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1.8 Das Christentum und seine eschatologische Ausrichtung
ОглавлениеDa die Annahme eines Jenseits Kernbestand nahezu jeder Religion ist, deren Wesen sozusagen kennzeichnet, stellt sich die Frage nach dem genuin christlichen Selbstverständnis über das, was nach dem Tod kommt und seine Bedeutung für den christlichen Glauben in seiner Gesamtheit.75 Hans-Jürg Braun hat in seinem Buch ›Das Jenseits‹76 unter religionsphänomenologischer Perspektive die unterschiedlichen Religionen und ihre Sichtweisen des Todes und des dadurch eröffneten Jenseits in den Blick genommen. Für das Christentum sieht er in Jesus einen Repräsentanten der Jenseitswelt.77 Er betont, Jesu Tod und »die wenig später erfolgende Auferstehung bilden einen Komplex, den man nicht auseinanderdividieren kann […]. Was in den Texten des NT angeboten ist, stellt keine biographische Berichterstattung, sondern eine Verkündigung, eine Predigt, eine religiöse Predigt dar, die sagt, dass Himmel und Erde, Jenseits und Diesseits, Gott und Mensch auf eine besondere, neue, revolutionierende Weise zusammenfinden.«78 Bemühungen, den rein irdischen Jesus von der allgegenwärtigen Präsenz des Osterglaubens aus den Evangelien herauszuarbeiten, müssen daher scheitern.79 Der auferstandene Christus ist Schlüssel zum Verständnis der Evangelien und schließlich Schlüssel zum Verständnis des Glaubens der Kirche, der darauf aufbaut. Die Bedeutung Jesu für das Christentum leitet sich vom Osterereignis und -geheimnis ab. Vor diesem Hintergrund erhellt sich auch die ursprüngliche Faszination und existentielle Betroffenheit seitens seiner Anhänger, für die das Auferstehungsgeheimnis Initiationspunkt eigener Verkündigung und Weitergabe dieses Ereignisses und damit ihrer Jesusnachfolge wurde.80 Die Auferstehung Jesu als Beantwortung der Frage nach dem eigenen Tod ist damit Kern des urchristlichen Kerygmas.81 Dante knüpft nach Braun an diese zentrale Perspektive des Christentums an : »Die Verwandtschaft zur Antike bleibt erkennbar, doch die Sinngebung erwächst aus dem Christentum. Das Motiv des Besuches bei den Toten und die unvergessliche Vision gehören in den Rahmen des Christlichen, wo dieser Übergang eines Lebenden in die Jenseitswelt zum ganz Außerordentlichen menschlicher Existenz zu rechnen ist«.82 Der christliche Auferstehungsglaube bildet also den Interpretationsrahmen für Dantes Göttliche Komödie, so wie diese ihm umgekehrt mit künstlerischer Gestaltungskraft Lebendigkeit und Anschauung verleiht. Das Diesseits benötigt so das Jenseits, um überhaupt verstanden zu werden, was Dante an seinem und anderer Menschen Lebensschicksal (auf der Erde und nach dem Tode) verdeutlicht : »Es geht ihm als Mensch um sein Leben im Hier und Jetzt, aber dies ist nur dann relevant, wenn ›sein‹ Jenseits hinzugehört. Ohne Jenseits wird sein Diesseits gestört sein, zerfallen […]. Alles, auch das scheinbar Bedeutungslose, ist jenseitig gerichtet bzw. entrinnt einer Begegnung mit Jenseitigem nicht.«83
In religionsphänomenologischer Hinsicht verweist die Frage nach dem Wesen und der Zukunft des Christentums auf seine Eschatologie. Die Perspektive des Jenseits ist daher mehr als nur unaufgebbarer Bestandteil des christlichen Glaubens, sie kennzeichnet sein Wesen (wie das Wesen aller Religion).84 So stellt sich die Frage, ob das Christentum sich den jeweiligen Herausforderungen der Zeit stellen kann, ohne den Verweis auf die eschatologische Vollendung bzw. den eschatologischen Vorbehalt ihrer Mühe und Antwortversuche auf drängende Fragen hervorzuheben. Braun selbst sieht das Christentum unserer Zeit vor diesem Hintergrund in der Pflicht.85
Die Kirche ist aufgefordert, neu die Fragen der Eschatologie in Lehre und Verkündigung wachzuhalten. Letztlich und entscheidend geht es dabei schließlich um die drängende Frage des Menschen nach dem eigenen Tod, um seine Angst vor dem Sterben.86 Der Anthropologe und Kulturwissenschaftler Constantin von Barloewen sieht im Umgang mit dem Tod kulturgeschichtlich geradezu das Charakteristikum des Menschseins. In der Frage nach dem Tod erweist sich der Mensch als ein auf Religiosität hingeordneter : »Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Toten beerdigt. Hierin verbirgt sich die Wurzel des Religiösen […]. In diesem Sinne ist das Werden des Menschen zum Sapiens ein Werden des religiösen Menschen, des religiosus.«87 Den Umgang mit dem Tod sieht er entsprechend als Indikator für das religiöse Empfinden des Menschen.88 Die Gegenwart zeichnet sich nach Barloewen dadurch aus, dass sie den Tod möglichst verdrängt : »Die moderne Gesellschaft hat den Menschen seines Todes beraubt und droht, ihn nur zurückzuerstatten, wenn der Tod nicht dazu dient, die Lebenden zu belästigen.«89 Krankheit rücke so durch den Fortschritt der Medizin an die Stelle des Todes, der aus dem Alltag ausgebürgert werde. Der Tod löse die Sexualität als größtes gesellschaftliches Tabu ab.90 Wenn die Metaphysik in der Gegenwart ihre Bedeutung verloren hat91, dann folgert er daraus als Konsequenz für die spezifische Sichtweise des Todes : »Die Moderne hat eine grundlegende Neuartigkeit der Sinngebung des Todes erfahren. Es gibt kein Todesbild mehr, das in einen Sinnentwurf von der Welt im Ganzen eingebettet wäre […]. Es ist bezeichnend, dass wir der These von der Unvorstellbarkeit des persönlichen Todes fast nur im Denken der Neuzeit begegnen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass früher allgemein verbindliche Jenseitsvorstellungen ihre Allgemeingültigkeit verloren haben […]. Heute erleben wir eine Zäsur, bei der durch die Diesseitigkeit an die Stelle der Todesangst die Sterbefurcht tritt.«92
Der christliche Glaube bietet dem Menschen nach wie vor die Hoffnung auf ein Jenseits an. Er verweist so auf eine zusätzliche Dimension seiner Existenz, die Raum und Zeit übersteigt, transzendiert. Das Verständnis dieser Dimension der Ewigkeit kennzeichnet den spezifischen Beitrag der Eschatologie als theologischer Disziplin im Dialog mit anderen Wissenschaften. Gemeinsam ist allen nach Erkenntnis Suchenden die menschliche Problematik des Bewusstseins der eigenen Endlichkeit bzw. des eigenen Sterbenmüssens. Die Auferstehung Jesu greift das Problem des Todes auf und bietet eine Lösung an. Die Voraussetzung der zentralen Erlösungsbotschaft des Neuen Testamentes ist also unmittelbar an das Eingeständnis der eigenen Endlichkeit gekoppelt und baut sozusagen auf der empfundenen, existentiellen Betroffenheit des Einzelnen auf. Die Annahme der Auferstehungsbotschaft und in Folge die Annahme der christlichen Eschatologie verlangen zunächst, die Ernsthaftigkeit des Todes in den Blick zu nehmen, für den dieser Glaube ein Interpretationsangebot darstellt, mit dem Anspruch, darin leben und sterben zu können.
Die Göttliche Komödie nimmt den Tod in den Blick, den Tod der Verstorbenen, denen Dante begegnet, aber auch seinen eigenen, der ihm ja noch bevorsteht und den er in seinem Werk geistig vorvollzieht. Die Erfahrung des Sterbenmüssens und des Todes ist Voraussetzung für alles, was uns in der Divina Commedia begegnet. Insofern ist das Werk Schlüssel zum Geheimnis des Todes. So wie der christliche Auferstehungsglaube die Problematik der eigenen Endlichkeit zu lösen sucht, so baut die Jenseitswanderung auf der Erfahrung irdischer Begrenztheit auf – letztlich verdichtet in der existentiellen Betroffenheit angesichts des eigenen Todes. Nicht zuletzt die Not der empfundenen Endlichkeit menschlichen Lebens ist damit Motivation für Dante, die DC zu verfassen und Motivation des Lesers, sich mit ihr zu beschäftigen.