fangen sie schon an aufzubauen/ Vier Kinder an der Ecke/ Versuchen, dich aufzuheitern/ Willy sucht 'ne Melodie raus und spielt sie auf der Harfe/ Unten an der Ecke/ Draußen auf der Straße/ Spielen Willy and the poorboys/ Spende fünf Cent und klopf mit den Füßen im Takt.
Ein paar Tage später gab mir Rolf einen ausgeschnittenen Artikel von Springers Berliner Morgenpost zu lesen. Da stand etwas zur Neugründung der Deutschen Sex-Partei: „Nationalen und anderen Rechts-Gläubigen biederten sich die Sexualdemokraten mit dem Rückgriff auf ein gängiges Wahlkampfthema an: »Wir wollen keine Langmähnigen als Mitglieder, unsere Leute sind Typen in guten Anzügen«. Innenpolitisch hielt sich die Gründungsversammlung an bewährte Vorbilder; die Journalistenfrage: »Was sagt Ihre Partei zur Wiedervereinigung?« blieb unbeantwortet.“
Im Gegensatz zu den anderen parlamentarischen Parteien legte der DSP-Parteigründer die Zusammenhänge von Politik und Geschäft recht offen dar. Im Nebenberuf Herausgeber und Redakteur des Lust-Blättchens St.-Pauli-Zeitung, ließ Driessen die Parteiversammlung recht bald zu einer PR-Veranstaltung für sein erotisierendes Periodikum geraten. Den Fotografen der konkurrierenden St-Pauli-Nachrichten warf er hinaus, noch bevor er tiefsinnige Reflexionen über den Sinngehalt seines selbst entworfenen Parteisymbols absonderte: „Der Betrachter mag darin ein Fruchtbarkeitssymbol sehen oder eine Träne als Zeichen der Trauer über unsere lustfeindliche Umwelt. Sache der Sex-Partei wird es sein, eine Freudenträne daraus zu machen!“
In unserem Gemeinschaftsbad hatte sich Rosi mit ihren Make-up-Utensilien ganz gut ausgebreitet. Jetzt fiel mir auf unserem Schmökertisch neben dem Stapel unserer Kloliteratur, den Micky-Maus-Heften, dem stern, der Satirezeitschrift Pardon, der konkret und dem bürgerlich-kritischen Spiegel, eine ausgeschnittene Anzeige ins Auge.
„Jeder kennt dieses Problem: Besonders bei körperlicher und nervlicher Anspannung entstehen in intimen Körperbereichen Sekrete, die das Gefühl der Frische beeinträchtigen.“
Mann oh Mann, war das vornehm ausgedrückt. Andere würden sagen, man schwitzt und stinkt!
Und worin lag nun die Lösung dieses schier kopfzerbrechenden Problems?
Na klar, diese „natürliche, aber lästige Begleiterscheinung beseitigt Camelia-Spray nachhaltig und auf angenehme Weise. Mit Camelia-Spray fühlen Sie sich frisch und unbekümmert – jeden Tag …“
Und wer war wieder mal auf so’ne Werbung reingefallen, statt sich zu waschen? Unsere Rosi. Sie hatte gleich sieben Spraydosen gekauft, für jeden von uns eine, und alles aus unserer Gemeinschaftskasse. Richy war der erste, der es monierte, dann beschwerten sich auch noch Rolf, Frankholz und ich – nur unsere zwei hübschen Vorzeigefrauen hielten zusammen und lobten das Spray in höchstkapitalistischen Werbetönen. Tommi hielt sich diplomatisch zurück, als Rosi das Wort ergriff: „Gerade euch Typen tut das Spray gut, ihr schwitzt viel mehr als wir und ihr riecht dann ziemlich schnell ziemlich streng.“ Rosi sah uns mitleidig an.
Karin, eingepfercht in einen extra für sie angefertigten Mao-Anzug, nickte zustimmend, als hätte auch der Große Vorsitzende uns das Spray in der Vierten Direktive des Fünften Parteitags zum Dreißigsten Jubiläum der glorreichen Volksbefreiungsarmee empfohlen. Na ja, was hatten die Studenten noch vor wenigen Monaten auf Westberlins Straßen außer Ho-Ho-Ho-Chi-Minh gerufen? Genau das: Kapitalismus führt zum Faschismus – Kapitalismus muss weg! Und jetzt dieses Camelia-Spray!
Was dringend einer Lösung bedurfte, war der Zigarettengestank in der WG. Rolf, der werktags im Steuerbüro eines Herrn Elmar Tanner arbeitete, rauchte Gauloises; auch sein Chef, ein offensichtlich wichtiger CDU-Mann, war Gauloises-Raucher – und dass ihm einige Jahre später im Zuge eines Westberliner CDU- und Regierungsskandals der Kopf rauchen und er in monatelanger Untersuchungshaft sitzen würde, ahnten wir damals natürlich nicht. Aber suspekt war mir schon, was Rolf hin und wieder von seinem Chef, vom Steuerbüro und allerlei merkwürdigen Besuchen berichtete.
Tommi und Rosi waren typische Gelegenheitsraucher und rauchten dann das, was ihnen eben in die Finger kam; Frankholz, der Originalfranzose, rauchte Pfeife mit dem gallischen Gauloises-Tabak, „weil das Tabak ist so schön stark, weißt du, weil gute Sorte und schmeckt so schön intensiv, weil durch das Maispapier. Ist nämlich Tabak in Maispapier gedreht, weißt du.“
An jeder Ecke hingen Zigaretten- und Kaugummiautomaten. Und rund um den Kudamm gab es eine Menge Tabakgeschäfte, in denen Jean-Francois seinen Stopftabak kaufte. Wie er mir einmal erklärte, hatte die Maispapiervariante die Eigenschaft, dass die Gauloises ausging, wenn nicht regelmäßig an ihr gezogen wurde. Sie kam damit der lange Zeit in Frankreich üblichen Angewohnheit, die Zigarette einfach im Mundwinkel hängen zu lassen, entgegen. Sie prägte den Typ vom Bilderbuchfranzosen mit der Zigarette im Mundwinkel. Aber in diesem Punkt scherte sich Frankholz nicht ums Stereotyp. Er rauchte Pfeife.
Die Nichtraucherfront bestand aus Karin, Richy und mir. Wir schrieben einen großen Zettel und hängten ihn an die Pinnwand neben die Einkaufsliste: „§ 1 Ich nehme Rücksicht auf die Nichtraucher. § 2 Nach jeder Zigarette und nach jedem Pfeifchen lüfte ich kräftig den Raum, in dem geraucht wurde. § 3 Mehr ist nicht zu tun. § 4 Daaaanke !!!
Roland rief an und fragte, wie es mit den Sammlungen stehe. Meine angeheuerten studentischen Helfer, Andy, Britta und Ingo, hatten gute Arbeit geleistet und bis zur zweiten Januarwoche die Türen und Hauseingänge samt Hinterhöfen in halb Charlottenburg mit unseren Info-Zetteln zugeklebt. Am Donnerstag, dem ersten Einsammeltag, merkten wir, dass die Kleidersammlung in Westberlin wesentlich ergiebiger war als im Rhein-Main-Gebiet, und so konnte ich unserem großen kleinen Vereinsvorsitzenden, er maß zirka 160 Zentimeter, eine enorme Einnahme prognostizieren. Wenn das so weiterging, hatten wir bereits im Januar rund 45.000 DM an Spendengelder zusammen, wenn man die LKW- und Personalkosten abzog.
Wir fuhren jetzt mit zwei Großlastwagen, Richy und Beppo jeweils am Steuer, und als Einsammelhelfer die drei studentischen „Heinzelmännchen“ wie der ASTA als Jobvermittler seine studentischen Hilfskräfte bezeichnete. Sie waren natürlich sozialversichert und wir bezahlten sehr gut: das Doppelte, was sie als Babysitter, Aushilfsgärtner oder in einer Putzkolonne verdient hätten.
Die größere Tour fuhren Richy mit Andy und Britta, aus denen schon bald ein Pärchen wurde. Sie wollten, wie sie mir sagten, mit ihren hier verdienten Penunzen in den Semesterferien über Spanien bis nach Marokko trampen. Dort sei es preiswert und es gäbe tolle Hippietreffs und gutes Kraut. Unterwegs würden sie in Torremolinos Halt machen. Ich musste gleich an Wolle und Quiny denken. Von ihr hatte ich gehört, dass sie sich bereits im Kinderladen, wo sie als Kindergärtnerin arbeitete, ab April für sechs Monate hatte beurlauben lassen. „Kein Aprilscherz, Kara, aber am 1. April geht’s ab Richtung Torremolinos!“ Ich freute mich für Quiny.
Die kleinere Einsammel-Tour fuhren Beppo und Ingo, zwei Pragmatiker, die ihren Verdienst lieber hier vor Ort in Autos und Frauen investierten.
Tommi, unser angehender Postbeamter und Telefonspezialist, liebte Telefonstreiche. Manchmal war ich unfreiwilliger Mithörer. Manchmal Mitmacher, wie heute. Ich schlug eine x-beliebige Seite im Telefonbuch auf und fuhr blind mit dem Finger über die Namen und Nummern bis Tommi „Stopp!“ rief.
Dann wählte er. „Hier ist die Störstelle der Deutschen Bundespost. Ihr Telefon hat eine Störung. Können Sie mich verstehen? Nein? Ich kann Sie nur mit Unterbrechungen verstehen. Würden Sie bitte meinen Anweisungen folgen!“
„Wer ist da?“, fragte eine arglose Frauenstimme.
„Die Post. Die Entstörungsstelle. Ihr Telefon muss dringend gereinigt werden. Bitte holen Sie zuerst ein Staubtuch. Haben Sie das zur Hand?“
„Ja, einen Moment“, sagte die Frau am anderen Ende und man hört sie rumkruscheln. „Ich hab’s.“
Tommi zwinkerte mir zu und sagte: „Dann drehen Sie bitte die Sprechmuschel auf und reinigen Sie den Tonkopf vorsichtig mit dem trockenen Tuch.“
Zum Schluss bedankte sich Tommi höflich, legte auf und wir lachten uns kaputt. Da waren wir Kindsköpfe zwanzig Jahre alt.