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Rio Reiser & Ton Steine Scherben

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Heute, sieben Jahre später, studierte Rio Reiser in seinem handgestrickten Studio in der Kreuzberger Oranienstraße 43 eine andere Art von Protestsong ein. Sie nannten sich jetzt bereits Ton Steine Scherben und waren nicht mehr die unbekannten Roten Steine, und Rio spielte mit zwei anderen Kumpels Songs wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ oder „Sympathie fort the Devil“.

Rolf hatte über sein Steuerbüro Kontakt zu der Gruppe, was er einer Druckwerkstatt zu verdanken hatte, die die antiautoritäre, sponti-linke Zeitschrift Agit 883 druckte. So kam Rolf mit Rio und seinem Clan zusammen und wir wussten immer, wann und wo es Auftritte oder Proben gab, bei denen wir dabei sein durften.

Pünktlich am 1. April starteten Quiny und Wolle ihren Hippie-Trip; wir begleiteten sie mit unseren beiden Kleidersammel-LKW bis zum Kontrollpunkt Drewitz, jeweils drei Personen in der Führerkabine. Wir winkten und hupten dem bunt bemalten Bulli zum Abschied hinterher. Ein Westgrenzer fand das gar nicht witzig und kam mürrisch angerannt. Was uns einfallen würde, so einen Lärm zu machen. Das könnte mal von denen da drüben falsch aufgefasst werden, und dann …

Und dann? Der dritte Weltkrieg oder was? Der Westgrenzer war in unserem Alter; was für ein mickriger Aufplusterer!

An einem Freitagabend fragte Rolf in die WG-Runde, wer Lust habe, mit zum Kottbusser Damm 74 zu kommen. Da war der ehemalige Beat-Club von Drafi Deutscher, der spätere Probenraum von Tangerine Dream. Tommi, Rosi, Karin und ich kamen mit. Diese Atmosphäre hätte ich nicht erwartet; etwas zwischen Fabrikhalle, Privatwohnung und mit Musikmaschinen bestücktem Tonstudio. Rio und seine Band probten für ihre erste Single „Wir streiken“. Es war eine Mischung von Rock- und Volksmusik.

Wir tranken dort in der Runde von zwölf Leuten Flaschenbier, wobei ich mich mit meinem mitgebrachten traditionellen Karamalz begnügte. Das war das Getränk, dem ich meinen Spitznamen, Kara, zu verdanken hatte. Ich vertrug keinen Alkohol.

Am Kottbusser Damm, in dieser Runde, war es, als wir das erste Mal von Fehmarn erfuhren. Dort auf der Ostseeinsel sollte Anfang September ein großes Open-Air-Festival, das deutsche Woodstock, stattfinden. Hauptstar wäre der »Hey-Joe-Sänger« Jimi Hendrix. Es sollte ein berauschendes Fest der Liebe werden, gesponsert von der modernen Liebesgöttin Beate Uhse.

„Kara, was hältst du von Fehmarn?“, fragte mich Tommi.

„Wenn Fehmarn, dann diesmal aber auch Burg Herzberg“, antwortete ich.

Als wir fünf Clausewitz-WGler mit dem 29er-Bus nach Charlottenburg zurückfuhren, beschlossen wir, zwei Festivals nicht zu versäumen. Das eine wäre Burg Herzberg Anfang Mai. Herzberg hatten wir 1968 gemieden. Mit der Musik von The Petards konnten wir uns damals nicht anfreunden. Wir waren in jenem Jahr noch allesamt in Frankfurt zuhause, gar nicht so weit von der idyllischen Burg im Mittelhessischen entfernt. Einige waren hingefahren, fanden das ins Regen gefallene Festival gar nicht so schlecht und hofften auf einen Nachholtermin im Juli.

Der kam auch prompt, und viele meiner 68er-Klassenkameraden und Freunde aus dem Club Voltaire waren hingefahren und berichteten, dass es ein freies Fest war, dass es keine prollenden Bullen gab. „Da wurde ungebremst gekifft; hat keinen gestört. Man wurde nicht gefilzt; auch die Autos wurden nicht angehalten oder gar der Inhalt durchsucht. Da lagen wir in der Sonne herum, träumten und der Haschrauch zog über die Wiese. Mit Musik die Welt verändern, das war unser Motto auf Herzberg, einfach Spitze.“

Das zweite Festival, das wir 1970 auf keinen Fall versäumen wollten, sollte unser Fehmarn-Woodstock sein. Das beschlossen wir, während unser 29er-Bus der Haltestelle Olivaer Platz entgegenfuhr.

Im Radio hörten wir am nächsten Morgen, dass auf Befehl des US-Präsidenten Richard Nixon seine Truppen von Südvietnam aus in das Nachbarland Kambodscha eingefallen waren.

„Guck mal, wie schnell ich recht behalten habe“, sagte Rolf zu Karin. „Und schon wieder dürfen wir die altbekannte imperialistische Weltpolizei live erleben.“

„Wart’ erst mal ab“, antwortete Karin mit zurückgeworfenem Kopf. „Bei den Militärs ist halt Nixons neue Rückzugs-Strategie noch nicht angekommen.“

Wir lachten. „Als wäre das nicht ein und derselbe Verein!“

Und dann erschütterte uns eine weitere Radio-Nachricht. In der Direktübertragung einer Pressekonferenz ließ Paul McCartney die Bombe platzen; er teilte der Welt seine Trennung von den „Beatles“ mit. War das denn ein Unglücksjahr, in dem sich alle trennten?

Mitte April explodierte an Bord von Apollo 13 ein Sauerstofftank. Die Mannschaft rettete sich in die Mondlandefähre. Erst kurz vor Eintritt in die Erdatmosphäre konnten die Astronauten wieder in die Apollo-13-Kapsel steigen und sicher landen. Noch mal Schwein gehabt.

Auch Karin hatte Glück gehabt, denn auf ihrer Rückfahrt als Mitfahrerin in einem Käfer – vermittelt von der Frankfurter Mitfahrzentrale – wurde lediglich sie, sie allein, von westdeutschen Beamten an der DDR-Grenze gefilzt und nicht die Halterin des Fahrzeugs, die am Steuer saß. Die hatte nämlich unter ihrem Sitz ein Päckchen Hasch versteckt gehabt, was sie erst nach Ankunft in Westberlin Karin mitteilte und ihr ein Gramm anbot.

„So was nehm‘ ich nicht“, sagte Karin. „Wenn die dich erwischt hätten, wäre ich gewiss auch mit reingezogen worden. Das ist nicht gerade sauber, was du da machst!“

„Stell dich nicht so an …“, hatte die Fahrerin geantwortet, „… so jung und schon so spießig!“, und hatte die Tür hinter Karin zugeknallt.

Chérie hatte mir aus Frankfurt Lollos Ostergeschenk mitgebracht, das Gobelin-Stickbild von Spitzweg mit dem Motiv Der Bücherwurm. Das war von meiner Mutter ja gut gemeint und das Motiv passte auch – aber wo sollte ich dieses konservativ anmutende goldene Prunkstück wohl unterbringen? Doch nicht in meinem Zimmer. Nach Ratsbeschluss aller WG-Mitglieder fand es seine letzte Ruhe im Flur über der Gefriertruhe.

Karin erzählte in der Essensrunde noch aufgeregt von der Durchsuchungsaktion an der Grenze. Die DDR-Grenzer hätten sogar mit fahrbaren Spiegeln unter ihrem Käfer und im Kofferraum nach Flüchtlingen gesucht. „Wie kann man seine Bürger nur am Ein- und Ausreisen hindern?“, fragte sie. „Das ist typisch für einen revisionistischen Staat, wo der Kommunismus verhunzt und verraten wird. Die Ideale von Marx und Engels und Lenin sind in den staatssozialistischen Ländern im Eimer!“

„Nun mal langsam, liebe Genossin von Maos Gnaden“, warf Richy, der sich diese Polemik bei ihr erlauben konnte, ein. „Also, erstens hast du in deiner Aufzählung der Heiligen und Glorreichen einen Namen vergessen: Stalin. Und zweitens gibt es kein derzeit stalinistischeres System als China. Und da möchte ich jetzt gerne, dass du mir etwas über die Reisefreiheit der 818 Millionen Chinesen erzählst.“

„Macht doch keinen solchen Hickhack!“, sagte Tommi. „Es geht doch im Grundsatz um etwas ganz anderes. Im Krieg gab es da Reisefreiheit? Nein, natürlich nicht! Und schon gar nicht als die Bomben fielen. Heute haben wir den Kalten Krieg, das heißt Wirtschaftskrieg, Propagandakrieg, psychologische Kriegsführung auf allen Ebenen, das heißt Abwerbung von Fachkräften aus dem Osten, wo für die hochqualifizierte Ausbildung enorme finanzielle Reserven aufgebracht werden müssen. Am schlimmsten ist es für die DDR, wenn Ärzte, Techniker und Ingenieure abgeworben werden. Deshalb die Grenze.“

„Ja, ja, ja“, rief Karin dazwischen, „das alles rechtfertig die Massenmenschhaltung in undurchlässigen Grenzen? Und das nennt sich Sozialismus!“

„Deine Ausdrücke sind zutiefst antikommunistisch, Frau Superkommunistin. Und deine unhistorische Darstellung ist einfach nur unverantwortlich!“, sagte Tommi. „Es ist Fakt, dass der Westen nach dem Krieg aufgrund der unbeschädigten Wirtschaft in den USA mit einem enormen Vorsprung gegenüber den zusammengebombten und verarmten osteuropäischen Gebieten starten konnte.“

Rosi saß da und lackierte sich nach dem Dessert –Vanillepudding mit Pfirsichstückchen aus der Dose – die Fingernägel mit violettem Lack. Nur gelegentlich schaute sie hoch und sagte einmal: „Regt euch nicht so auf; nichts wird so heiß gegessen, bis es kalt ist.“

„Ja, wir wissen: Nachts ist es kälter als draußen“, sagte ich, weil ich unbedingt darauf aufmerksam machen musste, dass Rosi wieder einmal ein Sprichwort so unsäglich verhunzt hatte. „Aber ich muss gestehen, es klingt lustig“, räumte ich ein und zwinkerte Rosi zu, was sie aber nicht sah, weil ihr Augenmerk wieder ihren violetten Fingernägeln galt. Plötzlich hob sich ihr Kopf und sie sagte völlig unvermittelt: „Borussia Mönchengladbach ist Deutscher Fußballmeister, erstmals. Ist das nicht was?“

Uff, stöhnte ich in mich rein. Jetzt bitte keine Fußballgeschichten. Jedenfalls nix mit Borussia Mönchengladbach.

Wir diskutierten noch eine ganze Weile über Freiheit und Freizeit. Und über die grenzenlose Freiheit eines Udo Jürgens Songs, der natürlich über den Äther in alle Zonen und Ecken der „Zone“ drang.

Was bedeutete uns hier im Westen Freiheit? Was bedeutete Freiheit dort drüben, in jenem neu aufgebauten antifaschistischen Staat, der aus allen Richtungen bekämpft und sabotiert wurde?

Freiheit für uns selbst bestand darin, unsere Vorstellungen auf Basis der gar nicht so wundersamen Wirtschaftswunder-Verhältnisse ausleben zu können. Wir konnten nach Lust und Laune die halbe Welt bereisen; uns ging es doch gut, was wollten wir mehr? Und jetzt auch noch die lockere und friedliche Ostpolitik der neuen Bundesregierung. Da drängte sich fast schon die Frage auf, ob die Alten Recht hatten mit ihrem: „Was wollt ihr eigentlich? Euch geht’s doch gut!“

Rolf ging in sein Zimmer, legte einen Song von Led Zeppelin auf – „Bring it on Home“. Dann kam er wieder raus und grinste, warum auch immer.

Schließlich waren wir uns einig, dass es uns gut ging; aber nicht allen ging es so gut wie uns Jungen. Wir kamen sogar zu der Erkenntnis, dass es uns hier im Westen schließlich auch deshalb gut ging, weil die Hauptlast der Kriegsreparationen von den 17 Millionen Deutschen in der DDR geschultert werden musste. Dass dieser Zustand da drüben zu einer explosiven Situation wie am 17.Juni 1956 geführt hatte, war für uns kein Wunder.

Auch in Westberlin explodierte etwas; nicht mit Sprengstoff – noch nicht mit Sprengstoff! – aber im gesellschaftlichen Sinne. Es sprengte die Mauern alles bisher dagewesenen. Ulrike Meinhof, die einstmals so vernünftige und von humanistischen Idolen geleitete Superkolumnistin bei Zeitungen wie der konkret, Mutter zweier Kinder, drehte durch und verhalf Andreas Baader während eines bewachten Ausgangs zur Befreiung. Baader war einer von drei Frankfurter Kaufhausbrandstiftern. Sie wollten im Oktober 1968 mit diesem Brandfanal zu mitternächtlicher Stunde, bei dem niemand verletzt wurde, gegen den Konsumterror der Großunternehmen protestieren.

Jetzt aber wurde ein Mann lebensgefährlich verletzt. Das war weder lustig noch eine revolutionäre Heldentat. Das war auch nicht humanistisch oder irgendwie sozia­listisch. Das war echt Scheiße. Übrigens war dieses Wort inzwischen wenn nicht salon-, so doch gesellschaftsfähig geworden. Hatten wir es 1966 nur denken dürfen, so konnte man es nun öfter hören, als es einem lieb war.

„Es ist das falsche Signal und ein fatales Fanal“, sagte Richy, und er hatte Recht. Es war der Beginn einer Gewaltspirale, die mit der „Gewalt gegen Sachen“ begann und mit Gewalt gegen Menschen endete. Die Etablierten, die selbst so oft mit äußerster Gewalt gegen friedliche Demonstranten Brutalität vorexerziert hatten, freuten sich. Heimlich triumphierten mit ihnen die hinterfotzigen Burschen vom Verfassungsschutz.

Der V-Mann Urbach, eingeschmuggelt in die linke Szene, lieferte Molotow-Cocktails, Waffen, Sprengstoff und Drogen an die jungen Berliner Aufrührer. Alles für die Eskalation. Denn die „linke“ Szene sollte hässlich, brutal, verroht und unmenschlich aussehen.

„Eigentlich ganz wie das System“, sagte Rio Reiser, als wir ihn und seine Band wieder einmal auf ein Bierchen in ihrer Probebude besuchten. „Am schönsten wären für die herrschende Mafia Schlagzeilen wie »Rudi Dutschke erschlägt seine Mutter, »Fritz Teufel verbrennt Auto eines Schichtarbeiters« oder »Ulrike Meinhof erschießt ihre Putzfrau«. Stimmt doch, oder?“

So traurig es im Grunde war, wir mussten laut lachen.

Baader wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Eine der überlegenswerten Theorien über Sinn und Zweck einer ausschließlich konsumorientierten Geldwirtschaft wurde durch seine Tat grundlegend diffamiert. Ulrike Meinhof verschaffte mit ihrer idiotischen Befreiungsaktion den verurteilten Straftätern eine Art Leumundschaft. Das konnte nicht gut ausgehen.

In Karins maoistischer Ideenwelt hingegen war „Gewalt gegen Sachen ganz in Ordnung“, weil das angeblich die Arbeiterklasse nicht tangierte, es betraf ja nur das durch die Ausbeutung der Arbeiterklasse ergatterte Vermögen der Bourgeoisie. Das war wieder mal maoistische Denke vom Feinsten – aus dem fernöstlichen Lehrbuch, wahrscheinlich Lektion 1A: Wie verrenke ich mein Hirn, um jeden Scheiß gutzuheißen, wenn er denn nur dem verhassten Establishment schadet.

Dass solche Aktionen von „den Massen“, deren Herz und Hirn Karin angeblich erobern wollte, weder verstanden noch gebilligt wurden, kam in solcher Politdenke einfach nicht vor. Dennoch respektierten wir unsere unterschiedliche Sicht der Dinge und liebten uns. Ganz nach dem Motto: Gegensätze ziehen sich an.

Und was zog Karin plötzlich an einem Abend vorm Zubettgehen erst an und dann aus? Ein Wegwerfhöschen! Unglaublich! Das war der Mode-Hit der Urlaubssaison: rein, raus, in den Müll. Für Mädchen mit Sinn für Ulk gab es sie auch bedruckt, mit Herzchen, dicken Lippen und Kussmund, mit Motiv-Rose oder Kleopatra-Auge. Was Mao Tse-tung wohl davon hielt? Ich fragte Karin lieber nicht.

Wir blätterten noch in allerhand revolutionären Blättchen.

In der Sponti-Zeitung Agit 883 ging‘s um radikale Aufklärung: Ich weiß nen Witz/ meine Mutter hatn Ritz/ mein Vater hat ne Rhabarberstang/ da macht er die kleinen Kinder mit bang. Karin und ich fanden den letzten Reim irgendwie schräg. Da waren die anderen Reime weniger verfänglich. Lakritzen, Lakritzen/ die Mädchen haben Ritzen/ die Jungen haben ‘n Hampelmann/ da ziehen die Mädchen gerne dran. Dass das eigentlich gar nicht so ganz stimmte, wussten wir aus dem Kinsey-Report.

Karin und ich mussten lachen, als wir weiterlasen: In der Nacht, in der Nacht/ wenn der Büstenhalter kracht/ und der Bauch explodiert/ kommt das Kind herausmarschiert.

Ganz früher, mit acht, neun und zehn Jahren, hatten sich mein Schulfreund Pit und ich noch gefragt, wo denn nun das Kind herausmarschieren würde. Wir waren damals zu keinem Ergebnis gekommen. Ich war der Ansicht, es käme aus dem Nabel; Pit hatte eine entschieden exkrementelle Vorstellung von der ganzen Sache, was ich für extrem unsauber hielt und abwies. Es sollte sich aber zeigen, dass mein Freund der Wahrheit schon rein geografisch sehr viel näher gewesen war.

Um einen anderen Reim ging es im Brief, den meine Mutter an Günter und mich gerichtet hatte. Da mein Bruder und ich uns sowieso demnächst treffen wollten – er wohnte nur fünf Bushaltestellen von unserer WG entfernt – hatte sie das Porto gespart und uns einen Gemeinschaftsbrief geschrieben. Typisch Lollo, die sparsame Schwäbin. Er enthielt eine in Gedichtform gehaltene Lobpreisung auf ihre Freundin Elsbeth, der Rindswurst-Tante aus der Unternehmer-Familie Gref-Voelsing. Dass Lollo dichten und reimen konnte, war mir neu. „Die Rindswurst-Hymne“ belehrte mich eines Besseren.

Die beste Rindswurst auf der Welt

Ist die Gref-Voelsing’s, die gefällt

Den Augen und dem Magen,

Die sie so gut vertragen.

Sie ist so glatt, so rund und braun,

Wir können sie so gut verdauen,

Geschmacklich einwandfrei und klasse,

Sie schmälert nicht mal unsre Kasse!

Wir essen sie gar willig –

Besonders weil sie billig:

Denn unsre Elsbeth sie spendiert

Und uns zum Essen dann verführt.

Ein Lob drum

Dieser Wurst vom Rind,

Die gern im Magen-Labyrinth

Von Vater, Mutter, Kind verschwindt.

Wir danken

Unsrer Elsbeth

Denn sowas

Das ist sehr nett!

Auch Willy Brandts Regierung war sehr nett. Gemäß ihrem Leitsatz „Mehr Demokratie wagen“ setzte sie per Grundgesetzänderung das Wahlalter herunter. Von nun an waren Achtzehnjährige alt genug zu wählen und Einundzwanzigjährige reif genug, gewählt zu werden. „Schade, dann muss ich noch bis September warten, bis ich dich als potentiellen Außenminister wählen kann“, sagte Karin.

„Dann müssten aber auch pünktlich zu meinem Geburtstag Wahlen sein“, gab ich zu bedenken. „Wichtiger ist mir im Moment, wo ich mich bewerben könnte, um meinem Traumberuf als Journalist näher zu kommen.“

Karin schnipste wieder mal mit den Fingern. „Ich wollte es dir schon die ganze Zeit zeigen…“, und sie kramte unter ihren Schulunterlagen eine Zeitschrift hervor mit dem Namen „Bundesdeutsche Tabus“, verlegt von einem Dr. Wilhelm Duwe.

„Schau mal die Anzeige hier, die suchen einen Volontär ab Herbst dieses Jahres. Da hätten wir noch genug Zeit, im Sommer unsere Freunde auf ihrem Hippie-Trail in Torre zu besuchen. Und du könntest dich schrittweise vom Soli-Verband zurückziehen.“

Schon am nächsten Tag rief ich beim Dr. Duwe Verlag an. Eine vornehm klingende Damenstimme meldete sich und reichte mich dann weiter: „Wilhelm, für dich!“

Dann hatte ich den Chef persönlich am Apparat; wir machten einen Termin für Ende des Monats aus. Ich möge bitte eine Bewerbungsmappe zusammenstellen. Klar doch, das war ein Heimspiel, dachte ich.

Vorher aber musste ich nach Frankfurt. Zum Geburtstag meiner Mutter setzte ich mich in den Interzonenzug und besuchte sie und ihr Damenkränzchen, das ich tatsächlich schon ein wenig vermisst hatte.

Lollos Freundinnen trafen sich in unserem Stadthaus. Wie immer hatte ich vorher schnell die Straße gekehrt, damit keine der reichen und stolzen Unternehmergattinnen über einen Kiesel stolperte oder gar einer unangenehmen Begegnung mit einem Zigarettenstummel ausgesetzt war. Und wie immer trudelte als erstes die Schreiner-Friedel ein. Ihr Mann hatte in den letzten Jahren Bornheims größte Holzhandlung und Schreinerei erweitert und zur Dachdeckerei ausgebaut.

Der Mai war außergewöhnlich kühl, aber zu Mutters Geburtstag schien die Sonne recht kräftig. Passend hierzu hörte man gerade aus dem Küchenradio, was Lollo immer eingeschaltet ließ, den Song Here comes the sun von den Beatles. Ihr Lieblingssender war der Hessische Rundfunk, und die spielten schon den ganzen Tag über die Beatles – wahrscheinlich aus Trauer über Paul McCartneys Abgang.

Die Freundinnen meiner Mutter redete ich seit jeher mit „Tante“ an. Als ich Tante Friedel die Tür öffnete, sagte sie den mir allzu bekannten Spruch: „Na, mein Junge, was bischt du wieder gewachsen!“ Sie schwäbelte ein wenig wie meine Mutter, was kein Wunder war, da beider Wiege dort gestanden hatte.

Diesmal konnte ich der Wahrheit zuliebe nicht über diese geläufige Floskel der alten Dame hinweglächeln.

„Ich bin, ehrlich gesagt, seit einem Jahr nicht mehr gewachsen“, sagte ich.

„Möglich, bischt aber trotzdem ein langer Lulatsch g‘worden. Bei welchem Zentimetermaß bischt du denn stehengeblieben?

„Bei ein Meter und einundachtzig.“

„Du siehst heute ja richtig schick aus“, meinte Friedel. Das kam gewiss daher, dass ich schon seit langem kein Gammler-Outfit mehr trug, diesmal auch nicht den obligatorischen Parka mit Ostermarsch-Stickern. Friedel sah mich bewundernd von oben bis unten an. Ich trug eine Jeans-Schlaghose, darüber ein kurzärmliges weißes Hemd, was ich über dem Gürtel trug.

„Ausch dir wird ja noch was Ordentliches. Ich hab’s doch immer schon gewusst. Nur das Hemd würde ich in die Hose stecken, wo es hingehört.“

Ich fühlte mich leicht verkohlt. Warum sollte eigentlich „nichts Ordentliches“ aus mir werden? Vor einem Jahr wäre mir diese sachliche Gegenfrage noch nicht über die Lippen gekommen. Wahrscheinlich hätte ich motzig-rebellisch reagiert.

„Gehörscht du immer noch zu den rebellischen Dauerdemonschtranten?“

„Ach, Tante Friedel! Demonstrieren ist doch ein Grundrecht.“

„Das muss man ja nicht ausreizen. Wir haben in unserer Jugend doch auch nicht demonstriert; wir waren brave Mädchen und ordneten uns dem Staat und den erfahrenen Erwachsenen unter.“

Ich glaube bis heute, dass sie wirklich niemals darüber nachgedacht hat, wie die deutsche Geschichte hätte verlaufen können, wenn die ganze Jugend in den verschissenen Dreißiger Jahren gegen die braune Pest aufgestanden und demonstriert hätte. Stattdessen mutierten sie zu gehorsamen Lämmern eines Schlächters, der ihnen nur verbrannte, blutbesudelte Erde hinterließ. War das heute, nur fünfundzwanzig Jahre später, so schwer zu begreifen? Konnte man davor so sehr die Augen zukneifen?

Wieder einmal – wie bei allen Damenkränzchen in den vergangenen Jahren – hatte ich zuvor das Esszimmer gesaugt, den großen Ausziehtisch aufgeklappt, mit dem schmucken und teuren Goldrand-Porzellange­schirr eingedeckt und den Kaffee in zwei Thermoskannen vorbereitet. Meine Schwester Ulla blieb wie üblich außer Sichtweite.

Wahrscheinlich hatte sie gerade heute einen ihrer besonders schrecklichen, anstrengenden, gewerkschaftlich-bürokratischen Sesselfurzertage hinter sich, wo­durch sie nicht mehr fähig war, zuhause zu helfen. Dass sie immer noch beim DGB arbeitete und zugleich mit einem gewaltbereiten NPD-Idioten verheiratet war, war für mich eines der großen, völlig unerklärlichen Weltgeheimnisse. Ulla verschwand schnurstracks in ihrem Zimmer und kam erst raus, als die Damen gegangen waren.

Als es klingelte, kamen mit einem Schwung drei Freundinnen meiner Mutter. Es waren die Rindswurst-Tante, die Seifen-Maya und Mamas jüdische Freundin, Tante Rosel.

Noch einmal musste ich mir anhören, wie groß und erwachsen ich geworden sei, obwohl nur ein Jahr vergangen war. Immerhin kam nicht mehr die äußerst kritische Frage, ob ich wohl ein Beatle sein wolle, wegen der langen Haare und überhaupt. Inzwischen waren die Beatles und Stones allgemein akzeptiert, waren präsent in Radio und Fernsehen. Nur noch die altbackenen natio­nalistischen Hardliner sprachen von Affenmusik.

„Mama ist gleich da“, sagte ich. „Darf ich euch schon mal eine Tasse Kaffee anbieten?“

„Neeeiiin danke“, riefen sie fast im Chor. „Wir warten gemeinsam, bis das Geburtstagskind erscheint.“

Und dann erschien Lollo mit knallrot angemalten Lippen und silberblau getöntem Haar, in ihrem cremefarbenen Lieblingskostüm, passenden Pumps und dem zu feierlichen Anlässen immer hoch toupierten Haar. Die Damen sangen ein Geburtstagslied und übergaben ihre Geschenke, Parfüms, Seifen, Make-up und einen seidenen Schal.

Als Maya meiner Mutter ein wunderschön angerichtetes Seifen-Arrangement überreichte, erinnerte mich der Duft sogleich an Tattis und Onnas Drogerie. Da musste ich anschließend unbedingt kurz vorbeischauen, um sie von Günter zu grüßen, um die beiden alten Leutchen zu drücken und um meine vier Fläschchen Sanostol abzuholen. Da war ich süchtig nach. Dieser vitaminhaltige Kindersirup war eine Zeitlang meine einzige Sucht – außer der Schreibsucht, die sich rapide entwickelte.

Ich blieb noch eine Weile beim Damenkränzchen, schenkte Kaffee ein und durfte die stark beworbene Bärenmarke-Dosenmilch aus einem niedlichen Goldrand-Milchkännchen reichen.

„Und was machst du so beruflich?“, wollte Tante Maya wissen. Ich log das Blaue vom Himmel herunter – Mutter zuliebe, wie ich dachte. Aber sie schaute eher etwas irritiert drein, musste sie sich doch all meine Geschichten jetzt merken, wenn sie beim nächsten Damenkränzchen in vier Wochen die Storys noch parat haben wollte.

Aber arg so weit entfernte ich mich nicht von der Wahrheit. Statt nur zwei konkret-Artikeln, die es in den letzten zwölf Monaten waren, produzierte ich laut meiner dämlichen Selbstdarstellung bei den feinen Damen jetzt wöchentlich zwei Artikel und war dort schon fester Mitarbeiter. Nebenbei schrieb ich unentwegt für die Frankfurter Rundschau und die PARDON, obwohl ich denen bislang jeweils nur einen einzigen Artikel aufs Auge drücken konnte. Für die tat aber schrieb ich tatsächlich monatlich einen politischen oder Wirtschafts-Artikel, was ich – immer noch Lollo zuliebe – auf das Doppelte erweiterte. Außerdem behauptete ich, dass mein Redaktionsvolontariat ab Oktober bereits in trockenen Tüchern sei.

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Wilde Zeiten - 1970 etc.

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