Читать книгу Der Dozent - Stefan Meier - Страница 7
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Der Raum war karg eingerichtet. Außer einer Gefriertruhe, einem rostigen Wasserhahn samt Plastikwanne, einem Ledersessel in der Mitte des Raums und alten Werkzeugen sowie Seilen an der Wand war der Raum komplett leer. Er wirkte durch seine Größe noch viel leerer. Etwa acht Meter in der Länge und vier Meter in der Breite. Wenn überhaupt. Die Wände und der Boden waren aus Beton, eine Tür an der kurzen Seite neben der Gefriertruhe war der einzige Ein- und Ausgang. Das Dach bestand aus Wellblech, welches von schmalen, aber robusten Doppel-T-Trägern getragen wurde. Ein Fenster gab es nicht. Die einzigen Lichtquellen waren zwei Glühbirnen, die nackt von der Decke hingen. Eine flackerte zudem leicht. Feine, aufgewirbelte Schmutzpartikel schwebten durch die Luft und brachen die Lichtstrahlen, sodass der Raum heller erschien.
Das Licht offenbarte zwei Schattengestalten, die sich ebenfalls im Raum befanden. Der eine Schatten saß starr auf dem Sessel in der Mitte und blickte hoch zu dem wesentlich größeren Schatten, der wiederum mit gesenktem Haupt den kleineren Schatten anzuschauen schien. Eine unheimliche Stille lag in der Luft, nur durchbrochen von dem sanften Brummen der Gefriertruhe und dem leisen Pling der flackernden Glühbirne. In dieser Atmosphäre hätte man bekanntlich die Stecknadel fallen hören. Die Zeit verging, aber wie viele Sekunden, Minuten oder gar Stunden vergangen waren, seitdem Juliane aus dem Kofferraum geschleppt wurde, wusste niemand. Die eine nicht, weil sie nicht konnte, der andere nicht, weil er nicht wollte.
Er saß im Sessel und wartete darauf, dass sie endlich aufwachen würde. Damit die Dinge ihren Lauf nehmen konnten. Sein Blick schweifte im Raum umher. Eine wunderbare Umgebung. Ruhig, abgelegen, robust – einfach perfekt für sein Vorhaben. Alles, was er brauchte, war bereits vor Ort. Einfacher ging es nicht. Er tippte abwechselnd mit Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf die Armlehne des Ledersessels. Nicht aus Ungeduld, denn die Nacht war noch lang genug, sondern zum reinen Zeitvertrieb. Die Maske störte ein wenig beim Atmen, aber daran hatte er sich bereits gewöhnt. Ebenso an die wuchtigen Lederhandschuhe und sein komplett schwarzes Outfit. Eine zweite Identität sozusagen. Wie Peter Parker und Spider-Man oder Superman und Clark Kent. Er und sein schwarzes Outfit. Nur einen Namen hatte er dafür nicht, denn das wäre absurd. Sein Blick fiel auf den Boden und er bemerkte ein kleines Rinnsal, das in Richtung des Sessels floss. Es hatte also begonnen … Just in diesem Moment sah er, dass der zweite Schatten leicht zuckte. Sie wurde also wach. Endlich.
Juliane stand in aufrechter Pose etwa zwei Meter vom Sessel entfernt, als sie langsam wieder zu Bewusstsein kam. Der Kopf hing schlaff herab und ihr Blick war noch unscharf. Sie nahm verschwommen die Kanten des Raumes, die beiden Glühbirnen, den Sessel und die restlichen Objekte wahr. Sie realisierte, dass auf dem Sessel jemand saß, doch im Moment waren das zu viele Informationen, um sie richtig zu verarbeiten. Benommen kreisten ihre Blicke umher. Vom Sessel zur ersten Glühbirne, von der ersten Glühbirne zur Gefriertruhe, von der Gefriertruhe zur Tür, von der Tür zum Sessel und … dem Mann! Auf einmal drehten sich die Bilder in ihrem Kopf rasant und sie durchlebte erneut die Ereignisse der letzten Stunden. Fußgängerzone, Kirche, Schleichweg, Überfall, Kofferraum … hier … Der Herzschlag dröhnte in ihren Ohren …
Aber irgendetwas wirkte surreal, verzerrt. Wieso ist der Mann so klein? Wieso bin ich so weit vom Boden entfernt? Dann neigte sie ihren Kopf weiter nach unten und bemerkte, dass sie auf einer Art Holzpodest stand und sich darunter eine Pfütze angesammelt hatte. Wo kommt das Wasser her? Ihre Daumen waren noch immer hinter dem Rücken zusammengebunden. Sie bemerkte zudem etwas Hartes, das an Hände, Gesäß und ihren ganzen Rücken drückte. Ein Pfahl oder ein Rohr musste es sein, als sie mit ihren Fingern entlangfuhr. Sie ruckelte mit den Schultern und Beinen und nach einem weiteren Kopfdrehen musste sie sich eingestehen, dass sie auch an diesen Stellen angebunden war. Außerdem spürte sie eine Last auf ihren schmalen Schultern. Keine metaphorische Last, sondern eine reelle, die sie zwar nicht in Richtung des Bodens drückte, aber auf Dauer ein unangenehmes Gewicht hatte. Wieder drehte sie ihren Kopf und merkte, dass auf ihren Schultern ein weiteres Seil lag. Rundherum um ihren Hals, angebunden am Träger an der Decke – eine Schlinge! Der Schreck fuhr ihr eiskalt durch die Glieder. Dann verspürte sie eine heiße Wut in sich aufsteigen.
„Warum tust du mir sowas an?“, schrie sie ihn zornig aus ganzer Seele an. „Was habe ich dir getan? Warum tust du sowas?“ Der Mann im Sessel gab keine Regung von sich – noch nicht. Könnte es sein, dass … er …?
Sie war mit der Situation überfordert. Wie wacht man morgens im eigenen Bett auf und landet nachts in einem kalten Betongrab, angebunden an ein Rohr, auf einem Holzpodest stehend mit einer Schlinge um den Hals? Diese Welt ist ein schlechter Scherz. Aber nun hatte sie endlich Luft und die Möglichkeit zu reden, nein, zu schreien. Sonst hatte sie sich aus jeder Affäre ziehen können. Vielleicht auch hier? Nein, absurd. Niemand, der so weit gegangen war, würde sie jetzt noch gehen lassen. Oder doch? Fragen über Fragen wirbelten in ihrem vernebelten Verstand umher.
„Bitte! Lass mich einfach gehen … Ich werde niemandem etwas erzählen. Lass mich gehen. Was kann ich schon sagen? Ich kenne nicht einmal dein Gesicht.“ Die Stimme war nicht mehr mit Wut erfüllt, sondern hatte einen demütigen, gar flehenden Tonfall angenommen.
Der Mann stand plötzlich auf und ihr Herz machte einen Sprung. Lässt er mich nun gehen? Wirklich? Er ging in kleinen Schritten auf sie zu, den Blick starr auf sie gerichtet. Noch immer spürte sie, dass seine Augen sie durchbohrten. Aber welche Art von Blick es war, wusste sie nicht. Verachtend? Mitleidig? Hasserfüllt? Hilflos? Er ging in einem langsamen Tempo einmal um sie herum und musterte sie von allen Seiten. Dann zögerte er einem Moment und sah sich um. Sein Blick fiel auf die Werkzeuge an der Wand. Julianes Gedanken kreisten wild umher und in diesem Moment spielten sich hunderte Szenarien in ihrem Kopf ab, wie diese Begegnung ausgehen könnte. Die eine Hälfte mit einem Happy Ending, indem der Mann die Maske abnahm und es sich um einen ihrer Freunde handelte, der ihr einen unglaublich schlechten Halloween-Streich gespielt hatte und die andere Hälfte, in der sie … – sie schluckte.
Der Mann ging zu den Werkzeugen und begutachtete sie ausgiebig. Schließlich griff er zu einem rostigen Messer und machte sich auf den Weg zu ihr. Wieder schossen ihr wilde Gedanken durch den Kopf. Er ging hinter sie und sie spürte, dass er niederkniete. Auf einmal spürte sie kaltes Metall an der Achillessehne, gefolgt von einem schnellen Schnitt … Das Seil war ab – tatsächlich! Dann richtete der Mann sich auf und entfernte mit einem schnellen Schnitt auch das Seil um die Schultern. Endlich! Nur noch das Kabel um die Daumen …
„Danke“, krächzte sie mit leiser Stimme und schmeckte das angetrocknete Blut in ihren Mundwinkeln. „Ich werde niemanden erzählen, was hie –“. Sie würde abgewürgt, denn der Mann ließ das Messer auf den Boden fallen und zog die Schlinge um ihren Hals fest. In einer übergehenden Bewegung entfernte er das Metallrohr, an das sie festgebunden war, und legte es vorsichtig zur Seite. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, aber sie konnte sich im letzten Moment noch fangen. Wieso hatte sie eine Schlinge um den Hals, wenn sie auf dem Podest einen so festen Stand hatte? Wenn er sie erhängen wollte, wieso war die Schlinge nicht auf Spannung? Oh nein, zieht er nun das Podest weg?! „Nein, bitte hör auf!“, schrie sie wieder. Diesmal war aber kein Funken von Zorn zu spüren, sondern reine Hilfslosigkeit. „Lass es … ich will nicht sterben!“ Heiße Tränen rannen über Julianes Gesicht.
Der Mann stellte sich vor ihr und blickte sie an. Emotionslos. Nicht dass man etwas unter der Maske erkennen konnte, selbst seine Körperhaltung war ein reines Mysterium. Er stand da und schaute sie an, starrte. Ohne etwas zu tun. Kein Wort, keine Geste. Ihr Mund war trocken und sie begann zu husten. Der Schweiß lief nicht nur am Rücken, sondern an allen Stellen kalt herunter. „Bitte, nicht das Podest …“, krächzte sie. Der Mann kniete sich hin und zog das Holz unter ihren nackten Füßen weg. „Ah, nein …, nicht!“, rief sie und schloss die Augen. Das war’s!
Juliane erwartete schon, dass ihr die Luft abgeschnürt wurde, aber sie stand noch, die Schlinge schlaff um ihren Hals. Sie öffnete ihre Augen und blickte hinab auf ihre Füße. Kälte kroch ihre Beine hinauf. Sie stand noch – auf Eis!
Es war kein Podest gewesen. Es war nur eine dünne Holzplatte, die auf dem Eisblock gelegen hatte. Was? Warum? Eis? Dann realisierte sie, dass das angesammelte Wasser darunter vom Eis stammte und die nächste Erkenntnis schlug ihr hart ins Gesicht. Die Schlinge ist NOCH nicht auf Spannung. NOCH NICHT! Das Eis schmilzt und irgendwann … irgendwann ist sie es. „Du krankes, perverses Arschloch …! Damit kommst du niemals durch …!“, brüllte sie und die Hoffnungslosigkeit hatte sich in rasende Wut verwandelt. Der Mann stand auf und sah sie an. War es Furcht? Nein. Eher die Faszination, dass jemand in dieser Situation noch den Mut hatte, ihren Entführer und Peiniger anzuschreien. Schließlich hing ihr Leben am seidenen Faden … oder am alten Seil, wenn man die Situation genau nahm. „Hör damit auf, du Schwein! Man sucht sicher schon nach mir! Man wird dich kriegen!“
Ja, irgendwann wird man ihn sicher kriegen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ihr wird es auch nicht mehr helfen. Unbeeindruckt ging er wieder in Richtung Sessel, drehte sich langsam um und nahm gemütlich Platz. Gegenüber tobte Juliane auf dem Eisblock und war bemüht, ihr Gleichgewicht zu halten. Der Mann griff in seine Tasche, holte einen MP3-Player heraus, fädelte die Kopfhörer auseinander und steckte sich diese in die Ohren. Einen Moment war er darauf fixiert, sein Gerät anzuschalten und die richtige Musik für diesen besonderen Moment auszuwählen – Kanon in D von Johann Pachelbel. Auf Dauerschleife. Die sanfte, idyllische Melodie ertönte und seine volle Aufmerksamkeit widmete er nun wieder Juliane. Voll und ganz, ohne weitere Ablenkungen.
***
Die Zeit verging und der Eisblock schmolz langsam. Ihre Füße fingen mittlerweile vor Kälte an zu brennen. Die Körperwärme ihrer nackten Füße wärmte die Oberfläche des Eises und das entstandene Wasser ließ den Eisblock rutschig werden. Sie war hochkonzentriert, um das Gleichgewicht zu halten, sonst würde sie …, aber was wäre die Alternative? Einige Zeit lang hatte sie ihn noch angeschrien, aber er hatte kein Wort gehört. Mit den Kopfhörern im Ohr lebte er gerade in einer eigenen Welt … in seiner Welt. Er saß auf dem Sessel, genoss die Musik und schaute ihr zu.
Juliane war physisch und psychisch am Ende. Wieso? Wieso ich? Grausam! Warum? Ihre Knie waren mittlerweile weich wie Butter, der ganze Körper zitterte und durch die Kälte spürte sie ihre Zehen nicht mehr. Jede Minute zog sich der Strick ein klein wenig enger und bald würde es soweit sein und das Unvermeidbare würde passieren. Alternativen sah sie keine. Sie schloss ihre Augen und ließ sich nach vorne fallen.
Der Eisblock rutschte nach hinten weg, die Schlinge zog sich ruckartig fest und Juliane baumelte haltlos in der Luft. Die Beine zuckten unnatürlich, unkontrolliert und wild im Todestanz. Die Zunge versuchte, sich aus der Mundhöhle zu drücken, ihre Augen quollen hervor. Fast eine Minute lang dauerte Julianes Todeskampf, dann ließen die gurgelnden Geräusche nach, und der nun leblose Körper schwang fast schon sanft in kreisförmigen Bewegungen. Der Mann hatte sich währenddessen kein einziges Mal bewegt. Er wartete, bis der Körper zum Stillstand gekommen war, dann richtete er sich auf. Er nahm die Kopfhörer aus den Ohren, rollte sorgfältig das Kabel zusammen und schaltete den MP3-Player aus.