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Kapitel 2

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Mit einem gewaltigen Knall schlugen die ersten Kanonenkugeln der kaiserlichen Truppen in der Stadtmauer ein. Mütter zerrten ihre Kinder nach Hause und verbarrikadierten sich. Jeder wehrfähige Bürger war in Alarmbereitschaft oder bereits auf dem Wehrgang. In einer nächtlichen Aktion gelang es den kaiserlichen Truppen, die Eger umzuleiten. Die Kornmühle stand dadurch still und Brände konnten nur noch schwer gelöscht werden.

Nachdem Katharina mit Hilfe von Simon einige Fässer mit Wasser befüllt hatte, eilten sie ins Gerberviertel, um ihrer Freundin, der Hebamme Holzinger, zu helfen.

»Wir müssen uns beeilen!«, trieb Mühlbichler sie an. »Es ist nur noch ein klägliches Rinnsal im Flussbett.«

»Ja, und die Leute wühlen den ganzen Dreck auf beim Abschöpfen. Hoffentlich ist das Wasser noch genießbar, bis wir bei Mathilda sind.«

»Die Felder außerhalb der Stadt sind auch komplett verwüstet. Überall sieht man Laufgräben und Geschützstellungen.«

»Glaubst du, die Tore halten den Geschützen stand?«

»Die Schweden haben direkt vor die Stadteingänge Hügel aus Erde und Kuhmist aufgeschüttet. Das soll die Geschosse so weit abbremsen, dass sie keinen Schaden mehr anrichten.«

»Auf Ideen kommen die«, staunte Katharina.

Das Gerberviertel hatte wesentlich stärker unter den Angriffen gelitten als die Mitte der Stadt. Mathilda lief schimpfend um ihre kleine Kate7.

»Schaut nur!«, rief sie zu Simon und Katharina, »die haben mir doch glatt ein Loch ins Dach geschossen. Na, denen werde ich jetzt helfen. Auf alte Weiber mit Kanonen schießen.«

»Was hast du vor, Mathilda?«, fragte Katharina.

»Den katholischen Herren da draußen werde ich jetzt ein leckeres Süppchen kochen!« Achselzuckend sahen sich Simon und Katharina an. Über Mathildas Feuer hing ein Kessel, in dem eine Mischung aus Harz, Öl und Tierfett brodelte.

»Kommt her und helft mir!« Gemeinsam schleppten sie den schweren Kessel die Treppe zum Wehrgang hinauf. Frauen warfen mit Steinen nach den Belagerern, die mit Sturmleitern versuchten, die Stadtmauer zu überwinden.

»Macht mal Platz für ein schweres Geschütz!«, bat Mathilda die Steinewerferinnen. Nachdem sie den Kessel abgestellt hatten, rief die Hebamme zu den Angreifern: »Seht mal her, ihr Hübschen!«, und walkte ihre großen Brüste unter ihrem Kleid. »Schaut es euch genau an! Ihr werdet es nur einmal sehen!«, spottete sie und kippte den Inhalt des Kessels auf die Soldaten hinab. Brüllend vor Schmerz wälzten sich die Getroffenen auf dem aufgeschütteten Dunghaufen. »Und das ist für das Loch in meinem Hausdach«, schimpfte sie weiter und schleuderte einen faustgroßen Stein hinunter. Sie traf einen Soldaten am Brustbein, der atemringend zusammenbrach. »Kommt, wir machen noch mal eine Mischung an«, lachte Mathilda und stapfte mit ihrem Kessel die Treppe hinab.

»Was ist los mit dir, Mathilda?«, fragte Katharina besorgt, als sich die Hebamme, geplagt von Schwindel, am Türstock festhielt.

»Es geht bestimmt gleich wieder«, beschwichtigte sie. »Ich bin schließlich keine zwanzig mehr. Der Kessel war mir wohl zu schwer.« Mathilda tropfte der Schweiß von den Haaren, die unter ihrer Haube herauslugten.

»Du bist blass, als hättest du dich übergeben! Leg dich lieber etwas hin.« Simon reichte ihr einen Becher Wasser, den sie in einem Zug austrank.

Katharina wischte mit einem Tuch den Schweiß von ihrer Stirn. Erschrocken zog sie die Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Du hast ja Fieber! Und was ist das für eine Schwellung an deinem Hals?«

»Mir geht es seit heute Morgen schon nicht so gut.«

Ein junges Mädchen stürmte in die Kate, dass alle drei erschrocken hochfuhren.

»Wir brauchen eine Hebamme! Dringend!«, rief sie.

»Bist du nicht die Kleine vom Bäcker aus der Judengasse?«, fragte Katharina.

»Ja. Meine Mutter liegt seit gestern Nacht in den Wehen.«

»Seit gestern Nacht? Und warum braucht ihr dann erst jetzt eine Hebamme?«

»Der alte Geizkragen wollte sich bestimmt wieder meinen Lohn sparen!«, krächzte Mathilda. Das Mädchen blickte beschämt zu Boden und stocherte mit ihren nackten Füßen in den Binsen. »Sag ihnen, ich mach mich gleich auf den Weg.«

»In deinem Zustand kannst du unmöglich dort hin!«, schimpfte Katharina.

»Dann wirst du das erste Mal allein ein Kind auf die Welt begleiten.«

»Ich?«, entrüstete sich das Apothekermündel. »Ich bin doch keine Hebamme. Ich hab dir zwar schon öfter mal geholfen, aber allein kann ich das nicht!«

»Wenn ihr meiner Mutter nicht helfen wollt, wird sie sterben«, schluchzte das Mädchen.

»Und was wird aus dir?«, fragte Katharina die Hebamme.

»Keine Angst, ich hab schon Schlimmeres mitgemacht. Und Simon ist ja auch noch da.«

»Er wird den Bader für dich holen! Versprich mir das!«

»Ja, und jetzt verschwindet, bevor es zu spät ist.«

»Dann musst du mir aber zur Hand gehen!« Die Bäckerstochter nickte eifrig.

»Und wenn es die Kaiserlichen zu bunt treiben, werde ich ihnen ordentlich den Hintern versohlen«, kicherte die Hebamme.

Gebückt, als könnten sie sich somit vor den kaiserlichen Kanonen schützen, huschten die beiden durch die Straßen. Gesteinsbrocken der geborstenen Mauern erschwerten ihr Vorankommen. Mehrfach erschraken sie, wenn weitere Einschläge der Geschütze zu hören waren. In den Gassen saßen Bauern und Handwerker aus den umliegenden Dörfern, die vor den Soldaten in die Stadt geflüchtet waren. Schon wenige Tage nach der Belagerung Nördlingens waren ihre Vorräte aufgebraucht. Hunger war jetzt ihr ständiger Begleiter.

Der Bader Nepomuk Fromme sägte vor der Baderstube einem verletzten Soldaten ein Bein ab. Dieser wurde von den Schmerzen bewusstlos und bekam von all dem nichts mehr mit. Frommes Bademägde versorgten die Verwundeten im überfüllten Haus.

»Zunächst brauche ich heißes Wasser und Leinenstreifen«, wies das junge Apothekermündel die umherstehenden Frauen an. Die nassgeschwitzte Bäckerin war geschwächt und stöhnte. Die Tochter hielt ihre Hand und wischte den Schweiß von der Stirn ihrer Mutter. Nachdem Katharina den Bauch der Gebärenden abgetastet hatte, erklärte sie:

»Das Kind liegt falsch herum. Aber ich hab Mathilda schon mal zugeschaut, wie sie das im Leib gedreht hat.«

»Sie hat schon mal zugeschaut«, wiederholte Heidrun, die Base der Bäckerin, abwertend. »Ich hab’s ja gleich gesagt, dass ein so junges Ding keine Ahnung hat.«

Katharina schmierte sich die Hände mit Gänsefett ein und ertastete die Lage des Kindes. Mit Hilfe eines Stockes führte sie eine Schnur ein und befestigte eine Schlinge um ein Beinchen des Ungeborenen. So sollte die Steißlage aufgehoben und das Kind mit den Beinen voran das Licht der Welt erblicken.

»So, und jetzt pressen!«, forderte Katharina die sichtlich geschwächte Frau auf, während sie sanft an der Schur zog. Sie bekam das Beinchen zu fassen.

»Gleich habt Ihr es geschafft.« Mit letzten Kräften bäumte sich die Bäckerin noch einmal auf.

Die Anwesenden starrten auf das Neugeborene. Das Gesicht war blau angelaufen. Der Körper leblos. Katharina tätschelte seine Wange und gab ihm mehrmals einen Klapps auf den Hintern. Vergebens.

»Bäckerin, Euer Kind … es atmet nicht. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals gewickelt und es erstickt«, berichtete ihr Katharina voller Mitgefühl.

»Kindsmörderin!«, schrie Heidrun.

»Hätte ich nicht geholfen, wären jetzt beide tot«, versuchte sie sich zu rechtfertigen.

»Du hast dem Kind beim Drehen im Leib die Nabelschnur um den Hals gewickelt. Hexe!«

»Ich bin mir sicher, sie hat ihr Möglichstes getan«, beschwichtigte die Wöchnerin. »Hab Dank für deine Hilfe.«

»Nein, nein! So einfach kommst du mir nicht davon, Kindsmörderin! Scher dich raus hier! Du wirst noch von mir hören!«, prophezeite ihr Heidrun.

*

Aufgewühlt und den Tränen nahe schlich sie in die Offizin, um einige Heilkräuter und etwas zu essen für Mathilda herzurichten. Als sich Katharina an diesem Tag erneut davonschleichen wollte, versperrte ihr der Stiefvater den Weg.

»Nein, du bleibst hier! Deine Hebamme muss ab jetzt ohne dich zurechtkommen. In den Straßen wimmelt es vor Pestilenz- und Ruhrkranken8. Der Totengräber bekam vom Rat die Anweisung, die eisenbeschlagenen Räder vom Leichenkarren mit Filz zu umwickeln, weil die Bürger fast durchdrehen, wenn sie das ratternde Geräusch ständig hören müssen.«

»So viele sind schon gestorben?«, fragte Katharina entsetzt. Benedikt nickte nur betroffen.

»Die meisten Bürger hassen uns, weil wir uns das tägliche Brot noch leisten können. Vier Gulden verlangen die mittlerweile für einen Laib! Nur wenige können sich das noch leisten.«

»Ich kann nicht einfach zuschauen, wie Mathilda stirbt. Sie hat doch sonst niemanden.«

»Sei vernünftig. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die kaiserlichen Truppen über unsere Stadt herfallen. Dann Gnade uns Gott! Gestern gelang es ihnen, in den beschädigten Deininger Turm einzudringen und auf unsere Männer zu schießen. Die letzte Chance war, den Turm anzuzünden und die Angreifer auszuräuchern.« Dass die halb verhungerten Nördlinger die verkohlten Leichen aßen, verschwieg er ihr vorsichtshalber.

»Was ist da draußen los?«, wunderte sich Katharina und öffnete die Türe der Offizin.

»Habt ihr es schon gehört?«, fragte der Pastor Widmann.

»Was gehört?«

»Einige unserer Männer haben heute Nacht die Eger wieder in die Stadt geleitet. Die Mühle arbeitet also wieder. Und sie erbeuteten sogar haufenweise Lebensmittel von den Kaiserlichen. Deshalb feiern wir jetzt einen Dankgottesdienst. Wir haben gesiegt!«

»Das ist ja wundervoll«, freute sich Katharina und blickte zu ihrem Stiefvater, der ebenfalls erleichtert war.

Die Glocken vom Daniel läuteten, bis sich die St. Georgskirche bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. Freude und Erleichterung war in den Gesichtern der Nördlinger zu sehen. Selbst verfeindete Nachbarn schenkten sich ein Lächeln.

Kurz nachdem Pastor Widmann mit der Messe begonnen hatte, stürmte der Bürgermeister in die Kirche. Die Gläubigen drehten neugierig ihre Köpfe Richtung Haupteingang. Widmann stockte in seinem Satz. Die Schuhe des Stadtoberhaupts klopften bei jedem Schritt auf den Steinboden, bis er in der Mitte stehen blieb.

»Ich weiß nicht, wer das Gerücht des Sieges in die Welt gesetzt hat, aber es ist nicht wahr! Die kaiserlichen Truppen haben das lang erwartete Heer vernichtend geschlagen. Man sagte mir, dass wohl mehr als 12.000 schwedische Soldaten nicht mit dem Leben davongekommen und über 4.000 in Gefangenschaft geraten sind. Die davonlaufenden Schweden wurden von der kaiserlichen Reiterei verfolgt und getötet.«

»Das ist eine Lüge!«, schrie einer.

»Die Kaiserlichen haben doch gar keine Munition mehr!«, brüllte ein anderer. Ein lautes Stimmengewirr entstand. Bürgermeister Schillinger bestieg die Kanzel, um sich Gehör zu verschaffen.

»Die kaiserlichen Truppen sind bereits auf dem Rückweg. Wir werden spätestens morgen die bedingungslose Kapitulation unterzeichnen müssen. Geht nach Hause und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Versteckt oder vergrabt alles, was von Wert ist!«

7 Hütte, einfaches Haus.

8 Die Ruhr: Schwere Durchfallerkrankung, oft mit blutigem Stuhl.

Das Mündel des Apothekers

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