Читать книгу Das Mündel des Apothekers - Stefan Thomma - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеNach dem »Prager Fenstersturz« begann am 23. Mai 1618 der Große Krieg, der erst wesentlich später als der »30-jährige Krieg« in die Geschichtsbücher einging. Kämpften anfangs noch Protestanten gegen Katholiken und standen sich die Landsknechte noch aus Überzeugung gegenüber, änderte sich das im Verlauf des Krieges. Nicht selten wechselten Söldner mehrmals die Seiten und kämpften für den, der mehr bezahlte.
Die entscheidende Kampfhandlung und die mit den meisten Opferzahlen in kürzester Zeit war wohl die Schlacht bei Nördlingen. Die protestantische und damals Freie Reichsstadt sympathisierte mit den Schweden zum Erhalt ihres gemeinsamen Glaubens.
Nach der Rückeroberung Regensburgs zogen die kaiserlich-bayerischen Truppen Richtung Nördlingen, um die Schweden endgültig aus Süddeutschland zu vertreiben. Mehrere Hundert Bürger unterstützten ihre Glaubensbrüder und trafen Vorkehrungen, um eine Belagerung der Stadt zu erschweren. Häuser und Hütten außerhalb der Stadtmauern wurden abgerissen, um den Angreifern die Deckung zu nehmen. Dunghaufen vor den Toren sollten die Geschosse abbremsen und die Feuergefahr dezimieren. Selbst die St. Emmeranskirche auf dem Friedhof wurde niedergebrannt und Grabsteine entfernt.
Hunger und Not der einfachen Bevölkerung bereits vor dem Krieg ist für uns moderne Menschen kaum vorstellbar. Die erwirtschafteten Mittel reichten in den wenigsten Familien aus, um alle zu ernähren. An den Erwerb von Kleidung und Alltagsgegenständen war kaum zu denken. Die marodierenden Söldnerheere zogen durch das Land und nahmen sich noch von dem, was ohnehin nicht ausgereicht hatte. Der Krieg ernährte den Krieg. Es wurde gebrandschatzt, geraubt, erpresst, geplündert, vergewaltigt und gemordet. Im Schlepp der Söldner zog der Tross, der oft größer war als das eigentliche Heer. Frauen begleiteten ihre Männer im nicht enden wollenden Krieg, gebaren ihre Kinder im Feldlager und zogen weiter von Schlachtfeld zu Schlachtfeld. Marketender1 belieferten die Kämpfer mit Alltagsgegenständen und Hübschlerinnen2 sorgten sich um Männer, die keine Frau hatten. Mit Krankheiten und Seuchen im Gepäck, infizierten sie die bereits ausgezehrten Menschen. Etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung überlebte dies nicht. In Nördlingen waren von 4.000 Einwohnern nur noch 800 übrig. Am 3. Februar 1635 fanden zeitgleich 25 Hochzeiten statt, da es nach der Belagerung eine große Zahl von Witwen gab. Unverheiratete wurden dazu genötigt, den Bund der Ehe einzugehen, um geschäftsfähig zu werden oder es zu bleiben. Im reformierten Glauben wurde die Ehe gestärkt und als von Gott gewolltes höchstes Gut gepredigt.
Frauen waren während dieser Zeit rechtlose und bevormundete Geschöpfe. Bis zu ihrer Heirat unterstanden sie dem Vater, der das Oberhaupt der Familie bildete. Danach war der Gatte ihr Vormund. Das Erbrecht war regional unterschiedlich geregelt. In den meisten Fällen konnten weibliche Nachkommen ohne ihren Ehemann keine Erbansprüche stellen, auch wenn es sich um Nachlässe ihrer eigenen Eltern handelte. Wie sich das Ganze im Adoptivfall verhalten hatte, lässt sich heute nur noch schwer nachvollziehen.
Allein der Beruf, und somit der Stand der Eltern, entschied über die Zukunft der in die Familie hineingeborenen Kinder. Die unterste Gesellschaftsschicht bildeten die Unehrenhaften. Das waren zum einen jene, die als unehrlich galten, wie Schäfer, Müller, Türmer3, Leineweber, und zum anderen Menschen, die Berufe ausübten, die mit Schmutz oder Tod in Berührung kamen, wie beispielsweise Henker, Abdecker, Bader, Totengräber, Prostituierte, Gassenkehrer oder Büttel. Als ebenso unehrenhaft galt das »fahrende Volk«. Hausierer und Schauspieler wurden nicht selten als »gott- und herrenloses Gesindel« beschimpft. Wer einmal unehrenhaft war, der blieb es sein Leben lang. Heiraten von Angehörigen unterschiedlicher Stände war zwar möglich, allerdings verlor der Bessergestellte dadurch seinen Stand. So heirateten Henker meist untereinander, weshalb sie sich auch gegenseitig »Vetter« nannten.
Da auch in größeren Städten wesentlich weniger hingerichtet wurde, als man vermuten könnte, übten Scharfrichter viele weitere Tätigkeiten für den täglichen Broterwerb aus. Sie leerten Abortgruben, waren für die Sauberkeit in der Stadt zuständig oder unterstützten bei Bedarf den Totengräber oder Abdecker. Der Verkauf von »Glücksbringern« in Form von abgetrennten Daumen eines erhängten Diebes oder von Seilstücken vom Galgen brachte so manchen Kreuzer in die Familienkasse. Ihre medizinischen Kenntnisse standen dem Fachwissen eines studierten Medicus oft nicht nach oder übertrafen diese sogar. Durch die Versorgung der gefolterten Delinquenten und das Sezieren von Gerichteten, woran kaum jemand Anstoß nahm, erlangten sie ihre heilerischen Fähigkeiten.
Betäubungsmittel im heutigen Sinne gab es nicht. Es soll sogenannte »Schlafschwämme« gegeben haben, eine Mixtur aus verschiedenen Kräutern, die auf einen Schwamm oder ein Tuch geträufelt wurden. Allerdings war die Dosierung äußerst schwierig und führte nicht selten zum Tod. Als Pflanzen zur Herstellung werden oft Bilsenkraut, Stechapfel, Tollkirsche und Alraunwurzel genannt. Letztere wuchsen laut Aberglauben am besten auf dem Schindanger direkt unter dem Galgen. Genährt von Blut, Sperma und Exkrementen der Gehängten, würden sie prächtig gedeihen.
Der Aberglaube der unwissenden Bevölkerung war so weit verbreitet wie der christliche Glaube selbst. Alles, was nicht rational erklärt werden konnte, wurde dem Teufel zugeschoben und musste Hexerei sein. Nahm sich jemand selbst das Leben, wurde er automatisch zu einem Wiedergänger. Dieser könne, wenn er auferstanden war, allein durch Berührung Menschen töten. Selbstmörder wurden geköpft, mit Gesicht und Bauch nach unten begraben, damit die schädigenden Kräfte ins Erdinnere abgeleitet wurden und so keinen Schaden anrichten konnten. Teilweise wird berichtet, dass Pfähle durch die toten Körper getrieben wurden, um ein späteres Auferstehen zu verhindern. Ein Dornengestrüpp erfüllte aber in der Regel auch diesen Zweck.
1 Ein Marketender begleitet und versorgt Soldaten und Truppen mit Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs.
2 Früherer Name für Prostituierte.
3 Turmwächter.