Читать книгу Der Dozent - Stefan Meier - Страница 10
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„Wie sind Sie–, entschuldige, wie bist du an diese Stelle gekommen, wenn ich fragen darf?“, hakte Natalie nach.
„Ich habe vor einem Jahr meinen Master an einer Universität in Rheinland-Pfalz gemacht. In meiner Familie gibt es nur Akademiker und weil ich den Forschungsdrang meines Vaters, eines Oberarztes in der Strahlentherapie, geerbt habe, möchte ich nun den Doktor draufsetzen“, antwortete der sympathische, junge Mann mit ruhiger Stimme und lehnte sich zurück. „Ich habe mich auf mehrere Stellen beworben. Professor Fischer-Martinsen hat mich anschließend auf ein Bewerbungsgespräch eingeladen und seit letzten Semester bin ich hier.“ „Der Professor Fischer-Martinsen aus der Germanistik? Dann sind Sie…, tut mir leid, dann bist du kein Mediziner, sondern –“
„… Sprachwissenschaftler, genau. Mediziner gibt es in der Familie genug und Blut kann ich sowieso nicht sehen“, schmunzelte er.
„Interessant, dann hast du deinen Abschluss auch in Germanistik gemacht?“
„… und Anglistik, ja. Ich interessiere mich sehr für die Sprachentwicklung über die Jahrhunderte hinweg. Die Herkunft von Wörtern, Redewendungen und solche Sachen. Aber genug von mir. Was ist deine Geschichte?“
„Oh, wo soll ich beginnen? Ich studiere Geografie und Germanistik auf Lehramt und bin gerade im vierten Semester. Bachelor, natürlich, also habe ich nicht mal die Hälfte des Studiums hinter mir. Aber es macht Spaß! Vor allem, wenn wir für die Praktika in die Schule müssen. Mit Kindern zu arbeiten ist super! Einige sind richtige Nervensägen, aber die meisten find ich richtig klasse“, lachte sie und streichelte sich verlegen über den Handrücken.
„Was machst du am liebsten in den Praktika?“
„Ich habe gerne selbst Unterricht gegeben, anstatt von hinten zuzuschauen. Meine Mentorin überließ mir viel Verantwortung. In der zweiten Klasse haben wir die Namen verschiedener Kleidungsstücke besprochen und die Kinder mussten erzählen, wie jedes Stück hieß und zu welchem Anlass man es tragen konnte. Ein Kleid zum Tanzen, eine Daunenjacke im kalten Winter, Stiefel zum Wandern und so weiter … Dann fragte meine Mentorin zu welchem traurigen Anlass man sich komplett Schwarz anziehen würde, weil sie am Tag darauf zu einer Beerdigung musste, und ein Kind meldete sich schnell und sagte ‚Zu einem Date!‘ und war so überzeugt von seiner Antwort.“ Die beiden mussten lautstark lachen. Antworten von Kindern konnten so herrlich sein.
„Tut mir leid, ich habe ganz vergessen zu fragen. Wie ist dein Name?“
„Ich heiße Natalie Wagner.“
„Max Schmidt, freut mich sehr.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich finde es immer höflicher, Leute direkt mit ihrem Namen anzusprechen.“
„Ich auch, aber ich wollte einen Dozenten nicht nach seinem Namen fragen“, gestand sie.
„In der Mittagspause von zwölf bis zwei Uhr bin ich auch nur ein ganz normaler Mensch. Ab zwei Uhr kann ich ruhig wieder Herr Schmidt sein.“ Er lächelte und Natalie konnte wieder die Ansätze von Krähenfüßen um seine Augen erkennen, die ihm Sympathie verliehen.
Sie aßen den Seelachs mit Salzkartoffeln und unterhielten sich über das Studentenleben, über gute Restaurants in der Umgebung, und weil Herr Schmidt seinen ersten Sommer in Norddeutschland verbrachte, wollte er Reisetipps von Natalie haben. Sie empfahl ihm den Gerndarmenpfad an der dänischen Grenze. Ein circa siebzig Kilometer langer Pfad, der früher von den Dänen genutzt worden war, um die Schifffahrt zwischen Dänemark und Deutschland zu überwachen. Der Pfad führte abwechselnd an der Küste, kleinen Wäldern und idyllischen Dörfern vorbei und verlief etwa von der Bundesgrenze an der Flensburger Förde bis hinter die dänische Stadt Sønderborg. An einigen Stellen war es ein wenig holprig und eng mit dem Fahrrad, aber für Natalie war es ein Geheimtipp und immer ein kleines Abenteuer, neue Abschnitte des Pfades zu erkunden. Andere Tipps umfassten das Schloss und den Strand bei Glückburg, die Nordseeinsel Föhr und den riesigen Hochseilgarten in der Nähe von Eckernförde.
„Da habe ich einiges auf meiner Liste, vielen Dank!“
„Immer gerne. Der Gerndarmenpfad ist wirklich schön. Ich bin ihn noch nicht komplett gefahren, aber bereits die ersten zehn Kilometer kann ich wärmstens empfehlen.“
„Ist notiert!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger zwei Mal leicht auf die Schläfe. „So, ich muss leider los. Gleich gebe ich einen Kurs und ich habe noch ein bisschen vorzubereiten. Es hat mich auf jeden Fall gefreut und vielen Dank für die Empfehlungen!“ Er nahm sein Tablett und schob mit dem Fuß seinen Stuhl an den Tisch.
„Danke, mich auch! Wann soll ich Ihnen das Geld vorbeibringen? Wo ist ihr Büro?“
„Erstens, es ist immer noch Mittagspause, also bitte nicht siezen“, grinste er und sie lächelte verlegen. „Und zweitens habe ich dich eingeladen. Das zählt für meine gute Tat für den Tag, aber bevor der Tag vorbei ist, musst du irgendjemandem auch etwas Gutes tun.“ Er drehte sich um, stellte sein Tablett auf die Ablage und verließ die Mensa.
Eine tolle Einstellung … Sie blickte ihm nach. Es war nun kurz vor eins und in einer Stunde würde sie wieder zu einer neuen Veranstaltung müssen. Sie räumte ebenfalls den Tisch ab und verließ die Mensa.
Der Regen hatte endlich nachgelassen und vereinzelt mühten sich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Tages durch die dichte Wolkendecke. Sie schulterte ihre Umhängetasche und ging den Weg herunter zur Bibliothek. Vor dem Gebäude bog sie nach links ab, an der Sporthalle vorbei und machte sich auf den Weg zum Teich dahinter, ihrem Lieblingsplatz auf dem Campus.
Durch seine Entfernung zu den restlichen Gebäuden der Hochschule war es hier ruhig. Ab und an gingen Menschen mit ihren Hunden spazieren oder Radfahrer fuhren über die kleine Metallbrücke, die über den Teich führte. Sobald das Vorderrad eines Fahrrads auf die Brücke aufsetzte, konnte man ein leises dumpfes Geräusch hören. Ebenso beim Hinterrad, wenn das Fahrrad die Brücke wieder verließ. Klong, klong … klong, klong. Im Sommer herrschte sehr viel Leben auf dem Teich. Die Laubfrösche laichten und das Quaken war unvorstellbar laut. Stockenten, Schwäne und Gänse schwammen mit ihrem Nachwuchs auf dem Wasser und fauchten einander an, wenn sie in das Territorium des anderen eindrangen. Zwar waren die Stockenten den anderen körperlich unterlegen, was aber nicht bedeutete, dass sie es nicht dennoch versuchen würden. Allerdings war es gerade einmal Ende März und weder waren Frösche zu hören noch ließen sich Jungtiere erspähen. Sie musste wohl oder übel noch ein paar Wochen warten.
Sie stellte die Tasche auf der Metallbrücke ab, lehnte sich auf das Geländer und blickte ins Wasser. Der Grund des Teichs und einige Wasserpflanzen waren zu erkennen. Ab und an schwamm ein kleiner Fisch vorbei, aber mehr passierte nicht. Die Bäume, die um den Teich wuchsen, versperrten den Blick auf die Gebäude der Hochschule, dadurch fühlte man sich hier wie in einer kleinen grünen Oase. Nur die Geräusche der nahen Bundesstraße erinnerten daran, dass man sich in einer Stadt befand, obwohl der Campus unheimlich viele Grünflächen bot. Sie drehte sich um, lehnte sich nun mit dem Rücken gegen das Geländer, kramte in ihrer Tasche herum und suchte ihren Stundenplan. Zwischen dem Collegeblock, dem Federmäppchen und der Packung Taschentücher fand sie ihre blaue Mensakarte. Toll … na endlich! Sie entfaltete ihren Stundenplan. Nächste Veranstaltung:
Sprachentwicklung
Montag
14 – 16 Uhr
Hauptgebäude Raum 236
Dozent: Schmidt
Schmidt! Ein witziger Zufall?