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Die »konkret« &Ulrike Meinhof

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Bisschen kindsköpfig war ich mir auch vorgekommen, als ich mit Neunzehn im Februar 1969 bei meinem allerersten Kontaktversuch in der Hamburger konkret-Redaktion Ulrike Meinhof begegnet war. Sie war mit dem Chefredakteur Röhl verheiratet und führte mich in ihr Büro, da Röhl in München auf CSU-Recherche-Tour war. Er wollte christsoziale Insider treffen, die ihm mehr über die Beziehungen von Franz Josef Strauß zur Rüstungsmafia berichten konnten. Das wollte er keinem anderen überlassen und gerne selbst in die Hand nehmen, weil zu brisant.

Ulrike Meinhof war für mich bis dahin eine völlig unbekannte Person, nur aus ihren konkret-Kolumnen konnte ich mir ein Bild über sie machen. Noch stand sie ja nicht im Kreuzfeuer des gewaltbereiten Terrors. Wie sie mir so gegenüber saß, sah sie sehr bürgerlich solide aus, halblanges, gepflegtes dunkles Haar, eine leicht bräunlich getönte Brille, ein dunkler Rollkragenpullover, dazu eine dunkle Hose und schwarze halbhohe Schuhe. Sie war zirka Mitte Dreißig, vielleicht ein, zwei Jahre jünger oder älter – sehr schwer zu schätzen für mich, da mir alle über Dreißig schon ziemlich alt erschienen.

„Wie sieht denn Ihr politischer Lebenslauf aus?“, fragte sie mich. „Sie wissen ja, dass wir eine politische, gesellschaftskritische Kulturzeitschrift sind. Da erwarten wir von unseren Mitarbeitern freilich eine solide Kenntnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge.“

Ich berichtete ihr von meiner frühen Politisierung bei der Jungen Union, von der ich mich ebenso wie von den christlichen Pfadfindern rechtzeitig abnabeln konnte, um mein eigenes Köpfchen zu entwickeln, bevor ich bei den Provos landete. Genau das war der Zeitpunkt, an dem ich mir dann doch sehr kindisch vorkam, als sich die Chefkolumnistin und Ehefrau des Chefredakteurs und Herausgebers für meinen mickrigen politischen Lebenslauf interessierte. Ich lief rot an und bereute noch in diesem Augenblick, ihr von meiner halbherzigen Gammler- und Provo-Zeit etwas vorgeschwärmt zu haben.

Es schien aber nichts auszumachen, denn sie machte einen interessiert-höflichen Eindruck und sagte abschließend nur noch, ich würde von ihr hören. Das war vor ziemlich genau einem Jahr gewesen. Aber ich hörte von ihr nichts mehr, kein einziges Wort. Wie ich sehr viel später erfuhr, lag sie zu dieser Zeit bereits schwer im Clinch mit ihrem Mann und seinem redaktionellen Marketingkonzept. Der konkret standen bewegte Zeiten bevor.

Ende des Monats las ich in der Tageszeitung, dass konkret-Chefredakteur Röhl wegen Lästerung der deutschen Flagge von der Kriminalpolizei vernommen worden war. Anlass war ein Lolly lutschender Nackedei mit erdbeerfarbenem Schmollmund auf einem der konkret-Titel. Die Farbe des Lutschers: Schwarz-Rot-Gold.

Dazu fiel Frankholz bei unserem atheistischen Abendmahl ein Gedicht seines mittelalterlichen Landsmannes Francois Villon ein, das er mit seinem Französischakzent in fast einwandfreiem Deutsch zum Besten gab.

Ich bin so wilde nach deinem Erdbeermund,

ich schrie mir schon das Lungen wund

nach deinem weißen … äh …“

Leib, du Weib!“, ergänzte Richy.

Unser französischer Freund („Ah ja“) fuhr fort:

Im Klee, da hat der Mai eine Bett gemacht,

da blühte einem schöner Zeitvertreib

mit deinem Leib die lange Nacht.

Da wille ich sein im tiefen Tal

Deine Nachtgebet und auch dein Sterngemahl.“

Wir klatschten. Jean-Francois stand auf und verbeugte sich tief. „Ich liebe dieses Dichter.“

„Was ist das, ein Sterngemahl?“, fragte Rosi.

Tommi räusperte sich.

„Ach so“, sagte Rosi. „Du bist so was. Aber erst dann, wenn du mich heiratest.“

Wir diskutierten über den Sinn von Heirat noch eine ganze Stunde lang und kamen zu dem Ergebnis, dass die Heirat ein typischer Kunstharzkleister aus dem Hause des Kapitalismus ist. Das brauchten wir nicht – vielleicht aber auch nur „noch nicht“, wie Karin unter Verweis auf die chinesische Revolutionspraxis und die Haltung des Großen Vorsitzenden einwendete.

*

Anfang Februar 1970 kam es zum bisher größten Ost-West-Geschäft zwischen der BRD und der UdSSR, nämlich zur Lieferung von Erdgas gegen Großröhren. Geboren war die politische Maxime „Wandel durch Handel“.

„Das kann nicht falsch sein“, meinte Richy.

„Was kann nicht falsch sein? Dass wir jetzt vom Gas der Russen abhängig werden?“, fragte Karin.

„Wandel durch Annäherung kann nicht falsch sein“, sagte Richy. „Du schürst Ängste, die sonst nur von Konservativen bedient werden! Aber da sieht man wieder mal die Übereinstimmung zwischen Maoisten und antisowjetischen Reaktionären.“

„Revisionisten-Geschwafel!“, sagte Karin und wedelte mit der neuesten Ausgabe der Peking Rundschau herum. „Hier steht schwarz auf weiß, was der Große Vorsitzende Mao dazu sagt: Den Marxismus und nicht den Revisionismus praktizieren; sich zusammenschließen und nicht Spaltertätigkeit betreiben; offen und ehrlich sein und sich nicht mit Verschwörungen und Ränken befassen!“

„Na, dann merk dir das mal, Genossin Karin: Nicht Spaltertätigkeit betreiben!“, sagte Richy und verschwand schmunzelnd in seinem kleinen, anspruchslosen Zimmer, das kein Plakat und nur eine Stechpalme schmückte.

Ich mischte mich in solche Zoffereien ungern ein; mich belustigte es eher. Irgendwie nahm ich meiner Liebsten sowieso nicht ab, was da an blumig-chine­sischen Worten über ihre wundervollen Lippen purzelte. Für mich war das eine aufgesetzte Show. Sie wollte sich behaupten, wollte sich einen besonderen Stellenwert im Kreis von uns politisierten Männern erkämpfen, wollte sich Achtung durch eine ausgefallene Politposition verschaffen.

Zeitweise hatte sie sich in Frankfurt für den Weiberrat interessiert. Das waren die weiblichen SDS-Mitglieder; wenn nicht Mitglieder, so waren es doch zumindest SDS-affine Mädels, die den publicitygeilen SDS-Jungs nicht nachstehen wollten. Auch bemängelten sie das noch tief verwurzelte Mackertum im jungen Blut der Jungrevolutionäre. Die Frankfurter Machos im Sozialistischen Deutschen Studentenbund rund um Hans-Jürgen Krahl, Cohn-Bendit, die Brüder Wolff und Günter Amendt dominierten tatsächlich das politische Geschehen und die Presse. Und sie gaben vor, auch im Namen der Frauen zu sprechen, denn eine eigenständige Frauenbewegung existierte noch nicht so recht.

Aber Karin war total eigensinnig und ließ nur ihren eigenen Weg gelten; alles, was nach deutscher Normalität roch, war ihr suspekt. Dazu gehörten die organisierten Studenten, die gewerkschaftlich engagierten Sozialisten und alle SPDler, DKPler und alle K-Gruppen außer natürlich der maoistischen KPD/ML. Aber auch dort mochte sie sich nicht organisieren, sondern sprach nur unablässig davon, wie wichtig eine revolutionäre Organisation sei. „Die Arbeiterklasse braucht eine revolutionäre Vorhut“, war eine ihrer Standardaussagen.

„Aber wofür braucht der revolutionäre Mann überhaupt eine Vorhaut?“, fragt Tommi. Wenn Tommi ihr mit solchen Scherzen in die maoistische Parade fuhr, konnte sie lächelnd über seinen Einwand hinweggehen. Bei mir aber konnte sie in solchen Situationen höllisch explodieren. Dem konnte ich nur Einhalt gebieten, indem ich mich entwaffnend auszog und mich ergab. Ab da wurde das explosive Spiel erst interessant und ich spürte, wie sich Karins Verbissenheit im Liebesspiel in kleinen Liebesbissen auflöste.

*

Ohjessesmaria, der für seine außerirdischen Liebeleien und Geheimwissenschaften bekannte schweizerische Erfolgsautor Erich von Däniken wurde vom Kantonsgericht in Chur wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Meine Mutter konnte es nicht glauben, sie liebte zwar vornehmlich die Romane von Johannes Mario Simmel, hatte jedoch seit Ottos letztem Weihnachtsgeschenk neu zu Dänikens Geheimwissenschaften gefunden. Erinnerungen an die Zukunft hieß sein Buch. Da fragte er zum Beispiel, ob Gott von der Zeit abhängig und ob die Bundeslade von Moses elektrisch geladen war. Seiner Meinung nach war die Sintflut vorausgeplant, außerdem paarten sich die Götter und die Menschen sehr gerne. Das war für ihn klar wie Kloßbrühe.

Ein paar Tage später, Mitte Februar, gab es eine weitere Gerichtsmeldung. Eine im Jahr 1896 geborene Anna Anderson, verheiratete Anastasia Manahan, verlor vor dem Bundesgerichtshof in letzter Instanz ihren Prozess um Anerkennung als Zarentochter Anastasia, der jüngsten Tochter des letzten russischen Zaren.

Und noch einen Tag später legte US-Präsident Richard Nixon dem Kongress seine außenpolitische Doktrin für die 1970er Jahre vor. Danach sollten die USA ihre Rolle als Weltpolizei aufgeben. „Da lachen ja die Hühner“, meinte Rolf. „Wenn das so kommt, dann fress‘ ich einen Besen!“

„Das kommt so!“, sagte Karin. „Hier steht schon mal der Besen.“ Sie deutete in die Flur-Ecke hinter der Garderobe, wobei wir alle sofort ein schlechtes Gewissen bekamen, weil wir immer noch nicht geklärt hatten, wer als nächstes mit dem Kehren von Küche, Bad und Flur dran war. „Ich sag euch: Das kommt wirklich so! Der US-Imperialismus geht seinem Ende entgegen.“

„Wenn das nicht mal wieder eine dieser maoistischen Fehleinschätzungen ist“, antwortete Rolf.

„Das ist keine Fehleinschätzung, weil Nixon sonst seine NATO-Verbündeten nicht auffordern würde, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen. Das ist das Eingeständnis, dass Amerika am Ende ist!“

„Quatsch mit Soße“, sagte ich. „Das heißt nur, dass wir und die anderen US-Vasallen mehr in die NATO-Aufrüstung stecken sollen. Denk doch mal nach! Wir sollen bei den Amis mehr Panzer und Bomber kaufen. Darum geht es Nixon, schön verklausuliert als »mehr eigene Verantwortung übernehmen!« Klingt gut und lässt bei Amerikas Rüstungsindustrie die Kassen klingeln.“ Mir war klar, dass Nixon den Krieg im Fernen Osten mit europäischem fresh money ausweiten wollte.

Fast hätte mir Karin die Augen ausgekratzt. Sie saß da wie ein Panther auf dem Sprung. Aber sie hielt die Klappe. Zehn Minuten später legte sie mich im Bett flach und machte mich auf diese Weise mundtot.

Am nächsten Morgen plauderte Frankholz aus seinem historischen Nähstübchen und legte uns die originalfranzösische Sicht der Dinge zum Maiaufstand 1968 in Paris dar. Im Speziellen ging es um Daniel Cohn-Bendit, den Roten Dany. Das interessierte zwar keinen mehr, da es aus unserer Sicht schon eine Ewigkeit, nämlich zwei Jahre, her war. Doch Jean-Francois plauderte munter drauflos.

„Ich glaube, Dany le Rouge, also glaube ich, war deutscher Anarchist in unser Lande, um die Sozialismus zu stoppen. Hat so viel Wirrzeug gemacht, alles durcheinander und nix auf die Beine gebracht, was könnte bleiben. Nur kaputt machen ist doch kein … wie sagt man … Concepion …“

„Konzept“, sagte ich und goss mir die warme Milch über die Haferflocken. Die mussten erst zirka drei Minuten aufquellen, aber nicht zu viel, dann kam das kleingeschnippelte Obst obendrauf. Das war das Konzept für mein Rezept.

„Hoch die internationale Solidarität!“, rief Rolf.

Richy und ich mussten lachen. Frankholz grinste und reckte die Faust hoch. Auch Karins Mao-Fäustchen mit den lila lackierten Fingernägeln flog hoch; sie musste sich beeilen, die Schule rief, und sie verließ uns hastig, wie immer etwas zu spät für den pünktlichen Unterrichtsbeginn. Aber als revolutionäre Abiturientin mit Plateau-Schuhen konnte man sich das offenbar irgendwie leisten.

Und was kam nach dem Frühstück? Das obligatorische »Rettchen«. Es war wirklich so, auch an diesem Morgen; Rauchen war wie ein stilles Übereinkommen, eine Geheimsprache, die signalisierte: Ich bin gelassen und bin so frei, so zu sein, wie ich bin.

„Brav macht ihr das; ihr verhaltet euch so, genau wie es sich die Zigarettenindustrie wünscht“, sagte Richy.

„Was wünscht die sich denn?“, fragte Rolf zurück.

„Na, genau solch eine Haltung, wie ihr sie an den Tag legt: Wir sind immer entspannt. Hippie happy. Uns regt nichts auf. Wir sind so cool. Wir sind die Cowboys, die ohne zu schwitzen die Rinder einfangen.“

Da hatte er Recht; diese Haltung wurde von der Tabakindustrie, wenn nicht initiiert, so doch kultiviert. Die Zigarettenwerbung verknüpfte Rauchen mit unbändiger Freiheit, mit Cowboys und Abenteuer. Ich, als geborener Nichtraucher, hatte mich oft einem rauchigen Gruppenzwang ausgesetzt gefühlt. Aber wie beim Saufen und Kiffen hatte ich heldenhaft widerstanden, einsam, aber zufrieden.

In unserer WG stand ich nun nicht mehr einsam auf verlorenem Posten, wenn sich alle anderen der Lässigkeit des qualmenden Abenteuers auslieferten. Raucher und Nichtraucher respektierten sich. Es gab keine Eklats, weil ausreichend gelüftet wurde und sich die Raucher an die Paragraphen an der Pinnwand hielten. Es tat niemandem einen Abbruch.

Beim Kiffen allerdings tat sich was. Die ausgestoßenen Inhalationsdünste schienen noch genug THC zu enthalten, um mich lockerer und wesentlich lustiger werden zu lassen, als die Direktkonsumenten selbst je wurden. Offenbar war ich sehr empfänglich für diese Gaben. Ohne wirklich Gras geraucht zu haben, war ich oftmals high bis über die Ohren.

In diesem Zustand führten wir grundsätzlich ernsthafte Grundsatzdiskussionen, die man nur bekifft-amüsiert überstehen konnte, darunter die bedeutendste Grundsatzfrage aller Zeiten: Was ist eigentlich unser Ziel?

Im Athener Grill saßen wir beisammen, Karin, Rosi, Tommi, Richy und ich. Rolf musste noch im Steuerbüro an einer Schummelbilanz für seinen stramm CDU-treuen Bürochef arbeiten. Auch unsere guten Kumpels und Solidaritätsverband-Helfer Andy, Britta und Ingo waren dabei. Alle hatten vorm Essen einen Joint gezogen, außer Karin, Richy und ich.

„Unsere Vision ist – ganz einfach gesagt – die freie Persönlichkeitsentfaltung, frei, das heißt ohne Fremdbestimmung“, sagte Karin nach dem zweiten Bier und schwadronierte weiter: „Ohne Manipulation durch die Presse der herrschenden Wirtschaftsmächtigen. Nicht der Profit, der Mensch muss im Mittelpunkt stehen!“

Rosi schaute aus ihren etwas roten Augen, was dem Gras geschuldet war, und fragte in ihrer leidenschaftslosen Naivität: „Und wo bleibt die Natur?“

Ihr Liebster streichelte ihr die Hand, die gerade nach dem Tsatsiki-Teller griff. „Die sorgt für sich selbst. Mach dir keine Sorgen, die regeneriert sich, ist doch intakt, was willst du mehr?“

Ich sah, wie Richy nach Luft schnappte und Tommi ins Visier nahm. „Die Luft ist verpestet bis dorthinaus. Wie soll die sich von selbst regenerieren?“

Rosi stocherte in ihrem Zaziki herum und fragte, ob da Knoblauch drin sei. Tommi meinte, er hätte gehört, drüben der Sozialismus könne noch nicht auf Industrie verzichten, während der Kapitalismus industriell und militärisch ununterbrochen aufrüste, das sei doch wohl logisch. Erst im Kommunismus sei die Industrie überflüssig – was natürlich nur seinem derzeit arg benebelten Kopf entsprang. Der sozialistische Braunkohlegeruch über Berlin habe ein besonderes Flair oder so. Und so verlief sich die Diskussion im griechischen Nirwana zwischen Feta aus dem Ofen, gebratenen Zucchini und leckerem Braunkohl-Düftchen; oder war es vielleicht doch das Düftchen des Kohlsüppchens? Auf dem kurzen Nachhauseweg sangen wir auf dem Kudamm in einheitlicher Geschlossenheit.

Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, so mit ihrem holden Duft, Duft, Duft, wo nur selten was verpufft, pufft, pufft, in dem Duft, Duft, Duft, dieser Luft, Luft, Luft!“

Weit vor uns an der Ecke Joachimstaler Straße – außer Konkurrenz von uns Neuberliner-Luftikussen –lieferten sich die Hare-Krishna-Jünger mit der Heilsarmee ihre eigene singende Präsenzschlacht: Wer war öfter präsent, wer sang lauter, wer konnte mehr Passanten zum Stehenbleiben und zum Nicht-schlecht-Staunen animieren?

*

Wir fühlten uns so schrecklich gut, so frei. Vorbei war es mit Mutters Sprüchen von wegen: „Was sollen denn die Nachbarn denken!“ Hier in der Millionenstadt kannte uns niemand; hier konnten wir alte Autoritäten lächerlich machen, ohne es unseren Alten umständlich erklären zu müssen. Wir waren unter uns und im Grundsatz einer Meinung, wenn es um die Modernisierung der Gesellschaft ging, sprich: um Demokratisierung.

Die begann mit radikaler Systemkritik und Verhohnepipelung überholter oder überstrapazierter Symbole und Verhaltensweisen. Letzteres hatte am besten Teufels Kommune 1 auf dem Schirm. Als der angeklagte Fritz Teufel vom Richter aufgefordert worden war, sich zu erheben, hatte er geantwortet: „Nun denn, wenn es der Wahrheitsfindung dient!“ Im grauen Gerichtssaal herrschte schallendes Gelächter. Der Richter schaute betreten drein. Und heute befand sich die Kommune, wie man hörte, in einer Krise oder sogar in Auflösung. Da würde ich mich demnächst, wenn ich mehr Zeit hätte, mal erkundigen.

Am Nachmittag rief Lollo an. „Wie geht es meinem Sohn? Wir haben lange nichts von dir gehört!“

„Stimmt nicht, Mama, ich habe erst vor zwei Wochen angerufen.“

„Ja schon. Aber du wolltest das darauf folgende Wochenende Bescheid sagen, wie es beruflich aussieht. Weil …“ Sie stockte.

„Weil ich vorhabe, als Berufsjournalist zu arbeiten, meinst du. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Ich muss mich erstmal neben meinem durchaus gut auskömmlichen Solidaritätsverbands-Engagement als Honorarjournalist bewähren; das ist halt so. Es gibt ja keine überbetriebliche Vollzeit-Ausbildung zum Journalisten, so mit Berufsschule oder gar mit Studium, was ja momentan sowieso nicht in Frage kommt, weil …“ Jetzt kam ich ins Stocken.

„Weil du kein Abitur hast“, ergänzte Lollo mehr traurig als vorwurfsvoll.

„Wer weiß, wie sich das alles entwickelt, mein Muttchen. Lass mir einfach noch Zeit. Ich krieg das alles hin.“

„Hauptsache du bist glücklich und verdienst dein eigenes Geld.“

„Und es dient einem guten Zweck!“, fügte ich selbstbewusst hinzu.

„Wer weiß!“, wandte sie ein. „Vielleicht verlängern eure Spenden an den Vietcong nur den Krieg.“

„Also Mutter!“, rief ich entrüstet in die Sprechmuschel. „Ganz sicher nicht! Unsere deutsche Regierung hilft den Amis, den Krieg aufrechtzuerhalten: Mit der Zwischenstationierung von Waffen und Soldaten, mit der Finanzierung all der damit zusammenhängenden immensen Kosten und so weiter.“

„Auch die Regierung von Willy Brandt?“, fragte Lollo ungläubig zurück.

„Auch die. Da hat sich leider nichts geändert. Es scheint so, als existierten da Geheimverträge, die unserer Regierung in bestimmten Dingen die Hände fesseln.“

Dann wurde mir plötzlich bewusst, dass es mitten am Tag war. „Lollo, weißt du, dass du zur teuersten Zeit anrufst. Jetzt kostet eine Minute 60 Pfennig, abends nur zwanzig. Ich rufe dich heute Abend zurück.“

„Aber mach das auch. Ich wollte dir noch einiges berichten.“

„Na klar. Ich rufe gegen 19:00 Uhr an.“

„Lieber eine halbe Stunde später; du weißt doch – Papa sieht da die Nachrichten im Zweiten. Und er will dich ja auch mal wieder an der Strippe haben.“

Was Otto wohl von mir wollte? Von seinen Sporterfolgen berichten? Oder dezent nachfragen, was ich sportlich so treibe? Oder ob ich es mir mit dem Abi nicht doch mal überlegen wolle?

Wenn wir vom Großeinkauf für die Wohngemeinschaft zurück waren, wuschen wir uns jetzt immer als erstes gründlich die Hände. Aus der BRD war eine heftige Grippewelle nach Westberlin importiert worden. Dadurch waren im Westen bereits mehr als zweitausend Menschen gestorben. Die epidemische Infektionskrankheit hatte sich seit Anfang des Jahres in Nord-, West- und Mitteleuropa ausgebreitet.

Was man so aus den USA hörte, da war immer wieder ein kleiner rassistischer Höhepunkt dabei. Denen da drüben sollte man die Köpfe und nicht nur die Hände waschen. Die Mormonen ließen keine Farbigen zum Dienst als Pfarrer zu. Um sich aber ja nicht eben jenem Verdacht des Rassismus auszusetzen, betonte ein Sprecher der 2,8 Millionen Mitglieder umfassenden Sekte, die Gründe der Farbigen-Ablehnung kenne allein Gott. Das liege leider nicht in ihrer Macht. „Es könnte jedoch sein“, mutmaßten die Mormonen, „dass Gott es später einmal zulässt, Neger in den Pfarrdienst zu berufen.“

Puh, dass Gott gegen solche Gotteslästerer und Menschenverächter nicht angemessen vorging! Es musste ja nicht gleich ein Blitz sein, der diese Rassisten traf. Aber vielleicht ein schönes Strafverfahren wegen Verletzung der amerikanischen Verfassung. Doch sowas war im Land des Ku-Klux-Klan wohl nicht möglich, weil die feinen weißen Stehkragen-Rassisten noch in allen Justizpalästen residierten.

Inzwischen gab es eine weitere Bereicherung des westdeutschen Zeitungsmarktes, denn in München ward ein unheiliges Blättchen geboren, Schwabing aktuell, eine frivol-glamouröse Sex-Zeitung. Ersten Ärger bekam das Blatt ausgerechnet mit den ansonsten gar nicht so prüden Brüdern aus der DDR. Am Kontrollpunkt Hirschberg wurde einem nach Westberlin fahrenden LKW nach siebenstündiger Wartezeit die Weiterfahrt durch die demokratische Republik von ihren Grenzbehörden verweigert, weil das Fahrzeug 20.000 Exemplare des Lustblattes geladen hatte. Motto der Ladung: „Nimm mich! Ich biete Dir alles: Liebe und Sex, Skandal und Affären einer jungen Weltstadt. Wir werden viel Spaß miteinander haben.“

Der Fahrer des gestoppten Sex-Transporters kehrte zum bayerischen Kontrollpunkt zurück, lud die Zeitungen zur Freude der westdeutschen Grenzer dort ab und durfte dann ungehindert die prüde Grenze der DDR-Brüder passieren.

„Natürlich kann ein junger sozialistischer Staat kein Interesse daran haben, dass seine Bürger mit westlichen Ablenkungsmanövern desorientiert werden!“, sagte Rolf, als Tommi, Beppo, Richy, Karin und ich nach einem Kinobesuch in der Altberliner Kneipe nebenan zusammensaßen.

„Du misst mit zweierlei Maß“, wandte Richy ein. „Für uns hier im Westen ist die sexuelle Revolution fester Bestandteil unserer politisch-kulturellen Emanzipation. Und im Osten willst du es verbieten, oder wie?“

„Die haben es gar nicht nötig, den kapitalistisch-sexuellen Ausbeutungsschmarrn in Form von pornografischen Blättchen zu importieren“, sagte Tommi. „Die sind da schon viel freier und machen einen auf FKK, wovon wir noch Jahre entfernt sind.“

Ich sah Tommi ein wenig verständnislos an. „Na, darum geht es aber doch auch gar nicht. Der Porno-Express wollte doch nur von A-West nach B-West. Das hätten die DDR-Behörden doch eher zwecks moralischer Destabilisierung des Westens fördern statt blockieren sollen.“

„Da täuschst du dich gewaltig. Die haben doch Angst, dass die heiße Ware irgendwo unterwegs abgeworfen und damit der ganze DDR-Sozialismus unterminiert wird“, sagte Rolf. „Die wollen eben keinen dekadenten Sozialismus.“

Wir mussten über den Begriff lachen.

„Was hättest du als LKW-Profi mit dem Zeug gemacht?“, fragte ich.

Die Frage war an Beppo gerichtet. Beppo kippte erstmal sein Kölsch. Dann sagte er glucksend: „Ich wäre doch nicht so doof gewesen, die Ladung für nix oder für DDR-Geld – also so gut wie nix – auf ‘nem Rastplatz bei ‘nem Intershop zu verhökern. Ich hätte dem Auftraggeber die Hälfte als abhandengekommen gemeldet und hätte sie unter der Hand selbst verkloppt. Jeder LKW-Kollege und Taxifahrer hätte mir auf Anhieb mindestens zwanzig Exemplare zum Weiterverkauf abgenommen.“

„Das ist durch und durch kapitalistische Denke“, bekam Beppo von Tommi zu hören. „Beschubsen, bescheißen, tricksen. Kleptomanische Deals machen und noch stolz darauf sein, die anderen über den Tisch gezogen zu haben. Bis man aus dir einen neuen sozialistischen Mensch gemacht hat, sind Marx und Engels längst wieder auferstanden, diesmal vielleicht als Buddhas Nachfolger.“

„Und auch Lenin ist dann schon längst wiederauferstanden!“, warf Rolf ein.

„Und Stalin!“, ergänzte Karin. Sie stand auf Stalin, weil er neben Lenin zwischen 1918 und 1920 so standhaft den Kommunismus in der Sowjetunion gegen den „weißen Terror“, die Allianz der westlichen Terrorbanden, verteidigt hatte. Und natürlich, weil sich der Große Vorsitzende Mao auf ihn berief.

„Wir wollen jetzt aber bitte nicht über den Scheiß-Stalin diskutieren; dann ist für mich nämlich der schöne Filmabend gelaufen!“, sagte Rolf.

„Aber …“, setzte Karin an.

„Kein Aber!“, unterbrach sie Rolf. „Lass uns lieber über das neue sozialistische Menschenbild sprechen, in das Beppo nicht reinpasst, wenn es nach Tommi geht.“

„Ja, wo ist er denn, der neue sozialistische Mensch?“, fragte Karin. „Wenn ich mir das DDR-Fernsehen schaue, sehe ich weit und breit keinen neuen sozialistischen Menschen. Die sehen alle gleich spießig aus. Ein Sozialismus der Kleinbürger.“

„Ach, und in China sehen sie alle noch gleicher aus, nämlich uniformiert – und das ist dann der neue Mensch?“

„Das ist eine unproduktive Debatte“, sagte ich. „Denkt doch mal in historischen Zeiträumen, in Zeiträumen, die gar nicht mal so weit hinter uns liegen. Nur siebzig Jahre vor uns gab’s noch den Kaiser samt Kaiserkult. Dann wurde das Kaiserreich mit Ende des Ersten Weltkrieges 1918 hinweggefegt.“

Ich sah, wie die Freunde ins Grübeln kamen – historisch gesehen war die Zeitspanne echt nicht lange, ein Fingerschnips.

Dann fuhr ich fort: „Nach den Zwanziger Jahren kam schon das 1000jährige Zwölfjahresreich samt Zweitem Weltkrieg und Führerkult. Die im Kaiserreich groß gewordene Generation ist heute siebzig Jahre alt und hat das Verhalten der Kaisertreuen von anno dazumal noch verinnerlicht. Deren Kinder sind Mitte Vierzig. Die Nachkriegs- und Hungergenerationen des Ersten und Zweiten Weltkrieges waren noch von ehemals Kaiser- und Führergetreuen durchsetzt. Wo soll da plötzlich der neue sozialistische Mensch herangewachsen sein? Alles illusionärer Schmarrn!“

*

Am Abend rief ich meine Eltern an. Lollo schwärmte mir von ihrem neuen Hobby, der Gobelin-Stickerei, vor. Von Spitzweg hatte sie das Motiv Der Bücherwurm gestickt; von Rembrandt Der Mann mit dem Goldhelm und von Menzel Die Tafelrunde von Sanssouci.

„Und was machst du damit?“

„Die werden auf Hartkarton aufgespannt, kriegen einen hübschen Goldrahmen und werden zu Ostern verschenkt. Du darfst dir jetzt schon ein Motiv wünschen.“

„Vielen Dank, Mama, aber das überlasse ich dir.“

Insgeheim dachte ich: Wo soll ich dieses antiquierte Ding – egal was es sein wird – bloß hinhängen? Neben die Monroe? Neben Che Guevara oder gar neben Ho Chi Minh? Vielleicht neben das Casablanca-Filmplakat? Oder würde ich es übers Herz bringen, Lollos Stickbild verpackt zu lassen, im Keller zu deponieren und nur aufzuhängen, wenn meine Eltern zu Besuch kämen?

Dann las mir Lollo noch mein Tageshoroskop vor, bevor sie mich an Otto weiterreichte. „Also, für die männliche Jungfrau steht heute in der Rundschau folgendes: »Seien Sie mutig und packen Sie das an, was Sie in der Vergangenheit zu umgehen versuchten. Am Abend dürfen Sie sich fallen lassen. Am besten natürlich in die Arme Ihrer Partnerin.« Klingt das nicht romantisch?“

„Der letzte Satz gewiss. Aber der erste?“

„Da will das Schicksal, dass du das Abi nachholst.“

„Och Mama, bitte nicht immer dieselbe Platte mit dem Sprung.“

Dann kam mein Vater ran und ließ die Platte weiterlaufen: „Deine Mutter macht sich halt Sorgen über dein zukünftiges Leben. Du kannst doch nicht ein Lebtag lang Lumpensammler sein!“

Der Begriff Lumpensammler ging mir direkt unter die Haut, von dort durchs Herz und hinten als Schreckfurz wieder raus. „Ich bin kein Lumpensammler!“, rief ich empört in die Sprechmuschel.

Karin gab mir ein Handzeichen, ich solle ruhig bleiben.

Ich schaltete einen Ton leiser. „Ich sammle Kleider, die sortiert und zur weiteren Verwendung in die Dritte Welt verschickt werden. Das ist umweltschonendes Recycling, bringt viel Geld ein, das dazu beiträgt, einem Volk zu bescheidener medizinischer Versorgung zu verhelfen, das seit Jahrzehnten unter einem grausamen Krieg leidet, den unsere Verbündeten Frankreich und die Vereinigten Staaten dort völkerrechtswidrig angezettelt haben und bis heute führen.“

„Ja, ja, ich weiß“, sagte Vater, „aber ändert das was an der Tatsache, dass du irgendwann mal einen vernünftigen Beruf brauchst? Ein wenig Karrierebewusstsein wäre da schon angebracht.“

Es war immer dieselbe Leier. Doch sie verfehlte offenbar ihre Wirkung nicht, denn immer öfter diskutierten Karin und ich über unsere berufliche Zukunft. Sie wollte entweder Berufsrevolutionärin oder Lehrerin werden. Als ich sie kennen lernte, da war sie gerade siebzehn geworden, da wollte sie noch Gogo-Girl werden und im Käfig in einer Disco tanzen. So änderten sich die Berufswünsche.

Wilde Zeiten - 1970 etc.

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