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Das erste Opfer

Kommissar Olaf Weber hielt ein Baguette-Brötchen in der Hand, belegt mit reichlich Ziegenkäse und frischem Salat. Er hatte das in Plastikfolie eingeschlagene Brötchen beim türkischen Bäcker vor seiner Haustür gekauft, zusammen mit einem starken Kaffee.

Weber wunderte sich immer wieder, wie liebevoll und reichlich die Brötchen bei Mohammad belegt waren. Es gab verschiedene Salatblätter, eingelegte Gurken und frische sowie getrocknete, zum Teil angeröstete Tomaten neben einer unglaublichen Sandwichsoße und frischer Petersilie – manchmal etwas Koriander, Dill oder Chili. Mohammad hatte es drauf.

Kommissar Weber wagte es einmal, ihn zu fragen, was denn genau in der Sandwichsoße drin sei. Mohammad entschied sich, entgegen jeglichen Deklarierungspflichten und Lebensmittelvorschriften nur verschwörerisch zu lächeln. Er gab zur Antwort: »Ist altes Geheimrezept.«

Olaf Weber nahm diese Auskunft mit Gottvertrauen hin, denn die Dinger schmeckten wirklich zu gut. Insbesondere für einen Single in fortgeschrittenem Alter wie Weber, der am Morgen nie die Zeit hatte, Brote zu schmieren. Manchmal stellte er sich vor, Mohammad würde im Keller die ganze Familie mit der geheimen Produktion der Sandwichsoße und der Brötchen beschäftigen.

Olaf Weber wusste all das nicht genau und es war ihm auch relativ egal, solange mit Mohammad vor seiner Haustür der Sandwich-Himmel orientalischen Einschlags anfing.

Im Volkspark war es kühl an diesem Morgen. Kommissar Weber stand bedächtig kauend neben diesem toten alten Herrn, der abseits des Feldwegs auf dem Rücken lag. Die Meldung zum Fall war um acht Uhr bei ihm eingetroffen und Weber war umgehend die kurze Strecke in den Volkspark mit dem Dienstwagen gefahren, nachdem er das leckere Frühstück auf dem Beifahrersitz abgelegt und den Kaffee in der angeklebten, galvanisch aufgehängten Plastikhalterung sicher befestigt hatte.

»Was haben wir denn hier?«, schmatzte Weber seinen Kollegen von der Seite an.

Kollege Paul Renner antwortete routiniert:

»Kurt Schmilinsky, wohnte in Winterhude, er ist achtundsiebzig Jahre und jetzt tot. Er scheint einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben, jedenfalls sagt uns das sein Veilchen am rechten Auge. Der Mann ist anscheinend rücklings auf einen spitzen Stein gefallen, den haben wir auf dem Wanderweg da vorne gefunden. Blutspuren und Wunde passen zusammen. Der Gerichtsmediziner tippt als Todesursache aber auf einen Herzinfarkt. Die Gewalteinwirkung zusammen mit der Kopfverletzung war wohl noch nicht der Todesauslöser. Der Angreifer hat das Opfer bewegt, während es noch am Leben war. Aber Genaueres gibt es erst nach der Obduktion, sagen die Jungs von der Gerichtsmedizin.«

Kommissar Weber hatte das Brötchen verdrückt und schaute sich um.

»Warum hat der Täter ihn hier an der Seite abgelegt? Und wo sind seine Schuhe?«

»Die haben wir im Gebüsch gefunden«, erwiderte Kollege Renner wie aus der Pistole geschossen.

Weber wischte sich den Mund ab, beugte sich über das Opfer und musterte das alte Gesicht. Dann fiel ihm ein Schmutzfleck auf der Wange auf.

»Was ist denn das da im Gesicht?«

Renner schaute ebenfalls auf das Gesicht des Opfers und sagte nachdenklich:

»Hm, er wurde durch die Gegend geschleift. Dabei ist er wohl schmutzig geworden.«

Weber schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, das ist doch ein M.«

Renner schaute jetzt genauer hin.

»Ich weiß nicht, mit viel Fantasie vielleicht.«

Kommissar Weber schaute noch genauer hin und bemerkte einen Tabakkrümel auf der Lippe. Er fasste dem Opfer mit seinem Latexhandschuh ins Gesicht und öffnete ein wenig dessen Mund.

»Und was haben wir hier? Der Mann hat einen Zigarettenstummel im Mund.«

»Ups«, sagte Renner. »Das haben wir anscheinend übersehen. Na ja, wäre spätestens bei der Obduktion bemerkt worden.«

»Hol das Ding da raus und lass es auf DNA-Spuren untersuchen. Den Stummel hat er sich doch wohl nicht selbst in den Mund gesteckt«, raunzte Kommissar Weber, als ihm eine junge Frau mit Hund auffiel, die nervös am Wegesrand stand.

Er stand auf und näherte sich der Frau.

»Und Sie sind?«

Renner kam der Frau zuvor und sagte:

»Die junge Frau hat die Leiche heute Morgen beim Spaziergang gefunden.«

»Ach ja?«, sagte Weber und schaute die Frau durchdringend an.

»Und Sie sind auch die Täterin, oder Ihr Hund? Sagen Sie bitte ja, dann können wir den Fall schließen und ich habe nicht so unendlich viel Schreibkram.«

Die Frau machte große Augen.

»Um Gottes willen, nein, ich habe den armen Mann gefunden oder, besser gesagt, mein Hund hat ihn dort drüben gefunden.«

Weber lächelte und schaute auf die Pudeldame hinab.

»Sie müssen sich schon entscheiden, wer ihn gefunden hat. Aber keine Panik, das war gerade eben ein alter Polizisten-Scherz. Haben Sie jemanden in der Nähe der Leiche gesehen?«

»Nein, niemanden«, gab die Frau humorlos zurück.

»Ich denke, die Kollegen haben Ihre Personalien. Dann können Sie jetzt nach Hause oder Stöckchen werfen gehen. Danke für Ihre Mitarbeit.«

Die junge Frau drehte sich um und meinte kurz:

»Komm Dolly, wir gehen.«

Kollege Renner musste lachen.

»Olaf. Du hast heute schon wieder einen Clown verschluckt. Spar dir das für die Comedy-Bühne auf.«

Kommissar Olaf Webers Hobby war bei der gesamten Hamburger Polizei bekannt. Fast jede Woche stand er auf einer der Hamburger Kleinkunstbühnen und nahm an Comedy-Slam-Veranstaltungen teil. Er hatte kein festes Programm, sondern erzählte einfach nur über ein Thema, das ihn gerade beschäftigte oder ihm spontan einfiel. Er hatte Klassiker, aber oftmals legte er einfach nur drauflos.

»Heute Abend bin ich im Pink Punker. Komm doch zusammen mit Susanne vorbei.«

Renner winkte ab.

»Geht nicht. Ich bin mit Susanne zu einer goldenen Hochzeit eingeladen. Aber das nächste Mal bestimmt.«

Kommissar Weber machte ein zerknirschtes Gesicht.

»Na gut, dann viel Spaß bei Schneewalzer, Likörchen und Käsekuchen. Es sei denn, der alte Knabe hier war zufälligerweise der goldene Bräutigam, dann kannst du vielleicht doch noch kommen. Hör zu: Ich fahr ins Präsidium und du, Paul, statte bitte der Witwe einen Besuch ab. Du kannst das viel besser als ich und nebenbei hast du dich schon mal warm gemacht für die goldene Hochzeit heute Abend in Hinsicht auf Konversation mit alten Menschen. Einverstanden?«

Paul Renner grinste seinen Vorgesetzten an und sagte:

»Okay, dann verpiss dich. Ich werde der Familie lieber persönlich und allein einen Besuch abstatten, bevor du am Ende noch deinen Auftritt vorverlegst und die gesamte Familie aus den Latschen kippt.«

Nun musste Kommissar Weber lachen.

»Ich danke dir, Paul. Wir sehen uns später auf dem Präsidium.«

Nach einer Dreiviertelstunde saß Kommissar Weber an seinem Schreibtisch und schaute am Bildschirm die Aufnahmen an. Er hatte am Tatort darum gebeten, die Wange mit dem Dreck besonders intensiv abzulichten. Er war sich schon beim ersten Blick sicher gewesen, dass das ein M war. Kollege Renner hatte nichts erkennen können, aber er war sich ziemlich sicher, dass der Täter ein Zeichen auf der Wange des Opfers hinterlassen hatte. Weber telefonierte mit der Kriminaltechnik und fragte nach, ob man aus den Bildern mehr herausbekommen könnte. Der Leiter der Kriminaltechnik schickte eine Kollegin zu ihm herauf, die bereits nach einigen Minuten eintraf, während Weber weiter wie paralysiert auf den Bildschirm starrte.

»Hallo. Ich soll mir etwas ansehen?«

Eine noch recht junge, attraktive Mitarbeiterin stand Weber gegenüber. Weber schenkte sich jeglichen flachen Scherz und kam direkt zur Sache.

»Hallo. Ja, ich habe hier Fotos von dem alten Mann, den wir am Morgen im Volkspark gefunden haben. Ich glaube, der Dreck auf dem Gesicht soll ein Zeichen sein, ein M. Ich denke, der Täter hat den Dreck auf das Gesicht geschmiert und wollte ein M malen.«

Die Kollegin blickte auf den Bildschirm und schien skeptisch zu sein. Zumindest blickte sie schief durch ihre Brille, was äußerst verführerisch wirkte. Selbstbewusst schnappte sich die junge Frau die Maus und klickte durch die anderen Bilder der Fotoserie. Weber wusste nicht so recht, was er vom Blick der Kollegin halten sollte. Er schaute ihr zu, ähnlich wie ein Hausbesitzer mit zwei linken Händen einem Sanitärhandwerker bei der Arbeit zuschauen würde. Die Kollegin genoss den langen Moment, in dem ihre Expertise gefragt war und ihre stumme Begutachtung auf den Kommissar wirkte.

Weber platzte langsam vor Neugier.

»Also, was ist denn nun? Kann man da was machen?«

Die junge Kollegin rückte ihre Brille zurecht und schaute Weber gedankenverloren an.

»Ach das meinst du? Ja klar. Wir müssen nur den Kontrast, die Helligkeit und die Farbwerte etwas verändern.«

Weber staunte: »So einfach?«

Die junge Frau schob ihn sanft zur Seite und hockte sich vor den Schreibtisch. Sie öffnete das Standardprogramm für Bildbearbeitung und lud eines der Fotos, das von der Wange gemacht worden war. Ihre Finger flogen in einer Geschwindigkeit auf der Tastatur dahin, die Weber mit seinen fünfundfünfzig Jahren abging. Er war kein kompletter Computer-Legastheniker, aber dieses Tempo bei der Nutzung von Maus und Tastatur würde er zeitlebens nicht mehr erreichen können. Die hübsche Kollegin hatte bestimmt schon in der Kita SMS von ihrem Spielzeug-Handy aus verschickt. Weber schaute gespannt und interessiert zu, was sich auf dem Bildschirm vor ihm tat. Es war ein kleines Wunder. Es dauerte keine zehn Minuten, da entstand auf der Wange des toten alten Mannes ein M. Es wurde immer deutlicher und war am Ende für jeden sichtbar.

»Wie zum Teufel hast du das denn jetzt gemacht?«, rief Kommissar Weber.

»Ach das. Habe ich doch schon versucht zu erklären. Wir müssen nur bestimmte Bereiche extrapolieren. Das Bild ist jetzt verfälscht, aber die Struktur wird erkennbar. Mit ziemlicher Sicherheit ist es kein zufälliges Muster. Ich denke, du hattest recht. Der Täter hat dem Opfer ein M auf die Wange geschmiert.«

Weber strahlte über das ganze Gesicht.

»Weil sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht erlaubt ist und wir uns erst seit heute kennen, knutsche ich dich jetzt nur mal tief in meinem Inneren auf beide Wangen. Das war wirklich richtig gute Arbeit. Danke!«

Die Kollegin grinste, zufrieden mit ihrem schnellen Erfolg. Einige hatten sie vor Weber und seinem speziellen Humor gewarnt, dennoch schien er ein wirklich netter Kollege zu sein. Sie mochte ihn auf der Stelle.

»Das war eine leichte Aufgabe. Und was das Knutschen betrifft: Sofern es keine Flecken gibt, kannst du das gerne so innerlich machen.«

Weber verfasste im Kopf eine Notiz, dass er sich diese Kollegin unbedingt merken sollte.

Am frühen Nachmittag kam Paul Renner zurück von seinem Besuch bei der Witwe und der Familie. Er konnte berichten, dass das Opfer nicht geraucht hatte und leidenschaftlich gegen jeden Raucher gewettert hatte. Der Zigarettenstummel im Mund stammte also vom Täter. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass das Opfer den Stummel in den Mund bekommen hatte, als der Täter den alten Mann an die Seite geschleift hatte. Kommissar Weber zeigte Paul Renner die Ergebnisse der Bildbearbeitung der jungen Kollegin von der Kriminaltechnik.

Das M.

Renner pfiff anerkennend und fing an zu kombinieren, was sie mittlerweile über den Fall wussten:

»Wir haben es mit einem richtig kranken Typen zu tun. Ein solches Handeln geht über Totschlag oder einen Unfall weit hinaus. Er dekoriert sein Opfer, während es noch am Leben ist, langsam stirbt und vielleicht noch einen Herzinfarkt hat. Das alles hat der Täter deutlich mitbekommen. Er steckt dem Opfer einen Zigarettenstummel in den Mund, schmiert ihm etwas aufs Gesicht und geht dann einfach so weg?«

»Ganz genau, mein Lieber«, sagte Weber.

»Wir sollten versuchen, den Typen schnell zu fassen, denn dieser Täter kann einem Angst einjagen. Er ist gewalttätig und bis zum Äußersten skrupellos. Paul, lass uns eine Streife abstellen, die den Volkspark die nächsten Tage abläuft und versucht, Zeugen zu finden, die dort am Abend joggen, Pudel- oder Dackelbesitzer oder sonstige Menschen. Ansonsten, würde ich sagen, haben wir zur jetzigen Zeit nicht viel mehr Optionen. Wir können nur hoffen, dass die DNA-Probe vom Zigarettenstummel überraschenderweise positiv ist. Ich für meinen Teil mache für heute Schluss und bin morgen eher früh im Büro. Wie gesagt, wir sollten den Fall ernst nehmen.«

Paul Renner teilte Webers Einschätzung der Lage. Abgesehen davon hatten sie beide am Abend eine Veranstaltung vor der Brust: der eine einen Bühnenauftritt, der andere eine goldene Hochzeit.

Die Schicht wurde beendet, nachdem Weber und Renner die Polizeistreife angefordert und für den Einsatz im Volkspark instruiert hatten.

Im Pink Punker waren ungefähr sechzig Gäste eingetroffen. Für eine Comedy-Slam-Veranstaltung innerhalb der Woche keine schlechte Besucherzahl. Weber bahnte sich den Weg an die Bar und meldete sich für den schon vorangemeldeten Auftritt an. Weber hatte sich in der Szene einen bescheidenen Namen gemacht. Der Raum für Kleinkunst in Hamburg war begrenzt. Das Pink Punker im Stadtteil Sternschanze mit seinem intimen Flair unterstrich das Bedürfnis der Hamburger nach dieser Form von Kultur und Unterhaltung. Weber mochte das Publikum und diese kleinen Bühnen. Es war ein junges, dynamisches Publikum, aber auch ältere Semester, so in seinem Alter, und etablierte Altachtundsechziger, die im Rentenalter angekommen waren, bildeten das Publikum.

Er als Comedy-Slammer schien immer etwas fehl am Platze, wenn man bedachte, dass er bei der Polizei arbeitete und in den verschiedenen Kneipen mehr als einmal am Abend den Geruch von Gras in der Nase gehabt hatte. Das Gras störte ihn nicht sonderlich und irgendwann hatte auch er seinen Feierabend verdient. Weber lebte nicht hinter dem Mond. Kiffende Jugendliche waren kein Fall für einen Polizisten in seiner Freizeit. Sie waren gut für einen Scherz, einen Aufmacher, um das Eis zu brechen. Mehr nicht.

Weber war auf den Startplatz drei gesetzt. Das bedeutete, er würde bald auftreten müssen. Der Ansager verabschiedete bereits den jungen Komiker aus Billstedt, der sich an einem Comedy-Gangster-Rap versucht hatte. Das Publikum applaudierte mit gebotenem Respekt wie bei jedem, der den Mut hatte, hier ohne Gage aufzutreten. Der Junge besaß Potenzial und eine Zukunft. Weber applaudierte dem Vorgänger ebenfalls mit allem Respekt unter Kollegen. Auch wenn das hier gerade ein Comedy-Gangster war.

Der Ansager fing an, Kommissar Weber anzukündigen.

Weber hatte ihm den Text vorgegeben. Einige Zuschauer kannten Webers Auftritte bereits und fingen schon bei den ersten Worten an, ungeduldig zu pfeifen. Andere sahen Weber zum ersten Mal. Der Ansager verlas gut gelaunt den Text, während im Hintergrund die Tatort-Filmmusik lief:

»Meine Damen und Herren, Falschparker und Falschparkerinnen. Zu Ihnen kommt nun die Lachsalve der Kriminalistik im Norden. Er ist seit Jahren mit den Initialen ACAB – all cops are bastards konfrontiert, tätowiert auf die Oberkörper von Hooligans und rechten Schwachköpfen. Und er hat sich irgendwann gedacht, das geht doch ganz anders. Eines Tages hat er sie gefunden – die heilige Zeichenfolge, die sein ganzes Leben verändern würde: ACAC – all cops are comedians. Er arbeitet bei der Hamburger Polizei und er setzt Ihnen auf Verlangen gerne den finalen Rettungsschuss auf Ihr Zwerchfell. Bitte begrüßen Sie zusammen mit mir den Mann, der zum Schießen ist und in unserer Hansestadt die Lizenz dazu hat. Bitte wedeln Sie jetzt mit Ihren Straftickets, denn hier ist für Sie Kommissar Weber.«

Den letzten Satz und den Namen hatte der Ansager ins Publikum gerufen, so wie man einen Boxer ankündigte. Lang gezogen und laut. Weber betrat die Bühne und begann mit seiner Darbietung.

»Danke Leute. Ja, es stimmt. Ich bin Kommissar Weber und arbeite bei der Kriminalpolizei. Also, wenn mein Programm hier bei Ihnen nicht gut ankommen und keine Stimmung aufkommen sollte, dann halten Sie bitte am Ausgang schon mal Ihre Personalien bereit. Ich bedanke mich schon jetzt für Ihre freundliche Kooperation in dieser Angelegenheit.«

Weber hatte seinen ersten Gag gelandet und den Saal etwas für sich eingenommen. Es gab vereinzeltes Gelächter, aber was viel wichtiger war: Er sah ein Grinsen auf den Gesichtern. Das war es, warum er diese Auftritte machte. Weber legte sofort einen nach zum Polizisten-Thema:

»Nein, bitte, das war nur ein Scherz. Das heißt, ich bin schon Kommissar, aber hier bin ich absolut privat und habe für heute ohnehin Feierabend. Sollte es also irgendwelche Drogenkonsumenten im Raum geben, kann ich Ihnen versichern: Entspannen Sie sich, es ist alles gut. Ich bin zudem gar nicht beim Drogendezernat. Ich bin bei der Mordkommission. Eigentlich ein Scheißthema für Comedy. Also, nur gesetzt den Fall, einer der Anwesenden im Raum möchte aktuell eine Leiche in seinem Keller melden, dann müsste ich gezwungenermaßen meinen Feierabend beenden. Das wäre mir aber eher nicht so recht. Sie könnten das ansonsten auch morgen früh melden, ich gebe Ihnen am Ausgang meine Karte.«

Lautes Gelächter im Saal. Weber fuhr fort:

»Wie gesagt, bis dahin entspannen Sie sich einfach und schnappen Sie sich ein Bier an der Bar. Das mit der Alkoholkontrolle und dem Falschparken machen die Kollegen, die ich für meine Auftritte immer anfordere, später draußen. Aber bis dahin haben wir noch Zeit und Sie können sich zurücklehnen.«

Der Saal tobte und klatschte Beifall. Weber war in seinem Auftritt angekommen.

»Obwohl, ich kann Ihnen leider nicht versprechen, dass nicht irgendwo V-Leute hier im Raum sind. Schauen Sie sich also lieber noch mal um. Der Herr da vorne kommt mir etwas suspekt vor. Ja, Sie dort, mit den langen Haaren. Alles Tarnung, was? Liebes Publikum, Sie wissen nicht, was hier los ist, und ich kann Ihnen versprechen, ich weiß es auch nicht immer. Es gibt zu viele Behörden und Stellen, die hier V-Leute haben könnten. Verfassungsschutz und Gefahrenabwehr, ehrlich gesagt, ich kenne mich da auch nicht wirklich aus. Manchmal weiß der V-Mann ja selbst nicht einmal, dass er einer ist. Vielleicht sollten wir uns alle wirklich entspannen. Ich hatte für den heutigen Abend meinen Kollegen von der Wache, den Paul, angefordert, aber der musste leider auf eine goldene Hochzeit. Aber so ist das Leben und so läuft das manchmal. Da kannst du einen Extremisten und Dschihadisten zur Strecke bringen oder einen Bombenanschlag in einer örtlichen Schweineschlachterei verhindern und dann kommt dir eine goldene Hochzeit in die Quere. Das ist tragisch, leider aber Realität. Also noch mal, Herrschaften, ich bin wirklich ganz privat hier.«

Die Leute im Raum lachten herzlich, klatschten und einer pfiff sogar auf den Fingern. Webers Auftritt kam auf dieser Bühne bislang sehr gut an.

Dann entschied Weber zu improvisieren. Die Polizisten-Nummer war so langsam durch und es beschäftigte ihn der heutige Fall des alten Herren. Er hatte sein Thema gefunden und noch zehn Minuten für seinen restlichen Auftritt.

»Ich sagte es bereits, die Arbeit der Mordkommission ist für Comedy denkbar ungeeignet. Gott sei Dank haben wir es zum Großteil mit alten Leuten zu tun, die am Ende dann doch eines natürlichen Todes gestorben sind. Kein Mord, nichts. Einfach Exitus, verstorben. Es ist manchmal so einfach im Leben. Übrigens: Das kann dem jungen Klubbetreiber hier im Laden ebenso passieren, wenn meine Getränkerechnung am Ende des Abends nicht übernommen wird. Aber mal im Ernst, liebes Publikum, wir alle hier im Raum werden alt. Ich kann mich gut an meinen Vater erinnern. Das Komische daran ist, er war für mich schon immer alt. Als ich gerade mal zehn Jahre war, kam er mir schon unglaublich alt vor. Ich glaube, er selbst fand sich knackig und jung. Es ist immer eine Frage des Blickwinkels. Als Zehnjähriger ist dein Vater ein alter Kerl. Was den Altersunterschied betrifft, stimmt das ja auch. Aber wenn du selbst älter wirst, dann denkst du auch immer noch, du bist knackig und jung. Und dann kommt da diese kleine Göre, diese motherfucking cool bitch, mit ihren fünfzehn Jahren in Hotpants vorbei. Versuchen Sie dann mal mit fünfundfünfzig Ihrem Neffen zu erklären, dass Sie selbst auch ganz cool und jung sind. Alles Illusion. Sie können nur das Taschentuch zücken und diesem Pubertierenden den Sabber vom Mundwinkel abtupfen. Bei der Gelegenheit möchte ich meinen Neffen Jan grüßen. Jan, das mit den Mädchen bekommst du noch hin, ich weiß das, denn ich bin alt genug.

Und alte Leute riechen. Haben Sie das schon mal bemerkt? Wenn man jung ist, riecht man nach Vanille und Blumenwiese. Meine erste Freundin roch nach Kaugummi. Mein alter Herr dagegen roch nach Schweröl und Lebertran. Und er konnte einen fahren lassen, dass die gesamte Familie umgehend in Ohnmacht gefallen ist. Das Beste daran war, er hat es regelmäßig geleugnet. Selbst der Hund wusste es. Wenn wir ihn dann doch auf frischer Tat erwischt hatten, sagte er immer wieder den gleichen Spruch auf: Der Papa pupst, die Kinder lachen, so preiswert kann man Freude machen. Na ja, im Alter verschiebt sich die Vorstellung von Freude. Seis drum. Ich mochte den alten Knaben wirklich gerne. Nun begast er die Blumen von unten. Ja, glauben Sie mir, auf seinem Grab sind regelmäßig die Blumen verwelkt. Und jetzt fang ich selbst schon an zu riechen. Doch bevor Sie alle in Ohnmacht fallen, mache ich hier mal lieber Schluss und wünsche Ihnen allen noch einen schönen Abend. Ihr Kommissar Weber.«

Das Publikum stand auf und applaudierte. Er hatte es geschafft, die Leute zu unterhalten, und fühlte sich sichtlich zufrieden. Mit einem Bier an der Bar feierte er seinen Auftritt und unterhielt sich bis tief nach Mitternacht mit den Künstlerkollegen und einigen Zuschauern.

Daniel stand wie verabredet gegen Mittag in Peters Wohnung und hörte sich eine ausgewachsene Standpauke an.

»Sag mal, bist du wahnsinnig geworden? Wie kannst du mich am Telefon nach einer Waffe fragen? Und was denkst du dir? Ich bin nicht bei der Mafia. Mein Vater und meine Mama sind auch nicht aus Palermo. Also echt, Junge, du bist wirklich durchgeknallt.«

Daniel winkte abwehrend.

»Hey, nun mach mal halblang. Es ist alles okay, ich …«

Peter unterbrach ihn umgehend:

»Daniel, ich habe es dir schon gesagt, das Zeug, das du genommen hast, ist gefährlich. Es gibt Leute, die auf dem Trip geblieben sind und plötzlich ganz anders drauf sind. So wie jetzt kenne ich dich nicht. Und übrigens, was war das mit dem alten Mann im Park, dem du eine auf die Fresse gehauen hast? In den Regionalnachrichten berichten sie, dass gestern ein alter Typ gestorben ist.«

Daniel tat empört:

»Peter, hör mal zu, das war nicht der Typ, den ich meinte. Mein Opa hat noch gelebt, als er in die Horizontale ging. Er ist dann später aufgestanden und abgehauen, ganz ehrlich. Ich schwöre.«

Das war beinhart gelogen und Daniel wusste das. Der alte Mann hatte ihn wütend gemacht, als er ihm wegen der Zigarettenkippe so blöde gekommen war. Daniel hatte intuitiv zugeschlagen. Er hatte dabei Macht verspürt und die Wut war gestiegen. Er hatte den Opa ins Gebüsch geschleift und ihm die Scheißzigarettenkippe ins Maul gesteckt. Dabei hatte er die Idee, den alten Mann zu signieren. Er wollte ein Zeichen hinterlassen und schmierte ihm das Initial seines Helden Maik auf das Gesicht. Daniel hatte dies alles kalt und wie im Rausch durchgeführt. Er spürte bei der Tat keinerlei Skrupel, auch jetzt nicht, als er Peter frech anlog und alles abstritt. Peter hatte recht: Daniel hatte sich verändert. Er spürte es selbst. Nur litt er nicht darunter, er fühlte sich gut und stark. Außerdem konnte er nun seinen Roman perfekt ausstatten, mit einem ersten Mord. Was Daniel fehlte, war eine Waffe. In jedem guten Krimi gab es eine Tatwaffe. Daniel wollte wissen, wie sich diese Waffe anfühlt. Er hatte nicht vor, die Waffe auch anzuwenden. Aber es musste alles echt sein, wenn sein Romanheld Maik ans Werk gehen würde. Daniel hatte schon am Morgen begonnen, die Geschichte im Park zu verarbeiten. Er hatte einen Lauf und der Roman wurde immer spannender und realistischer. Daniel musste diese Waffe haben und Peter müsste ihm einen Kontakt verschaffen. Er versuchte Peter zu erklären, dass alles harmlos sei und er das Ding nur wegen des Romans brauchte.

Peter blieb skeptisch und meinte:

»Und mit dem toten Opa im Park? Hast du damit echt nichts zu tun?«

Daniel baute sich entrüstet vor Peter auf.

»Hey Junge, was denkst du denn von mir? Ich habe damit ehrlich nichts zu tun. Also hör zu. Wenn du mir einen Kontakt machst, dann bekommst du fünfhundert Euro Vermittlerhonorar. Wenn dein Kontakt mir die Waffe besorgt, zahle ich noch einmal fünfhundert Euro. Also, was ist, kennst du jemanden?«

Für Peter waren fünfhundert oder gar tausend Euro sehr viel Geld. Er begann zu überlegen. Einerseits hatte er ein ungutes Gefühl, andererseits musste Daniel schon wissen, was er tat.

Peter sagte schließlich zu Daniel:

»Pass auf, Alter, es gibt da ein paar Georgier und Russen in der Gegend. Ich kenne so einen jungen, ukrainischen Junkie, der mit den Typen wohl in Kontakt ist. Wenn du also den Jungen ansprichst, dann kann er dir vielleicht helfen. Aber ansonsten, ich weiß von nichts.«

Daniel grinste. »Wo finde ich den Typen?«

Peter erzählte, dass Vladimir am Nachmittag immer in der Spielhalle sei, wo er auf Gäste und Geräte aufpasste. Der Laden war anscheinend ein Abschreibungsmodell der russischen Mafia. Jedenfalls sollte Daniel einen Gruß von Peter ausrichten. Er sollte ihn daran erinnern, dass Peter Vladimir bei sich hatte schlafen lassen, als der gerade in Hamburg angekommen war, und dass Vladi noch einige DVDs von Peter hätte. Das wären genügend Details, damit Vladimir Vertrauen zu Daniel fassen würde.

Daniel war zufrieden. Er hatte erreicht, was er wollte, und griff in seine Brieftasche, um die fünfhundert Euro herauszuholen.

»Willst du nicht vielleicht mitkommen?«, fragte Daniel, während er die Geldscheine zählte. »Ne, lass mal stecken, damit will ich wirklich nichts zu tun haben«, winkte Peter mit süffisanter Miene ab. »Ich schreibe Vladi eine SMS, dass ein Kollege von mir vorbeikommen wird.«

Daniel gab auf und verabschiedete sich von Peter, nicht ohne vorher noch einmal eindringlich vor den Russen gewarnt worden zu sein und dass er um Himmels willen auf sich selbst aufpassen sollte.

Daniel versprach all dies und verließ Peters versiffte Wohnung. Im Hintergrund lief im Fernsehen eine Dokumentation über Bären in Alaska.

Tödliche Inspiration

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