Читать книгу Tödliche Inspiration - Stefan Ramaker - Страница 6
ОглавлениеDie Abfindung
Daniel war mehr als nur zufrieden, als er den Brief seines Anwaltes öffnete. Der Streit mit der Firma war zu seinen Gunsten ausgegangen. Sein ehemaliger Arbeitgeber hatte der außergerichtlichen Einigung zugestimmt. Daniel sollte sein Gehalt für ganze sechs Monate weiter beziehen und darüber hinaus eine Abfindung in Höhe von zwanzigtausend Euro erhalten. Dafür würde er im Gegenzug eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen.
Der Rechtsverdreher hatte gute Arbeit geleistet, aber etwas anderes hatte Daniel auch nicht erwartet. Er besaß einige nette Fotos von der Geschäftsleitung, geschossen auf der letzten Weihnachtsfeier, die nicht nur den Geschäftsführer in Unterhosen zeigten, sondern auch einige der besten Kunden, volltrunken mit einem Joint in der Hand, einer Reihe leerer Bierflaschen auf dem Tisch, dazu leicht bekleidete Damen, die auf demselbigen tanzten. Diese Feier hatte der Firma am Ende langfristige Verträge gesichert. Daniel schickte seinem Chef diese Fotos, als er wegen der vielen Krankheitstage gefeuert worden war. Er hatte in seiner Mail unverbindlich gefragt, ob er die Bilder von seinem Computer löschen solle oder ob sie Abzüge möchten. Daniel musste immer noch schmunzeln beim Gedanken, wie der alte Schmitt wohl aus der Wäsche geschaut haben mochte, als er die Schnappschüsse gesehen hatte.
Dieses kleine Druckmittel in den Verhandlungen gab nur den letzten Ausschlag, denn die Kündigung wegen Krankheit wäre ohnehin nicht zulässig gewesen. Es lief insgesamt gut für Daniel, der von diesem beschissenen Laden, den ganzen Werbe-Tussis und aufgeblasenen Managern ohnehin bis obenhin die Schnauze voll hatte.
Ja, er hatte die Nase voll davon, Werbetexte für Produkte zu schreiben, die voll mit Gift waren, oder für Bankkredite, die für überschuldete Kunden sorgten. Er hatte keine Lust mehr, von überdimensionierten Geländewagen zu schwärmen, die reine Dreckschleudern waren und den Besitzern als Penisverlängerung im Straßenverkehr dienten, als Zeichen von angeblicher Macht und Wohlstand, gepaart mit einem absurden Outlaw- und Outdoor-Gefühl, das er mit seinen Slogans so blumig heraufbeschwor. Was für eine verdammte Verschwendung von Zeit und Talent.
Nein. Daniel hatte etwas anderes vor. Er hatte vor, einen Bestseller zu schreiben. Einen Krimi, der natürlich von einem renommierten Verlag verlegt und später verfilmt werden würde. Diesen Plan hatte er bereits vor Monaten gefasst. Seine Krankentage kamen zusammen, weil er es selbst auf eine Kündigung angelegt hatte. Die Vorfälle der Weihnachtsfeier passten dabei einfach nur perfekt in sein Buchkonzept, in seinen Exit-Plan.
Daniel wollte raus aus dem geistlosen Job und ein Jahr an dem Werk schreiben. Er hatte vor vier Wochen seine Lebensversicherung gekündigt, um weitere Mittel freizumachen. Er würde dadurch Geld verlieren, das war ihm klar. Die Versicherung hatte sich dann auch gefreut, einen alten Vertrag mit guten Zinskonditionen auflösen zu können.
Den Bescheid der Versicherung hatte Daniel heute ebenfalls mit der Post erhalten. Es war Zahltag!
Er rechnete emsig zusammen. Da waren die Lohnfortzahlung, die Abfindung und die Lebensversicherung, alles zusammen waren das gut fünfzigtausend Euro. Daniel hatte weitere fünfzehntausend auf seinem Sparkonto. Das sollte genügend Geld sein, um sein Buch in aller Ruhe schreiben zu können. Auch wenn es mehr als ein Jahr dauern würde und vielleicht ein weiteres halbes Jahr, bis die ersten Einnahmen hereinkommen würden. Was sollte ihm passieren? Er hatte sich befreit von der ganzen Last der letzten Jahre. Darauf wollte er jetzt anstoßen und sich alsbald an die Arbeit machen.
Daniel war auf alle Fälle nach einer Party zumute und er würde nicht allein feiern wollen. Nur, wen konnte er anrufen? Seine Ex-Freundin Maya, mit der seit vier Wochen Schluss war? Er würde gerne wieder eine Nacht mit ihr verbringen. Aber seit der letzten Auseinandersetzung war er skeptisch, ob Maya Lust darauf hätte, mit ihm zu feiern, geschweige denn mit ihm im Bett zu landen. Vielleicht hatte sie schon einen neuen Freund.
Daniel hatte nicht viele echte Freunde vorzuweisen, solche, die er häufiger traf, und keinen, mit dem er persönliche Dinge besprach. Auch so ein beschissener Effekt seiner Arbeit. Als Werbetexter hatte er in den letzten Jahren nie Zeit für andere Menschen gefunden. Daniel schlug das Adressbuch auf.
Sein Bruder Arne Alberts stand zuoberst im Adressbuch. Arne hatte bereits ein Kind und war längst bodenständig geworden. Nein, das würde keine Party werden, wenn Arne am Ende von Mama anfangen würde. Je mehr Namen Daniel in den Seiten nachschlug, umso mehr wurde ihm klar, dass er mit seinen dreißig Jahren ziemlich allein dastand, wenn es um eine durchzechte Nacht auf dem Kiez ging. Dann fiel ihm Peter ein. Peter war ein ehemaliger Schulfreund. Der Einzige, der von den alten Bekannten keine Beziehung hatte und keinen Beruf. Er war seit ewig schon arbeitslos und meldete sich immer mal, wenn er Geld brauchte. Peter war darüber hinaus ein lustiger Vogel. Der Richtige für eine großartige Nacht. Und es war Freitag.
Yippie-Ya-Yeah, Schweinebacke, das war es!
Daniel zögerte nicht lange und wählte die Nummer. Er hatte Peter das letzte Mal vor einem Jahr gesehen, aber er wusste, Peter war die passende Begleitung für eine Feier zum Start in ein neues Leben. Das Telefon klingelte am anderen Ende der Leitung und jemand hob tatsächlich ab.
»Hallo?«, kam es verschlafen von der anderen Seite.
»Peter? Ich bin es, Daniel. Alter Schwede, ist alles klar bei dir?«
Einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Man konnte Peter regelrecht denken hören.
»Daniel Alberts?«, sagte Peter verwirrt.
»Ja klar, wer denn sonst, du alte Socke? Hör mal. Ich habe meinen Job geschmissen und wollte darauf anstoßen. Hast du Lust auf eine Party auf dem Kiez?«
Peter hustete. »Ich war gestern schon auf einem Konzert im Grünspan und bin heute ziemlich im Arsch.«
Daniel versuchte es mit Motivation. »Hey Kollege, so kenn ich dich ja gar nicht. Wir gehen was essen und dann schauen wir mal im Irish Pub vorbei. Ich bezahle den ganzen Abend.«
Peter dachte anscheinend wieder nach. Dann antwortete er: »Na okay, von mir aus.«
Daniel grinste. »Wir treffen uns um neun im Steakhaus auf der Reeperbahn, okay?«
»Alles klar, Mann!«, sagte Peter und beendete das Gespräch.
Daniel machte sich ein Bier auf und ging an den Schreibtisch. Er hatte noch ein paar Stunden und wollte die ersten Seiten seines Romans schreiben. Er erstellte ein Officedokument und speicherte es unter dem Namen bestseller_daniel.doc ab.
Nein, bescheiden war Daniel nicht. Er war jetzt frei.
Das weiße Dokument blickte ihn an. Wo sollte er anfangen? Es sollte ein Krimi werden, mit jeder Menge Action, so viel war klar. Über mehr hatte er sich keine Gedanken gemacht. Er hatte es als Arbeit angesehen, die er technisch und strategisch angehen würde. Er, der Texter, hatte das Handwerkszeug dafür.
Dann schrieb er den ersten Satz:
Maik war ein beinharter Typ, dem die Frauen zu Füßen lagen.
Hm, irgendwie hörte sich das zu pathetisch an. Er löschte den Satz und fing noch einmal an:
Es war Freitag und Maik wollte heute einen draufmachen.
Genau, das war es. Er würde mit einer Party anfangen, mit so einer, wie er sie heute selbst erleben würde. Also schrieb er von einem Abendessen und von Bars, in denen sein Protagonist herumhängt.
»Hey Baby, ich kann hellsehen … heute Nacht, da schläfst du bei mir!«
»Du bist so cool«, antwortete die Blondine mit der großen Oberweite.
Mist! Was war das für eine bescheuerte Konversation, die er dort niederschrieb. Die ganzen ersten vier Seiten waren viel zu gequält, konstruiert, an den Haaren herbeigezogen und einfach ohne Leben. Daniel ärgerte sich und löschte die Seiten bis auf den ersten Satz, der ihn verloren anstarrte. Was war mit ihm los? Sonst sprühte er über vor Geschichten. Als Werbetexter hatte er flotte Sprüche für Energiedrinks geschrieben, bei denen allein schon der Zuckergehalt für lang anhaltende Hyperaktivität sorgte. Ein Roman bestand aber nicht aus einer Aneinanderreihung von Sprüchen. Es brauchte eine plausible Handlung, die der Leser nachvollziehen konnte. Es musste lebendig werden.
»Bleib cool, entspann dich!«, sagte er laut zu sich selbst.
Daniel schaute auf die Uhr und merkte, dass es bereits nach acht Uhr war. Es war langsam an der Zeit zu gehen. Er würde morgen weiterschreiben und den heutigen Abend erst einmal genießen. Von seiner Altbauwohnung in Ottensen war es nicht weit bis zum Kiez. Er nahm die S-Bahn und fuhr eine Station von der Königsstraße zur Haltestelle Reeperbahn. Das Steakhaus lag auf der anderen Seite der Reeperbahn und so lief Daniel die komplette Meile hinunter. Er kam fast pünktlich an. Vor dem Gebäude stand schon Peter mit hochgeklapptem Mantelkragen. Er sah wirklich fertig aus, hatte eine Zigarette in der Hand und zitterte etwas. Es ging auf den Oktober zu und es wurde kalt in der Stadt.
»Peter, alte Filzlaus, wartest du schon lange?«
Peter wippte von einem Bein auf das andere und schnippte seine Zigarette auf den Bürgersteig.
»Hey Daniel. Ne, ich bin auch gerade angekommen. Du, ich muss dir ehrlich sagen, ich bin völlig blank, ich kann nichts zahlen.«
Daniel grinste. »Mann Junge, mach dir mal keinen Kopf. Ich habe doch gesagt, ich bezahl alles. Jetzt lass uns mal reingehen und was essen.«
Sie bekamen einen Tisch an der Fensterfront und konnten sehen, wie die Meute langsam die Reeperbahn bevölkerte. Daniel und Peter hatten sich lange nicht gesehen und irgendwie wussten sie nicht so richtig, worüber sie reden sollten. So schwiegen sie eine Weile, während ihnen die Speisekarten gebracht wurden.
»Hast du Bock auf ein Bier?«, fragte Daniel, während er die Karte studierte.
»Wer, ich?«, antwortete Peter überrascht. »Vielleicht sollte ich lieber mit einer Cola starten.«
»Nun komm mir nicht so, Kollege. Ich will einen draufmachen.« Daniel schüttelte den Kopf und verzog verächtlich den Mund.
»Jaja, ist schon okay. Also dann ein Bier.«
Daniel orderte: »Bringen Sie uns zwei große Holsten.«
»Alles klar, gerne«, antwortete der Kellner.
»Hey, und Strafe muss sein. Bringen Sie uns zwei Tequilas dazu. Mit Salz und Zitrone.«
Die Getränke kamen und die beiden gaben die Bestellung fester Nahrung auf. Daniel nahm ein T-Bone-Steak mit Backkartoffel, dazu einen Coleslaw und verschiedene Saucen. Peter beschränkte sich auf einen XXL-Burger mit Pommes.
»Und was machst du jetzt so, Alter?«, fragte Peter, während er in den Burger biss. Der Ketchup lief ihm die Wange herunter.
»Ich habe meinen Job geschmissen. Hatte keinen Bock mehr auf den Mist. Ich werde jetzt erst mal eine Weile chillen und an einem Buch schreiben.«
Daniel kam in Fahrt und erzählte von seinen Plänen und dem neuen Leben, das er ab sofort beginnen würde.
»Aber du hattest doch einen guten Job. Den hast du einfach so hingeschmissen?«
Peter klang vernünftiger, als es Daniel vermutet hätte. Es schien, dass Peter im Alter anfing, mit seinem verkorksten Leben zu hadern.
»Peter, so spießig kenn ich dich ja gar nicht. Wo ist der coole Typ hin, mit dem ich früher um die Häuser gezogen bin? Ne, das war schon die richtige Entscheidung. Ich mache jetzt das, was ich wirklich will. All diese Arschlöcher können mich mal.«
Daniel gefiel sich in seiner Rolle. Er redete in einer Tour über die frühere Agentur, auf die er kotzen könnte, und wie er nun alles ändern würde. Er bedauere nur, nicht viel früher Schluss gemacht zu haben. Während Daniel schwadronierte, bestellte er die nächste Runde Bier und Tequila. Gegen halb elf waren sie fertig mit dem Essen; Daniel bezahlte alles und legte einen Fünfer als Trinkgeld drauf. Mittlerweile waren die beiden auf Betriebstemperatur und gingen aus dem Restaurant vor die Tür.
»Riechst du das?«, fragte Daniel.
»Was denn?«, antwortete Peter verdutzt.
»Das ist der Geruch der Freiheit.« Daniel klopfte Peter auf die Schulter.
»Komm, wir gehen erst einmal in den Irish Pub und heben einen.«
Peter stöhnte und stieß hörbar seinen Atem aus. Er wusste, dass Widerstand zwecklos war.
»Also von mir aus, lass uns gehen.«
Sie nahmen Kurs auf das Hans-Albers-Eck und der Abend nahm seinen unheilsamen Lauf. Im Molly Malone war es, wie immer zu dieser Zeit, überfüllt und die beiden schafften es gerade so, von den Türstehern durchgelassen zu werden. Peter kannte einen der beiden Gorillas und konnte ihn überreden, sie reinzulassen. Der Weg war frei. Im Pub spielte ein Typ mit Gitarre die Top 50 der letzten vierzig Jahre. Das war das Standardprogramm am Wochenende und funktionierte bereits seit Jahrzehnten mit wechselnden Musikern.
Daniel bestellte zwei Wodka-O-Saft und die nächsten Tequilas. Der Typ auf der Bühne war schon bei Country Road angelangt und die Menge vor der kleinen Bühne tobte. Es ging auf Mitternacht zu und es folgten einige Drinks. Daniel und Peter standen an der Bar und Daniel versuchte sich daran, eine Blondine aufzureißen. Er war aber nicht im Training und das Mädchen zeigte wenig Interesse. Daniel versuchte es mit einer Runde Sambuca mit Kaffeebohnen.
Neben Daniel stand Peter. Er hatte anscheinend ebenfalls jemanden abbekommen. Die Tussi war aufgedonnert bis zum Gehtnichtmehr, hatte dunkle Netzstrümpfe an und ein bauchfreies Top. Daniel hätte diese abgetakelte Tussi niemals angemacht, aber Peter schien seine Freude zu haben. Sie flüsterte Peter in einer Tour etwas zu und Peter strahlte über beide Ohren. Dann machte die Alte Peter ein Zeichen und Peter nickte kurz, während er sich Daniel zuwandte.
»Hey Mann, die ist echt heiß auf mich. Ich bin mal kurz draußen und in zehn Minuten zurück.«
Daniel machte große Augen.
»Alter, du willst doch jetzt nicht so einfach türmen und mich zurücklassen? Wenn du die flachlegst, dann bist du doch in fünf Stunden noch nicht zurück.«
Peter hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, Alter. Die Tussi will mir einen blasen. Hier um die Ecke. Ich bin gleich wieder da.«
Daniel musste lachen, während er Peter mit der geschminkten Schabracke in Stöckelschuhen davontraben sah. Das blonde Mädchen, das gerade eben noch neben ihm gesessen hatte, war verschwunden. Er sah sie vor der Bühne stehen, wo sie mit einer Flasche Bier in der Hand ausgelassen zur Musik tanzte. Daniel war allein an der Bar und blickte hinter den Tresen, wo zwei Mädels der Bedienung miteinander tuschelten und Daniel dabei anschauten. Sie amüsierten sich sichtlich. Daniel lächelte zurück. Die beiden waren um die zwanzig. Die eine flüsterte der anderen etwas ins Ohr und diese fing an laut zu prusten, während sie die Hand vor den Mund hielt. Daniel wurde von der Bedienung regelrecht angestarrt.
Ihm wurde es zu dumm, er wurde ungehalten und zeigte dies auch. Warum glotzten die beiden ihn nur so doof an? Die Mädels schienen zu bemerken, dass sie Daniel verärgert hatten, und die eine, die der Freundin ins Ohr geflüstert hatte, kam zu Daniel herüber.
»Habe ich irgendwas im Gesicht? Gibt es einen Grund, warum ihr über mich lacht?«, fragte Daniel.
»Überhaupt nicht«, antwortete die Bedienung, während sie sich über den Tresen beugte, um gegen die Musik anzukommen.
»Es geht um deinen Freund und seine Bekanntschaft.«
»Ja und? Was ist mit ihm? So hässlich war die Tussi nun auch nicht, oder was gibt es da zu lachen?«
Die Bedienung grinste über beide Wangen. »Darum geht es eigentlich auch gar nicht. Aber die Tussi da ist keine Tussi, das ist ein Typ.«
»Verdammte Scheiße!«, rief Daniel, während ihm klar wurde, was das bedeutete.
Die Bedienung fuhr fort: »Der hat immer die gleiche Masche. Ich kenne ihn. Ist eigentlich ein netter Kerl. Aber heute hat es nun mal deinen Freund getroffen. Und die beiden sind ein lustiges Paar. Darum haben wir gelacht, nicht wegen dir.«
Daniel brach in brüllendes Gelächter aus und konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. Jetzt machte alles einen Sinn. Welche Frau würde den heruntergekommenen Peter auf der Stelle mündlich beglücken wollen? Das war ihm schon recht merkwürdig vorgekommen.
»Bring mir noch einen Wodka-O!«, rief Daniel der Bedienung heiter zu, während der Musiker auf der Bühne bei Living next door to Alice angekommen war.
»Who the fuck is Alice?«, brüllte die Menge.
Als nach einer Viertelstunde Peter und seine Begleitung zurückkamen, strahlte Peter über das ganze Gesicht. Er stellte sich wieder an die Bar neben Daniel und die Tussi hielt einen Meter Abstand. Sie oder, besser gesagt, er unterhielt sich mit dem nächsten Pub-Besucher.
Die Bedienung ging in die Knie vor Lachen. Peter merkte es nicht und trat näher an Daniel heran.
»Alter, das war wie Ostern und Weihnachten zusammen. Die Schlampe hat mich gerade richtig verwöhnt.«
Daniel hatte einen Schluck Wodka-O genommen und musste sich beherrschen, diesen nicht über den Tresen zu verteilen.
»Peter, wir sollten uns lieber verpissen.«
Peter protestierte: »Kommt gar nicht in Frage. Ich schleppe die Alte heute ab. Wir haben uns schon verabredet für später.«
»Mein Junge«, meinte Daniel, »ich möchte dir nicht die Illusion nehmen, aber die Tussi, die dir gerade deine Nudel bedient hat, ist anders, als du denkst.«
Peter protestierte weiter.
»Das ist mir doch scheißegal, wie die ist. Mann, ich habe schon seit Monaten nicht mehr gevögelt.«
Jetzt war es zu spät und Daniel prustete den Wodka-O quer über den Tresen. Auch die Mädels hinter der Bar hielten sich gegenseitig in Lachkrämpfen umklammert.
»Peter, die Tussi ist ein Typ!«, rief Daniel, als er sich wieder eingekriegt hatte. Peter schaute immer fragender aus der Wäsche. Man konnte den Groschen förmlich fallen hören.
Peter blickte sich um und schaute entsetzt den Transvestiten an. Der hatte mittlerweile mitbekommen, dass Peter die Wahrheit kannte. Er lächelte und warf ihm eine Kusshand zu.
»Ich will hier raus«, sagte Peter humorlos. »Sofort!«
Sie gingen nach draußen, flankiert von dem Gelächter hinter dem Tresen und vorbei an dem Transvestiten, der schon am nächsten Lover arbeitete.
Peter war nicht nach Scherzen zumute und vor der Tür brach es aus ihm heraus:
»Daniel, wenn du jemals irgendjemand davon erzählst, dann …, ja dann …«
Irgendwie fehlte es Peter an Druckmitteln.
»Dann ist es aus mit unserer Freundschaft!«
Daniel vermied es, Öl ins Feuer zu gießen, und sagte ernst: »Hey Peter, mach dir keinen Kopf. Von mir erfährt niemand was. Aber dafür gehen wir noch in die Lilly-Bar auf einen Absacker, okay? Deal?«
Peter schien skeptisch, aber er hatte wohl keinen anderen Plan.
»Okay«, sagte er knapp.
Daniel konnte sich eine letzte Bemerkung nicht verkneifen:
»Hey, aber als du zurückgekommen bist, sah es aus, als wenn es dir gefallen hätte.«
»Halt einfach die Fresse!«, sagte Peter.
In der Lilly-Bar war es entspannter und es wurde Lounge-Musik gespielt. An der Bar sahen sie einen jungen Typen mit zwei hübschen Mädels. Daniel hielt Kurs auf die Gruppe, positionierte sich daneben und gab seine Bestellung auf:
»Zwei Holsten und zwei Tequilas.« Dann schaute er zur Seite.
»Hey Mädels, Bock auf eine Runde Tequila?«
Die Mädchen waren gerade erst volljährig, aber schon recht betrunken. Sie tanzten und warfen johlend die Arme hoch.
»Ja, klar doch. Schaff ran das Zeug!«
Der Junge, der sie begleitete, sah eher nüchtern aus. Wie zum Beweis hatte er eine Limonade vor seiner Nase stehen. Er trug Designerklamotten auf lässig gemacht und schien eher der höheren Bildungskaste zugehörig.
»Jacqueline, Diana, ich habe eurer Mutter versprochen, euch vor halb eins zurückzubringen.«
Die Mädels verzogen das Gesicht und machten dem Jungen klar, dass er eine echte Spaßbremse war.
Solche Typen waren für Peter ein gefundenes Fressen. Er hatte früher mal drei Semester Philosophie studiert und fing an, dem Jüngelchen einen Vortrag über Freiheit und Selbstbestimmtheit zu halten. Er sprach über Easy Rider und die Hippie-Bewegung. Der Junge hatte anscheinend auf dem Gymnasium ebenfalls einen Philosophie-Leistungskurs belegt und hielt mit Zitaten und Argumenten dagegen.
Währenddessen beschäftigte sich Daniel mit den Mädchen. Die Schwestern hatten ordentlich getankt und Daniel ließ ein paar blöde Scherze los. Der Alkohol schien der Stimmung zuträglich zu sein. Der Junge, der sich als Freund von Jacqueline herausstellte, war emsig dabei, den Argumenten von Peter etwas entgegenzuhalten, wie ein Klassenbester auf einer Mathematik-Olympiade.
Gut für Daniel. Er hatte freie Bahn und heizte die Mädchen an. Hinter dem Rücken des Freundes wurden Sambucas und Tequilas gekippt. Daniel war stolz auf Peter, der philosophisch auf hohem Niveau argumentierte. Der Junge wollte aber partout nicht nachgeben und hielt mit diversen Denkern dagegen, die er im Leistungskurs kennengelernt hatte.
Daniel kam in dieser absurden Situation eine Idee. Er und Peter, die an Jahren einiges mehr auf dem Buckel hatten, würden dem Jungen eine Lektion fürs Leben erteilen. Und er wusste in diesem Moment, wie das funktionieren würde.
Daniel führte die beiden Mädchen einen Meter weiter weg und fing an, sie anzustacheln.
»Hey, der Typ da ist ja ein echter Langweiler. Habt ihr auch so einen Stock im Arsch?«
Die Mädchen kicherten. Jacqueline übernahm das Zepter:
»Ach, der Jan Kevin ist okay, aber er hat so komische Ansichten. Er möchte am liebsten eine unbefleckte Jungfrau heiraten.«
»Da hat er wohl Pech gehabt«, fiel die Schwester kichernd ein.
»Okay«, sagte Daniel, »ihr seid cool. Ich möchte eure Unterhosen kaufen. Jetzt. Für hundert Euro.«
Die beiden Schwestern fingen an zu lachen.
»Was bist du denn für ein Vogel?«
Daniel lächelte die beiden an. »Was denn? Habt ihr Angst? Ihr geht einfach runter in die Toilette und entledigt euch der Wäsche. Und schon sind hundert Euro in eurer Hand. Nicht mehr und nicht weniger.«
Jacquelines Schwester kicherte, aber Jacqueline wurde langsam forsch.
»Hundertfünfzig Euro für jeden Slip, okay?«
Daniel hob die Hände »Geht klar, Mädels.«
Die Schwestern verschwanden die Treppe hinunter in die Katakomben auf die Toilette und kamen nach nicht einmal fünf Minuten kichernd zurück. Sie übergaben die Slips wie ein Drogenpaket und hielten die Hand auf. Daniel bezahlte und machte Peter ein Zeichen, dass sie gehen würden. Er stellte sich zwischen Peter und den Jungen und zahlte seine Zeche. In der Hand hielt er die Unterwäsche der Mädchen und die Schwestern wurden rot. Der Junge schaute verwirrt, als Daniel die Trophäen hochhielt. Vielleicht roch der Junge sogar sein Mädchen. Dann sprach Daniel den Abschiedssatz:
»Wer zu viel Hochmut zeigt und nur dem unnützen Wissen hinterhereilt, der sollte lieber mal auf die Unterhose seiner Freundin achten. Das sagte zumindest Nietzsche.«
Mit diesen Worten steckte er die beiden Slips in das Limonadenglas des Jungen und wandte sich feierlich Peter zu.
»Komm, wir gehen.«
»Richtig«, sagte Peter, einen eigenen Abschiedssatz findend:
»Nicht jeder, der auf dem hohen Ross sitzt, kann auch reiten.«
Damit gingen sie aus der Bar und ließen den Jungen und die beiden Mädchen zeternd zurück.
Peter schwankte vor der Tür bedenklich, aber er kicherte: »So was soll Nietzsche gesagt haben?«
»Was weiß ich?«, lallte Daniel. »Kann doch sein.«
Beide mussten sich vor Lachen gegenseitig stützen und machten sich weiter auf den Weg durch die Nacht. Es folgten drei weitere Stunden voller irrsinniger Geschichten und Unsinn, den die beiden verzapften. Peter schaffte es, einem Polizisten seine Dienstmütze zu klauen, als dieser sie bei der Festnahme eines Randalierers verloren hatte. Sie schickten einige Touristen anstatt zum Fischmarkt mit der U-Bahn nach Billstedt, einem Stadtteil am anderen Ende der Stadt. Zum Schluss malten sie einem Betrunkenen, der in einer Kneipe komatös schlief, mit einem Filzstift die vorderen Zähne schwarz. Peter weckte den Typen anschließend auf und flüsterte ihm zu, dass die Rothaarige an der Bar ihn mit nach Hause nehmen würde, wenn er nur ein einziges Mal lächeln würde. Der arme Kerl lächelte und die Rothaarige fiel umgehend vor Lachen vom Hocker. Es war ohne Worte, was an diesem Abend alles passierte.
Diese Nacht war ein voller Erfolg. Der Morgen dämmerte bereits, als Peter und Daniel die Segel strichen und sich voneinander verabschiedeten. Daniel fuhr nach Hause und haute sich aufs Ohr.