Читать книгу Wilde Zeiten - 1970 etc. - Stefan Koenig - Страница 8
Torremolinos & Verschwörung à la Dregger
ОглавлениеAlles über Torremolinos wusste Quiny von Gerd. Mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, ohne Winter-Kleidung und Mütze, mit wenig Geld, aber großen Hoffnungen hatte er im März vor zwei Jahren auf der Straße in Torremolinos gestanden, um sich nach einer Bleibe umzuschauen. Was ihm an diesem kalten Frühlingstag auffiel, waren die vielen schönen Mädchen, die hier versammelt waren.
Blonde Schwedinnen aus Malmö und Stockholm, schlanke und auch ein wenig pummelige Studentinnen aus England, hübsche Deutsche auf Winterferien aus seiner Heimatstadt Westberlin, attraktive Mädels aus der französischen Provinz oder von der Sorbonne, zartgebaute Däninnen und etwas robustere Belgierinnen. „Ein Weiberparadies“, dachte er – und dass genau so die Existenzbasis für ein freies Liebesleben aussehen musste, mit viel freier Auswahl.
Aber nicht ganz so sollte es kommen. Gegenüber dem Zeitungsstand entdeckte er eine Bar mit einer großen Terrasse, wo dicht an dicht junge Leute in der Frühjahrssonne vor einem Glas Rotwein oder Bier saßen und das Treiben rundum beobachteten. Etwas unsicher zwängte sich Gerd hindurch und setzte sich auf einen freien Stuhl. Kaum saß er, ließ sich ein Junge in seinem Alter neben ihm nieder und sprach ihn mit französischem Akzent an: „Du biste aus Deutschlande und neu hier, stimmt’s?“
„Und du bist aus Frankreich und schon länger hier, stimmt’s“, lautete Gerds Gegenfrage.
„Stimmte“; er ließ das e nachklingen. „Ist aber nicht wichtig“, sagte der junge Franzose. Er war etwa neunzehn, trug eine recht konservativ erscheinende Brille und machte einen liebenswürdigen Eindruck. Anscheinend ging es ihm nicht schlecht, denn er fragte, ob er ihm etwas zu trinken bestellen dürfe, weil es ja sein erster Tag hier sei. „Ich gebe dir einen Drinke aus. Nächstes Mal darfst du für mich bezahlen.“
„Du sprichst gut Deutsch“, sagte Gerd.
„Auch Englisch, Polnisch und ein wenig Schwedisch. Ich heiße Jean-Francois, in Frankfurt nennen sie mich Frankholz, warum auch immer!“ Er lachte.
Damals wussten beide noch nicht, dass sie sich zwei Jahre später, 1970, in unserer WG in der Clausewitzstraße 2, wiedersehen würden.
*
Der Brief meines Vaters erreichte mich gegen Ende März. Er erzählte von seinen sportlichen Erfolgen im Geräteturnen, obwohl seine Stärken in der Leichtathletik lagen. Wohl deshalb war er besonders stolz darauf, wenn er bei Wettkämpfen für seine Turngemeinde Bornheim auch im Barren-, Reck- und Bodenturnen einen zweiten oder dritten Platz belegte. Im Sommer, bei den Feldberg- und Rhön-Wettkämpfen, wäre er mit einem zweiten oder dritten Platz niemals zufrieden gewesen. Er war, wie ich es damals als Schüler empfunden hatte, viel zu ehrgeizig. Hatte er nicht den ersten Platz errungen, dann herrschte zuhause dicke Luft. Er empfand schon den zweiten Platz als Niederlage. Damit konnte er nicht umgehen.
Vielleicht lag es genau daran, dass ich nun mit meinen zwanzig Jahren keinerlei Bedürfnis verspürte, mich in Vereinen und Verbänden zu profilieren. Mir reichte der Solidaritätsverband für Vietnam, in dem es lediglich um den Spendenerfolg für das gebeutelte vietnamesische Volk ging. Es gab keine Verbands-Mauscheleien, keine Intrigen und es gab keinen Platz für Konkurrenzgehabe oder eine irgendwie geartete Profilierungssucht. Wir verdienten alle das Gleiche und waren uns einig, dass wir unser junges Leben der weltweiten Befreiungsbewegung widmen wollten.
Otto berichtete noch von seinen beruflichen Bauvorhaben beim hessischen Staatsbauamt, wo er für Großprojekte im Rhein-Main-Gebiet, die in die Landeszuständigkeit fielen, zuständig war: Aufbau und Ausbau von Arbeitsämtern, Krankenhäusern und ähnlichen Objekten. Er hatte seinem Brief noch eine Liste beigelegt, die er mit folgenden Zeilen bedachte: „Hier siehst du mal, wie kleinlich-genau unser Staat auf seine Ausgaben achtet. Lach‘ dich aber bitte nicht schlapp; das ist alles wortwörtlich so aufgelistet.“
Die „Liste der vorzusehenden Aufwendungen für besonders familiäre und dienstliche Anlässe bei Bediensteten des Staatsbauamtes Frankfurt am Main“ sah zum 50. Geburtstag eine Glückwunschkarte und Blumen im Wert von 10,-- DM vor. Gleiches zum 60. Geburtstag. Zum 65. Geburtstag mit gleichzeitiger Erreichung der Altersgrenze spendierte Väterchen Staat seinen treuen Mitarbeitern neben der obligatorischen Glückwunschkarte ein Geschenk im Wert von 50,-- Mark. Für einen Krankenbesuch bei einem Bediensteten nach einer Krankheitsdauer von über drei Wochen durften für Blumen 5,-- DM ausgegeben werden. Die Hochzeit war dem hoheitlichen Arbeitgeber 40,-- Mark wert und die Silberne Hochzeit ganze 30,-- Deutsche Mark.
Dagegen gab es zur Geburt eines Kindes – extra in der Liste aufgeführt – satte 0,00 Mark. Das 25-jährige Dienstjubiläum wurde ebenso wie das 40-jährige mit 10,-- DM geehrt. Für den Tod des Bediensteten wie auch für den seines Ehegatten stellte Vater Staat einen Kranz im Wert von 30,-- Mark zur Verfügung. Das durchschnittliche Einkommen der Westdeutschen lag damals bei 1.112,00 DM.
„Liebe Eltern,
vielen Dank für Papas Brief und Mamas Anruf. Die Liste mit den Geschenkausgaben fand ich sehr interessant, ja aufschlussreich. Kinderkriegen ist wegen der Babyboom-Jahrgänge wohl nicht erwünscht, deshalb gibt es da weder eine Gratulationskarte noch eine kleine Aufmerksamkeit. Väterchen Staat kalkuliert knallhart. Immerhin wird der Tod des langjährigen Mitarbeiters mit einem 30-Mark-Kranz gewürdigt. Vergelt’s Gott.
Ich werde mich demnächst um ein Redaktions- beziehungsweise für ein Lektorats-Volontariat bewerben. Näheres später. Derzeit schreibe ich gelegentlich für »PARDON« und »Die Tat«. Für die »konkret« habe ich einen Artikel geschrieben, der am 11.3. erschienen ist. Ich lege euch die herausgetrennten Seiten zum Lesen hier ins Kuvert; hebt sie mir bitte auf. Demnächst schreibe ich vielleicht sogar für die »Frankfurter Rundschau«, Kontakt habe ich bereits. Ich kann über Ostern hier nicht weg, aber Karin kommt euch besuchen.
Ganz liebe Grüße, seid geherzt
Euer Sohnemann
Mein Artikel war unter der Rubrik »konkret extra« erschienen und umfasste auf zwei Seiten meine Recherche-Ergebnisse zu einem Geheimtreffen des hessischen CDU-Chefs Dregger mit hessischen Großindustriellen und Bankiers. Titel: Verschwörung à la Dregger. Wie der CDU-Chef einen Rechtsruck plant.
»Alfred Dregger begibt sich gegen 18:30 Uhr in die Mörfelder Landstraße 265. Sein Ziel – das Haus Louisa, Privatbesitz des Frankfurter Großbankiers und CDU-Stadtverordneten Johann Philipp Freiherr von Bethmann, Ort eines intimen Treffens der hessischen Kapital-Aristokratie. Ziel der Zusammenkunft: Umwandlung der CDU in eine hessische CSU.
Mitglieder des illustren Kreises: Heinz Osterwind, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und Mitglied von 24 Aufsichtsräten, Dr. Carlfried Schleußner, Geschäftsführer der ADOX-Werke, Ernst A. Tewes, Besitzer der ATE-Werke, Willy Kraus, Hauptaktionär der Metzeler Gummi-Werke, Gerhard Pohl, Vorstandsvorsitzender der Wella-AG, Horst Knapp, Vorsitzender des Hessischen Arbeitgeberverbandes, Wilfried Braun von der Hartman & Braun AG, Prinz Welf von Hannover, Dieter Fertsch-Roever, Fabrikant, Dieter Latscha, Lebensmittelkonzernherr. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Maßgeblicher Initiator und Gewährsmann dieser einflussreichen Wirtschafts- und Finanzkreise ist Alfred Dregger, dessen Ausführungen ihn an diesem Dienstagabend vor den Augen des kapitalträchtigen Publikums im Haus Louisa als den geeigneten Mann erscheinen lassen, der auf dem Programm-Parteitag der CDU in ihrem Auftrag gegen die Mitbestimmungsforderungen der Gewerkschaft, gegen die Forderungen selbst der eigenen Sozialausschüsse auftritt, und der es sogar mit ungeteiltem Beifall seitens F. J. Strauß schafft, dass der CDU-Bundesvorstand seine eigene Vorlage nicht mehr zu vertreten wagt. Was war passiert? Was spielte sich ab an diesem Dienstagabend?«
Teilnehmer an dem „intimen hessischen Kreis“ hatten mir berichtet, wie sich Bethmann für das geheime Treffen entschuldigte und um absolute Diskretion bat. »Ich weiß, dass zum Erscheinen hier Courage gehört und dem einen oder anderen mag es jetzt unheimlich wirken. Aber wer mich kennt, muss eigentlich mit dem Schlimmsten rechnen. Wer hierher kommt in dieses Haus, der muss zumindest mit der Konfrontation, mit persönlichen Bekenntnissen und mit der Provokation rechnen. Ich bin, das sollen Sie wissen, ein CDU-Mann mehr denn je.«
Die rund einhundert Herren des Geldes und der Banken, die Bosse und die Barone klatschten Beifall, als sich Dr. Dregger als ihr politischer Prokurist in der Mitbestimmungsfrage vorstellt: »Jedes artfremde Element schwächt das System der sozialen Marktwirtschaft und die unbegrenzte Vermehrung dieser Elemente müsste zum Verfall der geltenden Wirtschaftsordnung führen.«
Noch am selben Abend erhielt Dregger zahlreiche Zusagen über hohe Spenden. Bankier Bethmann sprach dabei von „einer offenen und brutalen Bitte um ideelle und materielle Hilfe.“
Nach dem rechten Dregger-Vorstoß auf dem Düsseldorfer Parteitag – in Richtung der Schwester-Strauß-Partei – wurde die Öffentlichkeit durch ein zweites Stoßtruppunternehmen der Dregger-Mannschaft überrascht.
In Frankfurt übernahm in wenigen Tagen ein 240 Mann starkes Rollkommando aus Adel und Banken die Macht in fünf der 33 CDU-Stadtbezirksgruppen und wütete mit einem personellen Kahlschlag gegen alle sich dem im Haus Louisa abgemachten Rechtskurs widersetzenden Unions-Veteranen. Wie ich weiter feststellen musste, „konnten die Putschisten bislang fast 40 Prozent (nach CDU-internen Schätzungen) der Frankfurter Kreisdelegierten hinter ihre Linie bringen.“
Detlev von Garnier, eifriger Diskussionsteilnehmer auf dem Bethmann-Meeting, und Assessor Klaus Doell, „beide in Diensten der Tochtergesellschaft der Deutschen Bank und vertrauliche Freunde des Herrn von Bethmann sowie der Chevron-Syndikus Dr. Alexander Riesenkampff initiierten die Blitzaktionen, von denen sie selbst sagen, dass sie aufeinander abgestimmt, planmäßig koordiniert und bewusst im Dunkeln gehalten wurden.“
Es war eine der ersten kleinen Verschwörungen, die ich öffentlich machen konnte.
Der Überraschungsangriff der zumeist jungen und neuen Mitglieder der Frankfurter CDU entsprach in der Taktik dem von Strauß und Dregger ausgemachten Kurs, so schrieb ich. „Er dient dem langfristigen Ziel, die nützlichen Idioten von den Sozialausschüssen (so die Jusos), die die Bildung der sozial-liberalen Koalition nicht verhindern konnten, gänzlich aus dem alten CDU-Gefüge hinauszudrängen.“
Dann berichtete ich noch darüber, wie sich Dregger mit gleichermaßen demagogischen wie nationalistischen Ausfällen im Bunde mit der rechtsradikalen „Aktion Widerstand“ und anderen extremistischen Organisationen auf der Vertriebenen-Kundgebung in Bonn gebärdete, um die ihm bereits beim Bethmann-Treffen von seinen wahren Herren diktierten antigewerkschaftlichen Schauermärchen im Vilshofener Stil herunterzuleiern. Wie ich später feststellte, wurden ihm seine guten Dienste gut honoriert. Seine Gönner trimmten ihn auf einen verschärften antisozialen Kurs. Die Maske war gefallen.
Das also war meine publizistische Osterbotschaft.
Ostern fiel auf das letzte Märzwochenende; auch in Westberlin fand der traditionelle Ostermarsch gegen Aufrüstung und für eine neue europäische Friedensordnung statt. Ich konnte nicht hin, da ich einen Artikel für „die tat“ fertig kriegen musste. Für den Artikel erhielt ich 55,-- Mark, was in keinem Vergleich zu meinem Verdienst beim Soli-Verband statt. Aber mir ging es auch weniger um die Knete als darum, mit meiner journalistischen Schreibe bekannt zu werden. Immer mehr stieß mir bei meinen Vorstellungsgesprächen dabei die Frage auf, warum ich kein Abitur habe. Es nervte.
Am Ostermontag sah ich mir im Ersten einen Dokumentarfilm zur Ostermarschbewegung an. Das begann mit einer musikalischen Untermalung, die mich bereits als Schüler auf meiner ersten Ostermarschdemo 1965 berührt hatte:
We shall overcome/ We shall overcome, some day. / Oh, deep in my heart, / I do believe / We shall overcome, some day. / We'll walk hand in hand, / We'll walk hand in hand, some day. / We shall live in peace, / We shall live in peace, some day. / We are not afraid, / We are not afraid, today / The whole wide world around / The whole wide world around, some day / Oh, deep in my heart, / I do believe / We shall overcome, some day.
Der Song stammte aus 1963 und wurde mit der hoffnungsvollen Stimme von Joan Baez gesungen.