Читать книгу Tödliche Inspiration - Stefan Ramaker - Страница 7

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Das erste Kapitel

Der Kater, den Daniel spürte, als er gegen Mittag aufwachte, war gewaltig. Er schaffte es kaum, die verklebten Augen aufzuschlagen. Die Alkoholfahne, gepaart mit dem pelzigen Geschmack im Mund, bereitete ihm Übelkeit. Er brauchte eine Ewigkeit, um sich aus dem Bett zu wuchten und ins Bad zu finden.

Auf dem Rückweg vom Badezimmer wollte er sich einen starken Kaffee kochen, als das Telefon zu klingeln begann. Daniel verzog bei dem Geräusch gequält das Gesicht. Er ließ den Anrufbeantworter anspringen. Es war sein Bruder Arne.

»Hallo Daniel. Ich bin's. Ich wollte nur sichergehen, dass du das Mittagessen nicht vergisst. Morgen um zwölf Uhr. Mutter kommt auch. Also sei bitte pünktlich.«

+++ beep +++

Daniel war noch nicht in der Lage zu sprechen, geschweige denn mit seinem Bruder. Außerdem würde Daniels Stimme die durchzechte Nacht verraten. Er hatte sie zwar noch nicht ausprobiert, aber sein Allgemeinzustand ließ keinen Zweifel zu, dass er heiser und krächzend klingen würde. Der Kaffee wirkte kleinere Wunder und Daniel schaffte es, sich vollständig anzukleiden und zwei Eier in die Pfanne zu hauen. Während er Toast mit Rührei in sich hineinschaufelte, rief Peter an. Daniel ließ wieder den Anrufbeantworter die Arbeit übernehmen.

+++ beep +++

»Alter, habe ich einen Schädel. Ich wollte noch kurz erzählen: Heute Morgen haben mich die Bullen vor der Tür abgefangen. Mir war kalt auf dem Nachhauseweg und da habe ich die Polizeimütze aufgezogen.

Mann, wo haben wir das Ding denn eigentlich her? Ich kann mich nicht mehr dran erinnern. Na, jedenfalls meinte die Polizei, genau so eine wäre ihrem Kollegen abhandengekommen. Habe denen dann erzählt, dass ich die gefunden habe. Was soll ich sagen? Irgendwie wollten die die ganze Sache wohl lieber kleinhalten, um den Kollegen nicht zu blamieren, der sich seine Mütze hat klauen lassen. Also haben sie das Ding einfach eingepackt und sind abgehauen. Daniel, dieser Abend war echt grenzwertig. Und ich wollte noch mal sagen: Das, was im Irish Pub passiert ist, bleibt unter uns, okay? Alles klar. Danke noch mal und man sieht sich. Halt die Ohren steif, Alter!«

Daniel musste schmunzeln, während er sich den Mund abwischte. Ja, der Abend war krass gewesen. Aber die Geschichten waren Gold wert, denn während er frühstückte, dachte er an sein Buch und an die Stelle, an der er gestern mit dem Schreiben aufgehört hatte. Daniel nahm sich einen Kaffee und setzte sich an den Schreibtisch. Er suchte ein altes Genesis-Album heraus: Selling England by the Pound. Er öffnete das Buch-Dokument und blickte auf den ersten Satz, den er gestern übrig gelassen hatte:

Es war Freitag und Maik wollte heute einen draufmachen.

Jetzt ergab dieser Satz für Daniel einen Sinn, er klang wie eine Verheißung, und er schrieb drauflos. Er schilderte den gestrigen Abend, den er erlebt hatte, mit einigen Abweichungen und Verfremdungen. Er baute witzige Konversationen ein und schmückte die Geschichten mit örtlichen Gegebenheiten und genauen Charakterbeschreibungen aus. Es floss aus seinen Fingern und Maik, sein Protagonist, wurde endlich zum Leben erweckt. Gegen zwanzig Uhr bestellte Daniel eine Pizza beim Pizzabringdienst und schrieb weiter. Maik, sein Bösewicht, war ebenfalls beim morgendlichen Kater angekommen. Dann klingelte es an der Tür. Der Pizzabote war da und Daniel beeilte sich, dem Boten das abgezählte Geld in die Hand zu drücken. Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und las die letzten Seiten, während er sich die Pizzastücke als Akt der reinen Nahrungsaufnahme einverleibte. Einen Moment dachte Daniel darüber nach, was als Nächstes passieren sollte. Er entschied sich dafür, ein neues Kapitel anzufangen und von Maiks Kindheit und Schulzeit zu erzählen. Daniel selbst hatte genügend erlebt, um dieses Kapitel schreiben zu können. Er wollte zeigen, wie sein Maik zum Bösewicht wird. Die Geschichte ging ihm gut von der Hand, aber es fehlten noch die Exzesse der Jugend mit Drogen und Mädchen. Daniel war ein gut aussehender Typ und hatte Erfahrung mit Mädchen. Nur um Drogen hatte Daniel immer einen weiten Bogen gemacht. Sein Vater hatte ihm eingebläut, er würde ihn totschlagen, sollte er jemals welche ausprobieren. Daniel war dies Warnung genug, denn sein Vater hatte ein Talent für das Schlagen. Jetzt war sein alter Herr unter der Erde, aber Daniel hatte nie etwas mit Drogen zu tun gehabt, wenn man vom Alkohol einmal absah, eine Gewohnheit, die er von seinem alten Herrn geerbt hatte.

Dann kam Daniel die Idee, wie er die Geschichte mit Leben würde füllen können. Er schnappte sich das Telefon und wählte die letzte Nummer auf der Anrufliste – Peter. Es klingelte am anderen Ende.

»Hallo?«

Peter klang exakt genauso wie am Abend zuvor.

»Hi Peter, ich bin es, Daniel.«

»Oh Alter, nicht schon wieder!«, antwortete Peter wie aus der Pistole geschossen.

»Nein«, sagte Daniel, »ich will nicht wieder los. Aber du musst mir einen Gefallen tun. Du kennst doch bestimmte Leute, die so Zeug besorgen können.«

Peter unterbrach Daniel: »Pst, Alter, nicht am Telefon! Komm morgen bei mir vorbei, so gegen drei.«

»Alles klar«, sagte Daniel, der mit Drogendeals keine Erfahrung hatte. Das Gespräch blieb kurz und Daniel verabschiedete sich. Er würde die Erfahrung mit den Drogen nachholen, um die Geschichte perfekt erzählen zu können. Natürlich würde er kein Junkie werden wollen, aber zumindest einmal den Rausch erleben, damit alles realistisch blieb bei seiner Romanfigur. Daniel beendete sein Werk für den Tag, machte den Fernseher an und schaute fern, bis er am Abend vor der Kiste einschlief.

Der Tag war ein verbrauchter und gegessener, aber er hatte sein Buch begonnen. Und so schlief er beruhigt und selig.

Am nächsten Tag fuhr Daniel ins Schanzenviertel. Er hatte sich am Schulterblatt in der Nähe der Roten Flora in einem portugiesischen Café mit Peter verabredet. Peter kam zehn Minuten zu spät. Sie standen an einem Stehtisch, tranken den portugiesischen Milchkaffee, den Galão, und bestellten dazu diese leckeren Puddingtörtchen, die Pastéis de Nata.

Peter tat geheimnisvoll.

»Alter, was brauchst du denn?«

Daniel hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, welche Drogen genau er wollte, geschweige denn wie viel.

»Na, was hast du denn so? Ich meine, wie heißt das Zeug denn? Vielleicht etwas Kokain und dieses Haschzeug. Oder ein bisschen Marihuana und Gras. Vielleicht auch LSD und Heroin, wenn der Preis stimmt.«

Den letzten Nebensatz hatte Daniel gesagt, um nicht ganz so dumm und unerfahren zu wirken. Peter blickte sich nach allen Seiten um und fühlte sich sichtlich unwohl.

»Mann, bist du übergeschnappt? Du betest mir hier gerade das gesamte Betäubungsmittelgesetz herunter. Was zum Teufel willst du denn mit dem Zeug?«

Daniel blieb unbekümmert.

»Peter. Ich will nur mal wissen, wie das ist mit den Drogen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich habe das in meinen jungen Jahren nie gemacht und nun bin ich einfach neugierig. Das ist alles. Keine Panik! Ich werde schon nicht süchtig.«

Peter runzelte die Stirn, meinte dann aber:

»Okay, gib mir mal hundertfünfzig Euro. Ich muss da erst mal nachfragen. Wir treffen uns in zwei Stunden. Ich komme dann in deine Wohnung.«

Daniel reichte ihm verschwörerisch das Geld hinüber wie in einem schlechten Krimi und beide verschwanden aus dem Café. Er lief in Richtung U-Bahn, als sein Handy klingelte.

»Alberts?«

»Hier auch, du Nase. Sag mal, hast du das Mittagessen mit Mutter vergessen?«

Es war sein Bruder. Daniel verzog das Gesicht. Er hatte das Essen tatsächlich vergessen und er wusste, was jetzt kommen würde: eine Moralpredigt.

»Du, die Verbindung ist ganz schlecht«, log er eiligst. »Ich melde mich später bei dir.«

Dann legte er auf. Er wollte sich jetzt keine Vorträge anhören. Daniel besorgte sich ein Sixpack Bier und fuhr nach Hause.

Er wartete auf Peter und sah sich dabei das bescheuerte Nachmittagsprogramm an. Es gab eine Realityshow, in der miserable Laiendarsteller irgendwelche Familienintrigen spielten. Die Dialoge waren unterirdisch. Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und stand von Zeit zu Zeit auf, um aus dem Fenster zu schauen. Ob diese Drogensüchtigen das auch so machen würden, fragte er sich. So unruhig hin- und herlaufen? Er wollte sich dazu eine Notiz machen. Gegen achtzehn Uhr klingelte es schließlich an der Tür. Peter war spät dran. Er drängte sich an Daniel vorbei in die Wohnung und stieß einen lauten Pfiff aus.

»Mann, du hast aber eine edle Hütte. Wenn ich da jetzt mal an mein Loch denke. Sind das dänische Designermöbel? Echt abgefahren.«

»Hast du das Zeug?«, fragte Daniel hastig.

»Hey, bleib locker«, antwortete Peter und zog einen Plastikbeutel aus der Jackentasche. Er öffnete den Beutel und holte drei Päckchen hervor.

»Das hier ist das Koks«, erklärte er, »das musst du dir durch die Nase ziehen.«

»Klar, das wird mit einem gerollten Geldschein gemacht. Weiß ich. Ich bin ja nicht blöde.« Daniel hatte so was mal in einem Film gesehen.

Peter fuhr mit strengem Blick fort:

»Das hier ist das Heroin. Das kannst du in einem Pfeifchen rauchen oder aufkochen und spritzen. Ich habe dir eine Pfeife mitgebracht. Das schwarze Zeug ist das Haschisch. Das kannst du auch in der Pfeife rauchen. Vorher musst du es aber mit dem Feuerzeug warm machen und zerbröseln. Hast du das alles verstanden oder möchtest du es dir aufschreiben?«

Dann zog Peter seine Brieftasche heraus und wühlte zwischen den nicht vorhandenen Geldscheinen ein drei mal drei Zentimeter großes Papierschnipselchen hervor.

»Und das ist das LSD. Das legst du auf die Zunge und nach einer Weile schluckst du es runter.«

»Super«, antwortete Daniel. »Hey, ist das auch gutes Zeug?«

Das war wieder so ein Spruch, mit dem er versuchte, cool zu wirken.

»Das wird dir die Rübe weghauen«, lachte Peter.

»Okay, alles klar«, sagte Daniel. »Und womit fang ich an? Soll ich alles zusammen nehmen oder lieber nacheinander?«

Peter sprang vom Sofa auf und machte große Augen.

»Bist du bescheuert? Willst du dich ins Nirwana befördern? Natürlich nicht! Eins nach dem anderen bitte. Fang am besten mit dem Hasch an. Aber sei vorsichtig! Das Zeug ist echt der Hammer. Mach keinen Scheiß! Nur ein Ding am Tag, mehr nicht. Sonst gehst du zu sehr ab.«

»Alles klar, Mann. Ich hab es ja verstanden. Bleib ganz entspannt!«, sagte Daniel und nickte.

Er bedankte sich bei Peter, der kurz darauf die Wohnung verließ. Daniel kehrte zum Sofa zurück und schaute auf die Drogen, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen. Seine Rauscherfahrungen konnten nun beginnen. Er war ein wenig aufgeregt und holte sich ein weiteres Bier. Dann fing er an, das Hasch zu zerbröseln, so, wie Peter es ihm gezeigt hatte. Das Zeug war klebrig und roch süß. Er legte eine Portion auf die Pfeife und zündete die erste Haschpfeife seines Lebens an. Er zog den Rauch in seine Lunge und musste alsbald husten. Daniel lehnte sich zurück und wartete, während im Fernsehen eine dicke Laienschauspielerin erfolglos versuchte, ihren schmächtigen Freund zum Beischlaf zu überreden. Zehn Minuten später merkte Daniel immer noch nichts. Hatte Peter ihn vielleicht betrogen? Das Zeug wirkte nicht. Oder hatte er zu wenig genommen? Daniel bereitete eine zweite Pfeife vor und dann eine dritte. Das Hasch war nun zur Hälfte weg. Daniel saß auf dem Sofa und wartete auf irgendeine Wirkung.

Nach einer Viertelstunde bemerkte er, dass die dicke Frau im Fernsehen eine Warze im Gesicht hatte. Er fing an zu kichern, ohne wirklich zu wissen warum. Er stellte sich vor, wie die Frau auf ihrem dünnen Freund liegen und dieser rhythmisch zum Auf und Ab seiner Freundin die Zunge aus dem Hals strecken würde. Er bekam einen hemmungslosen Lachflash. Er kringelte sich vor Lachen und dicke Tränen liefen über seine Wangen. Alles um ihn herum wirkte jetzt auf einmal bunt. Er bemerkte zum ersten Mal, wie abgefahren seine Tapete aussah. Das Muster war der absolute Wahnsinn. Es trat fast aus der Wand heraus und Daniel fragte sich, ob der Tapetenhersteller das mit Absicht gemacht hatte. Er sprühte über vor Ideen. Das Zeug würde ihm helfen, einen Roman zu schreiben, der für den Nobelpreis vorgeschlagen werden würde. Daniel sah sich auf der Bühne neben dem schwedischen König stehen und die Medaille entgegennehmen. Er dachte sich eine beeindruckende Rede aus. Aber Moment! Erst musste der Roman geschrieben werden. Sein Romanheld würde eine der spektakulärsten Geschichten der jüngeren Literaturhistorie verpasst bekommen und diese bahnbrechende Story manifestierte sich in rasender Geschwindigkeit in seinem Hirn.

Sein Held Maik war nämlich eigentlich vom Planeten Klong. Die Klongonen waren Wesen der dritten Ebene. Das mit den drei Ebenen würde er in seinem Buch ausführlich erklären. Die Menschen waren übrigens Wesen der ersten Ebene. Die Klongonen konnten mit ihrem Geist die Materie und die Zeit kontrollieren. Sie besaßen Raumschiffe, die mit reiner Gedankenkraft bewegt wurden und Wurmlöcher erzeugten. So konnten sie Reisen über Lichtjahre hinweg unternehmen. Maik war auf der Erde gelandet, wo er aufgrund der Anstrengungen der Reise eine Amnesie erlitt. Sein Vater war der Klongonen-Herrscher Karomir Namnam, der ihn ausgesandt hatte, neue Welten zu erforschen. Die Klongonen konnten Planeten erschaffen, indem ihre Frauen ein bestimmtes Lied sangen. Sie tranken gerne Orangensaft und ernährten sich von Vanillepudding.

»Mhmm, Vanillepudding«, dachte Daniel, »da habe ich jetzt auch Bock drauf. Und auf Schokolade.« Daniel durchsuchte die gesamte Küche nach Süßigkeiten. Er räumte die Schränke aus, fand aber nichts außer einer Flasche Cola. Er schraubte sie eiligst auf und trank. Die Cola schmeckte einfach nur köstlich.

»Man müsste mal einen Cola-Pudding erfinden«, dachte Daniel blitzartig und war sich sofort darüber im Klaren, dass ein solches Patent wahrscheinlich Millionen einbringen würde. Warum ist noch niemand darauf gekommen? Cola-Pudding. Er würde seine Erfindung »Copu« nennen. Cool. Er würde gleich morgen früh das Rezept aufschreiben und patentieren lassen und den Markennamen würde er unbedingt schützen lassen. Er wollte sich jetzt nicht damit aufhalten, den Pudding zu kochen, jetzt, wo er diesen kreativen Schub hatte. Das würde er später erledigen. Dann entdeckte Daniel im obersten Küchenregal die Chips-Tüte.

»Geil!«, rief er, »Chips und Cola, das ist die perfekte Kombi.«

Er riss die Tüte auf und setzte sich wieder aufs Sofa.

»Immer abwechselnd. Erst einen Chip und dann einen kleinen Schluck Cola«, sagte er zu sich selbst. Er konzentrierte sich darauf, die Chips und Schlucke genau so aufzuteilen, dass beim letzten Chip noch ein Schluck übrig war. Und es funktionierte. Er musste nur einen Chip durchbrechen, damit es aufging, doch das fand er vollkommen legitim. Es stand nirgendwo geschrieben, dass dies bei dem Spiel verboten war. Die Tüte war nach zehn Minuten leer.

Im Fernsehen lief jetzt eine kitschige Arztsendung. Daniel analysierte die Geschichte und hatte sofort mehrere Verbesserungsvorschläge für die Story. Er würde sich Notizen zu den einzelnen Figuren der Sendung machen und diese an den Sender schicken. Er glaubte, dass noch niemand diese Beobachtungen gemacht hatte und sie ihm dankbar sein würden. Trotzdem würde er sich dagegen entscheiden, eine Kariere als Serienautor zu machen. Vielleicht als Supervisor für Arztserien.

Plötzlich hörte Daniel von draußen eine Sirene. Die Sirene wurde immer lauter. Oder bildete er sich das nur ein? Er erschrak bei einem bestimmten Gedanken, der jetzt zutage trat, und sein Hals schnürte sich zu.

»Die Bullen! Die Polizei hat Peter verfolgt und nun sind die hinter mir her. Vielleicht ist Peter sogar ein Spitzel und hat sich gestern nur zum Schein auf die Kneipentour eingelassen. Aber da hat der doch noch gar nicht wissen können, dass ich Drogen will.«

Daniel hatte laut gesprochen und fand nichts daran, mit sich selbst zu reden. Er stand auf und bewegte sich in Richtung Fenster. Die Sirene war verstummt. Jetzt drang das Blaulicht in sein Zimmer, der Wagen stand anscheinend vor der Tür. Daniel kroch auf allen vieren ans Fenster, weil er Angst hatte, die Polizei könnte eine Video-Drohne einsetzen und ihn sehen. Nur langsam richtete er sich auf und sein Herz pochte wie wild. Mit größter Vorsicht schaute er auf die Straße. Unten stand ein Rettungswagen und holte gerade eine Person aus dem Haus gegenüber ab. Sie schoben die Rettungsliege in das Auto und verschlossen eilig die Tür. Das Blaulicht drehte sich immer noch.

Ein Rettungswagen?

»Und wenn das jetzt nur Tarnung ist? Wenn die Polizei den Rettungswagen und diese Aktion inszeniert hat, um mich in Sicherheit zu wiegen. Sie können jeden Moment die Tür stürmen und mich festnehmen«, dachte Daniel laut.

Er schaute auf die Drogen und blieb auf der Stelle mucksmäuschenstill stehen. Er versuchte flach zu atmen und konzentrierte sich darauf, irgendwelche Bewegungen auf dem Flur wahrzunehmen. Aber da war nichts.

Nach ewig langen fünf Minuten kam der Rettungswagen in Bewegung und fuhr davon. Die Sirene setzte wieder ein und Daniel zuckte zusammen. Er ging eilig an die Tür und schaute durch den Türspion. Entwarnung! Das waren nicht die Bullen. »Aber sie hätten es sein können«, dachte er und bekam sofort das Gefühl, dass er die Drogen unbedingt verstecken sollte. Daniel lief durch die Wohnung und suchte nach einem todsicheren Versteck. Er fand circa ein Dutzend Plätze, die alle irgendeine Schwachstelle hatten. Am Ende kam ihm die perfekte Idee. Er würde die Drogen mit Tesafilm an der Decke befestigen. Die Kügelchen waren weiß und würden sich nicht von der Decke abheben. Und keiner schaut an die Decke. Genial! Den Rest vom dunklen Hasch spülte Daniel die Toilette hinunter. Weil es sich vom Deckenweiß abhob, hätte er das Haschkügelchen vorher anmalen müssen. Aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Nach einigen Minuten waren die Drogen an der Decke befestigt und Daniel fühlte sich endlich wieder sicher.

Er musste mental herunterkommen. Er wollte sich entspannen und beruhigen. Am besten würde er versuchen zu meditieren. Daniel legte sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher aus. Er machte die Stereoanlage an und wählte ein Album von Andreas Vollenweider. Mit Kopfhörer auf dem Kopf schloss er die Augen. Die Musik traf ihn durch die Ohren direkt ins Herz und nahm ihn mit auf eine Reise. Die Harfe erschuf vor seinem inneren Auge eine Blumenwiese, über der Daniel befreit schwebte. Er war unfähig, sich zu regen. Diese Welt wäre zerstört, wenn er auch nur den kleinen Zeh bewegen würde. Wärme stieg in Daniel auf und er atmete gleichmäßig und ruhig, bis er schließlich nach dem letzten Stück auf dem Album erschöpft einschlief.

Gegen Mitternacht erwachte Daniel. Er war wieder klar im Kopf und wunderte sich, dass er durch das Zeug überhaupt keinen Kater verspürte. Es war einfach vorbei, sein Haschisch-Erlebnis war abgeschlossen. Er ging in die Küche, nahm einen Schluck Leitungswasser und schaute dabei die Tapete an, die nun wieder nichts anderes war als eine langweilige Blumentapete. Daniel war jetzt wach und etwas verwirrt. Er setzte sich aufs Sofa, wo er die Aufzeichnungen fand, die er vor ein paar Stunden für die Buchgeschichte hingekritzelt hatte.

Klongonen. Wichtig: Wesen der dritten Ebene.

Frauen können mit Gesang Planeten erschaffen.

Wurmlochtechnologie. Unbedingt ausarbeiten!!!

Was war das für ein gequirlter Mist? Die Sätze machten keinen Sinn mehr. Seine Fantasie wurde nicht angeregt und insgesamt war er der Meinung, dass sein Held auf gar keinen Fall ein Außerirdischer sein sollte. Er wollte doch einen Krimi schreiben und keine Science-Fiction-Story. Daniel knüllte das Papier zusammen und warf die Aufzeichnungen in den Müll. Er schob sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen und machte das Nachtprogramm an. Gegen drei Uhr morgens ging er wieder ins Bett und schlief bis um elf Uhr.

Als er erwachte, packte ihn das schlechte Gewissen. Er rief seinen Bruder an und erzählte, dass er einem Freund habe helfen müssen, der ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Daher war er nicht zum Essen mit der Mutter erschienen. Um die Wogen zu glätten, schlug er ein Treffen am nächsten Wochenende vor.

»Übrigens, Lena hat den ersten Preis im Kostümwettbewerb der Kita gewonnen. Ich habe Fotos geknipst. Soll ich dir die schicken?«

»Das ist ja super.« Daniel versuchte, echt begeistert zu klingen. »Ja, klar. Schick mal rüber.«

Das Gespräch war gut verlaufen und Daniel ging um die Ecke in das Café, um ein spätes Frühstück einzunehmen. Er musste erst einmal seinen Kopf klar bekommen.

Gegen dreizehn Uhr war er wieder zurück in seiner Wohnung. Er schaute an die Decke und erkannte die Drogen, die er gestern dort angeklebt hatte. Der Deckenstrahler beschien den Tesafilm und dieser glänzte wie eine Silbermünze. »Was für ein bescheuertes Versteck!«, dachte Daniel. Kein Polizist würde in die Wohnung kommen ohne Durchsuchungsbefehl. Warum in aller Welt klebte er Drogen an die Decke? Die Aktion kam ihm jetzt absurd vor. Er stellte sich auf den Stuhl und holte die Kügelchen von der Decke.

Er hatte die Drogenerfahrungen noch nicht abgeschlossen. Er wollte den nächsten Schritt gehen. Er wusste jetzt, was die Kiffer so an dem Zeug fanden, aber er wollte mehr. Er wollte wissen, wie die harten Drogen wirkten. Übrig war noch das Heroin, das Kokain und das LSD. Was sollte er nun ausprobieren? Er entschied sich für das Heroin. Im Internet fand er einige Webseiten, die den Gebrauch erklärten. Er entschied sich für das Rauchen. Er wusste ohnehin nicht, wo er jetzt eine Spritze herbekommen und wie er sich diese setzen sollte. In einem Video hatte jemand das Heroin auf einem Stück Alufolie angeheizt und den Rauch über ein Glasröhrchen eingeatmet. Daniel improvisierte und schraubte einen Kugelschreiber auseinander. Alufolie hatte er vorrätig.

Er hatte alles penibel vorbereitet und saß wieder auf dem Sofa, bereit, den nächsten Rausch zu erleben. Daniel hielt das Feuerzeug unter die Alufolie und das Heroin fing an zu blubbern, bis es schließlich den Rauch freigab. Daniel beeilte sich, die Kugelschreiberhülse über den Rauch zu bringen, und begann zu inhalieren, bis das Heroin zu einem schwarzen Fleck verdampft war.

Gestern beim Haschisch hatte es sehr lange gedauert, bis die Wirkung eintrat. Diese Droge war anders. Sie übernahm sofort nach dem Inhalieren die Kontrolle über Daniel. Er sank in die Polster des Sofas zurück und fühlte umgehend eine alles einnehmende Wärme in sich aufsteigen. Es war keine Wärme im eigentlichen Sinne, sondern eher ein wohliges Gefühl. Daniel grinste über das ganze Gesicht. Die Welt war schön. Das Buch, das er schreiben würde, sein Bruder, seine Mutter oder die Ex-Freundin, der bisherige Job oder irgendein Job waren so weit von ihm entfernt, wie sie es nur sein konnten. Er war einfach vollkommen glücklich im Hier und Jetzt. Das Glücksgefühl war überwältigend. Er konnte sich nicht erklären, weshalb ihn jemals Probleme runtergezogen hatten. Er fühlte sich wie in Watte gepackt. Und er spürte keinerlei Bedürfnis, sich vom Sofa wegzubewegen. Er war schläfrig und schloss die Augen, ohne wirklich zu schlafen. Er dämmerte in dieser Wärme nur dahin und genoss das vollkommene Glück. Niemand konnte ihm in dieser Situation etwas anhaben.

Während er beim Hasch die verrücktesten Ideen entwickelt hatte und seine Umwelt für ihn zu einem großen Spielfeld mutiert war, brachte diese Droge ihn in andere Welten. Sie machte ihn einfach nur glücklich und zufrieden, und das so vollkommen, dass alles andere nebensächlich und unbedeutend wurde.

Nach zwei Stunden verschwand die Wirkung und Daniel kehrte in die Wirklichkeit zurück, ohne wirklich aus ihr herausgekommen zu sein. Er hatte keine Halluzinationen oder verrückten Ideen gehabt. Er war lediglich in einem perfekten Glückszustand gewesen, den er bereits in dem Moment vermisste, als dieser sich langsam zurückzog. Daniel erkannte intuitiv die Gefahr von Heroin und schwor sich, nie mehr in seinem Leben Gebrauch davon zu machen. Er fühlte sich, als wenn er aus dem Paradies vertrieben worden wäre. Er verspürte eine Leere im Kopf und in seiner Seele. Das musste er erst mal verdauen. So umfassend dieses Glück gewesen war, so sehr fehlte es jetzt, und er fühlte, dass diese Droge den Konsumenten auf schnellstem Wege zerstören konnte. Das Glück war nicht real, es war die Droge, und der Absturz war hart und gnadenlos.

Es war erst früher Abend und so ging Daniel vor die Tür und lief eine Weile in Ottensen herum. Er ging in eine Pizzeria, wo er einen Teller mit Antipasti und einen halben Liter Chianti bestellte. Auf dem Weg nach Hause schaute er auf und sah als Einzigen den Polarstern am Abendhimmel des ansonsten von Licht überfluteten Hamburg. Er genoss die leichte Kühle und die frische Luft und ging nach Hause, wo er sich bald ins Bett begab, ausgelaugt und seelisch entkräftet von seinen Drogenerfahrungen.

Am nächsten Morgen fühlte sich Daniel schon wesentlich besser. Er machte sich Frühstück und las die Zeitung. Es hatte wieder einen Überfall auf einen türkischen Supermarkt gegeben und ein Auto war in die Elbe gefahren. Der Fahrer hatte blind dem Navigationsgerät vertraut.

Gegen elf Uhr überlegte er, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte noch zwei Drogen zum Ausprobieren. Welche sollte er zuerst nehmen? Er konnte sich nicht zwischen dem Kokain und dem LSD entscheiden und warf schließlich eine Münze. Der Euro kam mit der Zahl nach oben zu liegen.

Also LSD. Daniel hoffte, dass es diesmal nicht so deprimierend sein würde, wenn die Wirkung der Droge nachließ.

Er besah das kleine Stückchen Papier. Auf dem Blättchen war Micky Maus abgebildet. Es sah harmlos aus. Daniel legte das Papier auf seine Zunge und saugte daran, wie es ihm Peter erklärt hatte. Nach einer Minute weichte das Papier auf und Daniel schluckte es herunter. Dann passierte erst einmal nichts. Er wusste aber jetzt, dass die Wirkung auf sich warten lassen konnte, wie beim Haschisch. Er wartete auf dem Sofa auf den Trip. Zwischenzeitlich wurde ihm langweilig und er kochte sich einen Kaffee und schaltete den Fernseher ein. Irgendwann musste es doch mal losgehen, dachte er sich.

Nach einer halben Stunde schaute Daniel gedankenverloren auf die Blumentapete, die er bei seinem Haschischrausch noch so sehr bewundert hatte. Es waren Kornblumen. Er konnte den Blick nicht von der Tapete wenden und schließlich setzte die Wirkung ein. Die Kornblumen fingen an, sich wie durch ein laues Lüftchen sanft zu wiegen. Sie ragten aus der Wand heraus und wehten ihren Duft in Daniels Richtung. Es war, als hätte jemand eine Blumenwiese an der Wand angebracht.

Daniel musste unwillkürlich lachen. Er fühlte sich keineswegs ängstlich. Im Gegenteil. Das Schauspiel faszinierte ihn, er war wie ein Beobachter. Zwischen den Blumen konnte er kleine Bienen erkennen, die den Nektar der Tapetenblumen sammelten.

Was für ein merkwürdiges Erlebnis.

An der Zimmerdecke schwebten kleine Schäfchenwolken, die in Richtung Wand zogen und in ihr nach und nach verschwanden. Daniel saß mit verschränkten Armen auf dem Sofa. Er blickte auf seine Beine, die auf dem grünen Teppich ausgestreckt waren.

Moment mal. War der Teppich nicht rot?

Es kam ihm so vor, als wären seine Beine mindestens zwei Meter lang, mit steigender Tendenz. Der grüne Teppich war zur Wiese geworden. Es war surreal, was er erlebte, und es wurde noch viel wilder. Unter dem Teppich gab es ein geschäftiges Treiben. Kleine Hügel taten sich auf und wanderten unter dem Teppich. Eine der Erhebungen kam schließlich an das Ende des Teppichs und hob ihn an. Ein kleines Männchen mit roter Kappe schaute scheu und interessiert in die Welt. Es kroch hervor und putzte sich die Hose ab. Das Männchen war ein Gartenzwerg. Er hatte eine Harke in der Hand und begann sofort mit einem leisen Murmeln, die Teppichwiese zu bearbeiten.

Der Gartenzwerg war nur die Vorhut, denn in der nächsten Phase kamen weitere Zwerge mit Schubkarre und Schaufel hervor. Weibliche Zwerge mit gewaltigem Vorbau und langen Kleidern. Daniel hatte Spaß an diesem Treiben und schaute dabei zu, wie die Zwerge fleißig auf dem Teppich für Ordnung sorgten.

Der Trip war bereits seit mehr als zwei Stunden im Gange. Daniel genoss jede Sekunde, in der die Tapetenblumen sanft vom Wind gewiegt wurden und die Zwerge die Teppichwiese bevölkerten. Ein Zwerg hatte eine winzige Spitzhacke und versuchte damit, den großen Zehennagel von Daniels rechtem Fuß zu bearbeiten. Daniel fühlte ein Kitzeln und musste kichern, während der Zwerg sich den Schweiß von der Stirn wischte.

Dann erklang ein Horn. Der Klang ließ den Raum erschüttern. Die Kornblumen an der Wand zitterten und die Zwerge schauten sich verunsichert um. Daniel versuchte seine Ohren zu schützen, als das Horn ein weiteres Mal ertönte. Nun merkte Daniel, dass es seine Türklingel war. Jemand stand vor der Tür. Ohne groß nachzudenken, stand er auf. Die Zwerge schauten zu ihm auf, während sie mit den Achseln zuckten.

Daniel hielt den Finger vor den Mund und zischte: »Pst!«

Die Zwerge nickten sich zu und verschwanden wieder unter dem Teppich, wo sie vor zwei Stunden herausgekommen waren.

Daniel lief zur Tür und schaute durch den Türspion. Draußen stand ein Typ mit einem Brief in der Hand. Ein Postbote. Der Typ sah normal aus, wenn man davon absah, dass der Junge einen Hundekopf hatte und seine Zunge weit heraushing. Er sah aus wie ein Dackel auf Fuchsjagd. Daniel öffnete die Tür.

»Ich habe ein Einschreiben für Sie. Bitte unterschreiben Sie hier«, hechelte der Bote.

Der Junge mit dem Hundekopf hielt Daniel das Schreiben unter die Nase. Der Dackelbriefbote schien nicht bissig zu sein. Er tat geschäftig, war aber lieb und brav. Daniel setzte seine Unterschrift unter den Block, den ihm der Typ entgegenhielt. Dann nahm er das Einschreiben entgegen, schloss die Tür und ging zurück zum Sofa. Der Teppich war wieder rot und die Blumentapete fing an zu welken. Die Zwerge waren verschwunden.

Wieder erklang das Horn. Von der Wand rieselten Blütenblätter und die Wand zitterte. Daniel hielt sich gequält die Ohren zu und bekam Panik. Das Horn erklang noch zwei Mal und wurde jedes Mal lauter. Der Raum erzitterte. Was Daniel nicht wusste, war, dass der Postbote vergessen hatte, einen weiteren Brief abzugeben. Da er schon mal da war, kam er zurück und klingelte erneut. Daniel klopfte das Herz und er wusste wirklich nicht warum. Der Postbote gab am Ende auf und warf den Brief durch den Briefschlitz der Wohnungstür. Dabei rief er: »Blödes Arschloch!«

Daniel blickte entsetzt auf den Brief, der auf dem Boden landete.

Aus dem Brief drangen verschiedene Stimmen heraus. Erst leise und dann immer lauter. Es war eine Audio-Botschaft.

»Daniel, pass auf! Pass auf, Daniel! Die Zwerge kommen zurück. Pass auf, Daniel!«

Daniels Herz pochte immer wilder und er drehte sich zum Teppich um. Die Zwerge waren erneut hervorgekrochen. Sie sahen aber nicht mehr niedlich aus, sondern hatten fürchterliche Fratzen. Einigen fehlte das halbe Gesicht und andere hatten verletzte, blutende Beine. Es gab Zwerge, die hatten Sensen und Kettensägen in der Hand, andere trugen Fackeln. Die Fackel-Zwerge begannen, den Teppich in Brand zu stecken. Daniel wurde umgehend panisch. Er würde hier in Kürze abbrennen, wenn diese Teufel so weitermachten.

»Was macht ihr denn?«, rief er.

Aus Verzweiflung fing Daniel an, auf die Zwerge zu treten und sie mit seinem Schuh totzuquetschen. Die übrig gebliebenen Zwerge begannen zu flüchten. Daniel sprang wie Rumpelstilzchen auf dem Teppich herum, bis alle Zwerge erledigt waren. Er atmete schwer. Er war geschockt von seiner Tat. Die Blumen an der Wand hatten nun alle Blätter verloren und die Wiese sah trostlos aus. Unter den nackten Stängeln wimmelte es jetzt. Es waren Ameisen. Eine Straße bewegte sich auf den Fußboden und den roten Teppich zu. Die Ameisen flossen wie eine zähe Flüssigkeit in den Raum und Daniel bekam immer mehr Panik. Die Natur schien zurückzuschlagen und den Tod der Zwerge vergelten zu wollen. Daniel tat mehrere Schritte zurück und schaute hinüber zur Schlafzimmertür. Er ging hinein und wollte die Tür schließen. Dann ging ihm auf, dass die Ameisen unter dem Türschlitz einfach hindurchkommen könnten. Er riss die Tür wieder auf und rannte in die Küche. In der obersten Schublade hatte er Alufolie und er fand auch eine Rolle Klebeband. Er nahm beides und lief zurück zum Schlafzimmer. Die Ameisen bevölkerten bereits das halbe Wohnzimmer. Er musste sich jetzt beeilen. Mit einem Satz sprang er ins Schlafzimmer und warf die Tür mit Schwung zu. Umgehend machte er sich daran, mit der Alufolie den Türschlitz zu sichern. Er knetete die Folie in jede Ecke und legte drei weitere Lagen aus, die er mit dem Klebeband befestigte. Aber er musste sichergehen und so dichtete er die Tür oben und an den beiden Seiten ebenfalls mit Alufolie ab. Nach einer Dreiviertelstunde war sein Werk beendet. Gerade rechtzeitig, denn unter der Folie am Boden knisterte es bereits.

Wie lange würde die Folie halten? Daniel rechnete sich aus, dass es mindestens eine Stunde dauern würde, bevor die Ameisen-Armee durchgebrochen sein würde. Er musste weitere Sicherheitsmaßnahmen ergreifen und schaute hinüber zum Kleiderschrank. Dort könnte er sich verstecken und den Schrank von innen perfekt absichern. Das würde ihn weitere Stunden beschützen. Daniel stieg in den Schrank und fing mit der Abdichtung von innen an. Nach weiteren dreißig Minuten war sein Ameisen-Panic-Room fertig und er kauerte eine Weile im Dunkeln.

Er verlor fast jegliches Zeitgefühl, denn es war stockdunkel. Nach einer weiteren halben Stunde hielt er es nicht länger aus und kramte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Er hielt das Feuerzeug vor sich und zündete die Gasflamme, die mit einem Zischen aufloderte. Daniel taten die Augen weh. Nachdem er sich einige Sekunden später an das Licht gewöhnt hatte, schaute er geradeaus und das Blut erstarrte in seinen Adern. Er sah das Gesicht seines toten Vaters vor sich. Es war das Gesicht, wie er es auf dessen Totenbett das letzte Mal gesehen hatte. Daniel ließ das Feuerzeug fallen und schrie erstickt auf:

»Aaah! Ach du Scheiße, ach du Scheiße, ach du Scheiße, ach du verdammte Scheiße!«

Er schnaubte schwer und spürte seinen Puls am Hals. Als er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, fingerte er hastig an der Schranktür, wobei ihm ein Fingernagel abbrach. Die Tür sprang auf und Daniel rollte heraus. Der Kleiderschrank war wieder leer, aber Daniel hatte immer noch einen Puls von hundertachtzig. Er lief hinter sein Bett und kauerte auf dem Boden, wobei er seine Beine umarmte und anfing zu wippen. Es sah aus wie ein Irrer mit Hospitalismus im ausgewachsenen Stadium. Die Ameisen waren wider Erwarten nicht durch die Tür gekommen. Daniel begann zu beten und kauerte dort eine weitere Stunde, bis er sich schließlich beruhigt hatte.

Er schaute sich im Raum um, der so war, wie er ihn kannte. Dann blickte er in Richtung Tür und ihm fiel die Kinnlade herunter. Das Schlüsselloch. Er hatte das Schlüsselloch vergessen. Warum waren die Ameisen nicht durch das Schlüsselloch gekommen? Langsam dämmerte es ihm, dass all dies seiner Fantasie entsprungen sein könnte, auch wenn das Erlebte ganz reale Ängste erzeugt hatte. Daniel erhob sich und ging zur Tür. Er schaute durch das Schlüsselloch und konnte nichts Ungewöhnliches im Wohnzimmer erkennen. Die Luft war wieder rein. Er öffnete die Tür und im Zimmer sah alles aus wie immer. Tapete und Teppich, alles war ganz normal. Die Wolkendecke war verschwunden. Nun hatte er die Bestätigung, dass dies alles ein Trip gewesen war, der nun endlich abebbte. Daniel wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Was noch blieb, waren vornehmlich akustische Halluzinationen. Das Gluckern des Wassers klang im ganzen Raum. Der Kühlschrank brummte wie ein dumpfer Bienenschwarm.

Daniel fiel erschöpft auf das Sofa und blieb einfach ruhig sitzen. Die Welt um ihn herum manifestierte sich wieder in ihrer gewohnten Form. Er war am Ende beruhigt, nach fast acht Stunden wieder in der Realität angekommen zu sein. Aber es breitete sich eine Leere, eine Traurigkeit und Einsamkeit in seiner Seele aus und er hatte spontan das Bedürfnis, seine Ex-Freundin anzurufen. Daniel nahm den Hörer ab und wählte die Nummer ihrer neuen Wohnung. Es klingelte. Nach mehreren Freizeichen sprang der Anrufbeantworter an. Er hörte nach langer Zeit zum ersten Mal wieder Mayas Stimme.

»Hier Maya Blume. Ich bin leider nicht da. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht und ich rufe Sie gerne zurück.«

Daniel hatte einen dicken Kloß im Hals. Er begann zu stottern:

»Maya, ich … ich bin's, Daniel. Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht.«

Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er schluchzte.

»Ich … ich wollte nur sagen, es tut mir alles wirklich leid. Ich hoffe, du bist jetzt glücklicher. Ich wollte dir nie wehtun. Ich wünsche dir alles Gute.«

Dann konnte er nicht mehr weitersprechen. Er legte auf und fing an, hemmungslos zu heulen. Die Gefühle übermannten ihn schlichtweg. Es hatte etwas Deprimierendes, aber auch Befreiendes für Daniel. Nach einiger Zeit wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und legte sich in sein Bett. Mittlerweile war der Drogentrip komplett vorbei, er war wieder in der realen Welt und schlief erschöpft bis zum nächsten Morgen.

Tödliche Inspiration

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