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Peters Jubiläum

Peter lag im Bett. Er hatte die Nacht zuvor wieder mit einigen Kollegen gefeiert. »Kollegen« war der richtige Begriff für die gescheiterten und drogensüchtigen Figuren, mit denen er in der Regel herumhing. Freunde gab es in seiner Szene so gut wie keine. Jeder war beständig auf der Suche nach Geld und Drogen, wobei das eine notwendig war, um das andere zu bekommen. Jeder dieser Typen hatte so seine Mittel und Wege, um an Geld zu kommen. Das fing mit Flaschensammeln und Bettelei an, ging über Ladendiebstahl bis hin zu kleineren Überfällen. Einige Jungs prostituierten sich. Knapp bei Kasse war naturgemäß jeder von ihnen und, ach ja, jeder von ihnen dealte, was zwangsläufig passierte, wenn man selbst das Zeug brauchte und für das »Besorgen« etwas abzweigen konnte. Ein Wirt, der sein bester Kunde ist, bekommt über kurz oder lang Probleme, wie man weiß. Das galt im übertragenen Sinne auch für diese Kollegen, wobei die Auseinandersetzungen häufiger im Krankenhaus endeten. Veruntreute Drogengelder waren der Gesundheit selten zuträglich. Nein, Freunde waren das sicher nicht, eher gab es eine Leidensgemeinschaft einsamer, zerfallender Gestalten.

Peter hatte es heute Vormittag schon einmal aufs Klo geschafft. Das war zwar eine Notwendigkeit, aber er sah es bereits als eine Form von Leistung. Beim Klo-Gang schaute er nebenbei auf den Kalender und es fiel ihm ein, dass er heute auf den Tag genau seit zwanzig Jahren arbeitslos war. Na, so was!

Den 23. September, den Tag, an dem er entlassen worden war, hatte er sich eingeprägt. Zugegeben, er hätte als junger Kerl vielleicht nicht ausgerechnet die Frau vom Chef vögeln müssen, selbst wenn die es auch mit anderen Gesellen getrieben hatte. Aber es war nun mal passiert. Jetzt, zwanzig Jahre später, hatte er sich mit seinem Schicksal arrangiert. Also, was lag an solch einem Tag näher, als wieder ins Bett zu gehen?

Peter tat genau das. Er knipste die Glotze an und schaute sich verschiedene Dokumentationen auf 3sat an, während er eine Tasse Instantkaffee mit viel Zucker schlürfte.

Peter schwelgte in Erinnerungen. In den ersten Jahren der Arbeitslosigkeit beneideten ihn all seine Schulfreunde darum, dass er es immer wieder schaffte, vom Arbeitsamt nicht behelligt zu werden. Peter war auf jeder Party und hatte immer Zeit. Er war natürlich immer knapp bei Kasse, aber er hatte eigentlich keine Sorgen. Und er war ein Original. Alle kannten Peter und luden ihn ein. Peter schnorrte sich durch sein Leben. Er machte sich keinen Kopf um seine Zukunft, und genau das war es, weshalb er in seiner Szene bewundert wurde. Jungen und Mädchen aus gutem Elternhaus, die sich insgeheim auch wünschten, den ganzen Verpflichtungen zu entkommen, fanden Peter einfach nur cool und befreit.

Das Geheimnis von Peters Erfolg im Sozialsystem war relativ einfach zu erklären. Peter hatte eine Gruppe sorgsam ausgewählter Ärzte, die neben einigen Schmerzmedikamenten auch die benötigten Atteste verschrieben. Es war eine unausgesprochene Win-win-Partnerschaft, die sich über Jahre erstreckte. Die von Peter auserkorenen Ärzte, denen er treu blieb, verdienten an den Rezepten mehr als nur gut und sie alle schrieben der Krankenkasse diverse Untersuchungen auf, die es nie gegeben hatte. Sie wussten genau, jemanden wie Peter interessiert das ohnehin nicht. Typen wie Peter, dachten sie, wollen nur Medikamente, Atteste und den Gelben Schein. So gab es in diesem Spiel auf allen Seiten Gewinner, wenn man mal vom Arbeitsamt absah.

Die Sachbearbeiterin, eine ältere Mutti, schien nach einigen Jahren fest davon überzeugt, dass sie mit Peter ein nicht in die Arbeitswelt integrierbares Wrack vor sich hatte. Eine traurige Geschichte und aussichtslos. Daher schenkte sie sich jegliche Versuche, Peter Jobangebote zu schicken.

In den darauffolgenden zehn Jahren verschlechterte sich die Situation zunehmend. Sozialgesetze wurden verschärft, die Mieten stiegen, die Sozialbezüge dagegen erhöhten sich kaum. Alles wurde teurer. Die Arbeitsagentur, wie man sie fortan nannte, machte Peter Druck. Doch er hielt mit seinen Ärzten und den Attesten tapfer dagegen. Am Ende blieb alles beim Alten, nur das Geld wurde knapper. Und die ganzen alten Freunde aus der Schule waren nicht mehr auf den Partys zu sehen, die es ohnehin so nicht mehr gab. Sie waren älter geworden. Viele von ihnen waren mittlerweile in festen Beziehungen oder verheiratet, schickten über soziale Netzwerke Urlaubs- und Babyfotos und erzählten stolz von ihren gut bezahlten Jobs oder dem Hauskauf mit Topzins und nur zwanzig Jahren Laufzeit.

Jetzt, zwanzig Jahre später, bedauerte Peter seinen Lebenswandel oder, besser gesagt, was er verschlafen hatte. Alle anderen waren in den Zug Richtung Zukunft gestiegen, nur er nicht. Er war allein auf der Party zurückgeblieben und jetzt waren da keine Freunde mehr, sondern nur diese Zombies, die den Drogen hinterherjagten. Die Party war vorbei, das Lachen, die Freude von früher war verschwunden.

Während die Glotze flimmerte, dachte Peter an Daniel. Sie waren in der Schule Freunde gewesen, aber auch später noch hatten sie sporadisch den Kontakt aufrechterhalten. Peter und Daniel teilten ein Schicksal: ein verkommenes Elternhaus mit einem saufenden und schlagenden Vater. Am Ende hatte Daniel wie alle anderen die Kurve bekommen und diesen Job als Werbetexter bei einer Werbeagentur bekommen. Daniel war einer der cleversten Jungs in der Schule, wenn seine Fähigkeiten auch von den Lehrern verkannt wurden.

Mit Worten konnte Daniel immer schon hervorragend spielen, so wie ein Musiker mit Noten und Akkorden. Ebenso beherrschte er die Klaviatur der Gefühle und fand immer den richtigen Ton. Peter erinnerte sich daran, wie er aufgrund ausstehender Mietzahlungen die Kündigung seiner Wohnung bekommen hatte und wie Daniel dem Vermieter einen Brief geschrieben hatte, damit die Kündigung zurückgenommen wird. Daniel hatte nur zwei Seiten verfasst und der Vermieter ließ die Kündigung daraufhin umgehend fallen. Der Brief beinhaltete eine elegante Mischung aus Andeutungen rechtlicher Konsequenzen sowie der bedingungslosen Versicherung, dass die Kostenübernahme des Staates sicher sei. Er begründete den individuellen Fall menschlich und aufgrund schwerer Schicksalsschläge und Krankheiten des armen Mieters. Daniel schloss den Brief mit dem Hinweis auf seine Verbindungen zu den Tageszeitungen und Medien, die sich alle für soziale Härtefälle in der Stadt interessierten. Er hatte dem Vermieter angeboten, ein offenes Gespräch zu diesem Fall mit einem Journalistenteam zu führen. Der Vermieter strich nach diesem Brief die Segel.

Nach dem Vorfall gab es einige Jahre keinen Kontakt mehr. Daniel hatte in seinem Job anscheinend viel um die Ohren. Peter hatte über verschiedene Kanäle mitbekommen, dass Daniel mit einem zuckersüßen Mädchen von der Schule zusammengekommen war, und zwar mit Maya.

Die Bilder in den sozialen Netzen zeigten Daniel und Maya in Vietnam, in Indien und im Winter in den Alpen beim Skifahren. Ein glückliches Paar, wie Peter damals dachte, bis vor ein paar Tagen, als ihn Daniel nach mehr als vier Jahren angerufen hatte. Peter war beunruhigt, denn das, was er mit Daniel die Tage erlebt hatte, zeigte, dass dessen Leben aus den Fugen geraten war, wenngleich er ihm weismachen wollte, dass er dabei war, ein freies Leben anzufangen. Der Junge hatte eine gute Arbeit und ein nettes Mädchen und nun probierte er Drogen aus und hatte den Job geschmissen. Peter hatte mit seinem eigenen Schicksal mehr oder minder abgeschlossen, aber es tat ihm leid, wenn einer wie Daniel anfing, sich selbst zu zerstören. Und den Niedergang hatte Peter in seinen Kreisen allzu häufig miterlebt.

Auf 3sat putzte gerade ein Paradiesvogel in Papua-Neuguinea seinen Bau für die Angebetete heraus und präsentierte seinen Federschmuck, als das Telefon klingelte.

»Ja?«, sagte Peter kurz.

»Hey Mann, ich bin es, Daniel.«

Peter war etwas verdutzt. Was für ein Zufall.

»Mensch Alter, ich habe gerade an dich gedacht. Alles gut bei dir? Hast du wieder einen Job?«

Daniel versuchte locker zu klingen: »Job? Vergiss es! Nein, alles im Lack bei mir. Ich wollte nur kurz sagen, ich habe alles probiert. Das letzte Tütchen habe ich vor drei Tagen genommen. Echt abgefahren. Aber auch sehr heftig, das Zeug, kann ich dir sagen.«

Peter regte sich etwas auf:

»Hey Mann, erzähl mir so was nicht am Telefon. Komm lieber vorbei, wenn du quatschen willst.«

Daniel fühlte sich ertappt, blieb aber cool.

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd! Ich sag ja gar nichts. Aber das war schon echt abgefahren«, plapperte Daniel unbeirrt weiter.

»Das eine von den vier Dingern könnte ich vielleicht noch mal gebrauchen. Aber das nur nebenbei. Ich hätte da eine andere Frage. Kannst du mir vielleicht eine Knarre besorgen?«

Peter saß nun aufrecht im Bett und begann zu hyperventilieren.

»Sag mal, hat man dir ins Hirn geschissen? Was denkst du denn, wer ich bin? Al Capone?«

Daniel hakte sofort ein: »Nein, nein, es ist nicht so, wie du denkst. Ich habe dir doch erzählt, ich schreibe diesen Roman, einen Thriller. Ich will nur wissen, wie sich so ein Ding in der Hand anfühlt. Mehr nicht. Aber ich verstehe, ich komme lieber vorbei. Wegen Telefon und mithören, schon verstanden.«

So viel Ungeschicklichkeit am Telefon hatte Peter schon lange nicht mehr erlebt. Alle seine Kollegen sprachen nie offen am Telefon über irgendwelche Deals oder Drogen. Es gab subtile Redewendungen wie: »Kann ich vorbeikommen?« oder »Alles klar bei dir?« Peter versuchte, dieses Gespräch abzuwürgen oder zumindest umzubiegen.

»Okay Daniel. Komm morgen gegen Mittag vorbei, dann trinken wir einen Kaffee. Von den anderen Dingen weiß ich nichts. Was hast du denn so getrieben die letzten Tage?«

Daniel brauchte einen Moment, um die Botschaft zu erkennen. Er sagte verschwörerisch:

»Ist okay, ich komme vorbei. Weiß doch jeder, dass du ein sauberer Typ bist und keine krummen Geschäfte machst. Das mit der Waffe war nur eine blöde Idee, wegen meinem Buch und so. Was ich die Tage getrieben habe? Also, ich habe wieder angefangen zu rauchen. Dafür jogge ich jetzt jeden Tag. Hey, gestern war ich im Volkspark, da war so ein Opa. Ich saß auf der Bank und habe eine geraucht und dann hab ich die Kippe weggeschmissen. Was soll ich dir sagen? Der Opa hat eine riesige Welle gemacht wegen der Kippe und ich solle die aufheben. Der ist richtig in Fahrt gekommen mit seinem Gehstock.«

Peter war gelangweilt von der Story, aber er wollte nicht unhöflich sein.

»Und was hast du dann gemacht?«, fragte Peter eher gleichgültig, während der Paradiesvogel auf 3sat weitertanzte.

»Was ich gemacht habe? Ich habe dem Scheißkerl auf die Fresse gehauen. Ein rechter Haken und der Typ ist sofort schlafen gegangen. Dann hab ich ihm die Kippe in seine Hosentasche gesteckt und bin abgehauen.«

Peter stockte das Blut. Das war nicht der Daniel, den er kannte, der war ein netter Junge und immer höflich. Vielleicht war die Drogenerfahrung doch keine so gute Idee gewesen. Peter kannte Geschichten aus seinem Umfeld, wo die Leute nach einem LSD-Trip plötzlich ganz anders drauf waren. Sie sind hängen geblieben, wie man so sagte. Es gab Persönlichkeitsverschiebungen, hätten die Psychologen eher konstatiert. Wie auch immer, diesen Daniel kannte er nicht.

Peter versuchte, auf Daniel einzuwirken:

»Alter, das ist krass. Du musst aufpassen! Bisher kannte ich dich mit einem festen Job, einem Mädchen und absolut sauber. Du solltest langsamer an die Sachen rangehen, ich mach mir da echt Sorgen.«

Daniel spürte, dass Peter recht hatte, er ließ sich aber nichts anmerken und meinte:

»Papperlapapp. Alles nicht so schlimm, der Opa hat nur eine von mir gefangen. Ansonsten habe ich alles unter Kontrolle, ehrlich. Mach dir keine Sorgen, ich bin nur gerade etwas im Umbruch. Aber alles ist gut.

Keep cool! Weißt du noch? Das haben wir dir früher immer alle zugerufen in der Disco. Und du hast was gesagt? Na, was war das noch?«

Peter fühlte sich an alte Zeiten erinnert und antwortete emotionslos:

»I am Peter – the P stands for cool.«

Am anderen Ende fing Daniel sofort an, hemmungslos zu lachen. Für Peter hatte dieses Telefonat etwas Beängstigendes oder zumindest Verstörendes. Er wollte das Gespräch jetzt lieber beenden.

»Okay Daniel, ich hab da noch was zu tun. Wir sehen uns morgen bei mir, okay?«

Daniel antwortete: »Alles klar Mann.«

Dann legte Peter den Hörer auf, während der Paradiesvogel im Fernsehen mittlerweile bei seiner Braut zum Zuge gekommen war.

Das alles behagte Peter nicht und er fühlte sich irgendwie verantwortlich für Daniel. Er hatte mitbekommen, dass bei Daniel etwas aus den Fugen geraten war. Daher hatte der sich nach all den Jahren wieder gemeldet und wollte auf einmal Party machen, so wie in den alten Tagen. Aber die waren vorbei. Dann diese Geschichte mit den Drogen und nun dieses verrückte Telefonat. Es war gut, dass Peter Daniel für morgen zu sich bestellt hatte, denn dann würde er Daniel ein paar Takte erzählen können, er würde ihn warnen.

Mit diesem Gedanken beruhigte sich Peter. Er zündete sich eine Selbstgedrehte an, während im Fernsehen der Abspann zur Vogeldokumentation lief.

Tödliche Inspiration

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