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Kapitel 1

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Nördlingen, 9. Juli Anno Domini 1634 14 Jahre später.

Ein heißer Luftschwall blies Katharina ihre strohblonden Locken ins Gesicht, als sie die Türe des Schulhauses öffnete und ins Freie hinaustrat. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits erreicht und verwandelte die Freie Reichsstadt in einen Backofen. Schon um 5 Uhr begann der Unterricht, als es noch kühl und der Gestank in den Gassen erträglich war. Der Stadtrat hatte zwar einige Verbote erlassen, doch es wurden nach wie vor die Inhalte der Nachtpfannen in den Gassen entleert und verendete Tiere mussten oft tagelang auf ihre Abholung warten.

»Psst«, vernahm sie von der Seite.

»Simon? Hast du etwa auf mich gewartet?«

»Ja, ähm, ich wollte dich fragen, ob wir nicht später zur Eger … ich meine, ob wir uns nicht abkühlen sollten bei der Hitze«, stotterte Simon Mühlbichler mit hochrotem Kopf. Der sonst recht redegewandte Junge brachte gegenüber Katharina kaum einen ganzen Satz über die Lippen. Seit Wochen hatte er sich vorgenommen, das hübsche Apothekermündel anzusprechen, hatte es aber im letzten Moment immer wieder verschoben, weil er sich fürchtete, eine Abfuhr von ihr zu bekommen.

»Mein Stiefvater ist am frühen Nachmittag meistens beim Bader, um Heilmittel auszuliefern. Da könnte ich mich eine Weile davonschleichen.«

Sichtlich erleichtert stapfte der Zimmermannssohn neben seiner Angebeteten über das bucklige Kopfsteinpflaster, als sich ihnen hinter der nächsten Hausecke vier Halbwüchsige in den Weg stellten.

»Na, was haben wir denn hier für ein hübsches Paar«, spottete ihr Rädelsführer. Katharina kannte ihn. Es war der Kaufmannssohn Wilhelm Hofmeister. Seine Eltern gehörten zu den reichsten Patriziern in der Stadt. Mit seinem feuerroten Haarschopf und der blassen Haut wirkte er kränklich, war aber von kräftiger Statur. Im Gesicht wuchs ihm nur ein leichter roter Haarflaum, obwohl er einige Jahre älter war als Katharina und Simon. In seiner Handfläche zappelte eine einbeinige Spinne und kämpfte gegen ihren bevorstehenden Tod an.

»Die schöne Apothekerstochter und das hässliche Holzwürmchen. Weiß dein Vater, dass du dich mit bettelarmen Handwerkern herumtreibst, die sich nicht mal eine ordentliche Kleidung leisten können?«

»Das geht dich nichts an. Lasst uns in Frieden!«

Wilhelm trat einige Schritte auf Simon zu, packte ihn an seinem Hemdkragen und kam ihm dabei so nahe, dass sich ihre Nasen fast berührten.

»Pass auf, was du tust, Holzwürmchen. Such dir das Weibsvolk unter deinesgleichen aus. Hast du mich verstanden? Und jetzt verschwinde, bevor wir dich windelweich prügeln.«

»Hört sofort auf damit!«, schrie Katharina und stürmte auf Wilhelm zu. Sie ergriff seinen Arm, der noch immer Simons Hemdkragen zuschnürte, und biss mit aller Kraft in sein blasses Fleisch. Sofort ließ er von Simon ab, sprang einen Schritt zurück und brüllte laut auf:

»Ah! Du elendes Miststück! Da meint man es gut mit euch Weibern und das ist dann der Dank dafür! In der Hölle sollst du schmoren! Los, kommt! Soll sie doch mit Bettlern ihr Nachtlager teilen!«, schimpfte er und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.

»Geht es dir gut, Simon?«

»Geht schon wieder. Der Kerl hätte mir die Kragenweite beinahe auf null gestellt. Sollen wir trotzdem noch zur Eger heute?«

»Gerne, ist ja keinem etwas passiert. Mit Mädchen in meinem Alter komme ich ohnehin nicht klar. Die sind neidisch, weil ich als Einzige auf die Lateinschule darf.«

»Das hat bestimmt dein Stiefvater eingefädelt, weil er im Rat sitzt. Stimmt’s?« Katharina nickte und strich sich ihre Haarsträhne hinter das Ohr.

»Am Baldiger Tor ist links ein kleines Waldstück. Da ist der beste Platz. Beim schiefen Baum. Ich werde auf dich warten«, versprach er und lief nach Hause.

Wie Katharina geahnt hatte, packte Apotheker Riesinger nach dem Mittagessen einige Kräuter und Heilmittel in einen Korb.

»Ich bin eine Weile außer Haus. Der Bader Fromme erwartet dringend meine Lieferung.« Katharina wusste genau, dass es ihm nicht um die Lieferung ging. Dazu hätte er auch sie schicken können. Vielmehr sehnte er sich nach einer Unterhaltung unter Fachleuten, und beim Bader traf man eben diesen und jenen.

Kaum war Benedikt Riesinger außer Sichtweite, schlich sich das Apothekermündel aus dem Haus. Als sie die Stadt am Baldiger Tor verlassen hatte, blickte sie sich mehrfach um und fand schnell die Stelle, die Simon ihr beschrieben hatte. Doch sie war allein.

Hat Mühlbichler kalte Füße bekommen nach dem Zusammentreffen mit Wilhelm?

»Psst, hier oben!« Über sich sah sie Simon aus dem Fensterausschnitt eines Baumhauses auf sie herabschauen. Seine Gesichtszüge erhellten sich, als ihre Blicke sich trafen. Mit ein paar gekonnten Schwüngen hangelte er sich vom Baum.

»Schön, dass du da bist, Katharina. Das Wasser ist so herrlich erfrischend, lass uns gleich hineinspringen.«

»Ich setze mich nur ans Ufer und kühle meine Beine ab.«

»Wie? Bist du wasserscheu?«

»Ich kann nicht schwimmen! Ist deine Neugierde jetzt befriedigt?«

»Das tut mir leid, aber warum kannst du nicht schwimmen? Jeder kann das.«

»Ich glaube, es war ein Fehler, hierherzukommen.«

»Na, wenn das kein Zufall ist«, spottete Wilhelm Hofmeister, der diesmal ohne seine Freunde durch das Gebüsch schlüpfte. »Und wieder in so reizender Begleitung.«

»Himmelherrgott, was willst du ständig von uns? Wer bist du? Ein Büttel? Der Bürgermeister oder der Pastor?«, fragte Katharina wütend.

»Hör auf zu fluchen und halt dein vorlautes Maul, Weib!«, schrie Wilhelm. Er bückte sich, riss einige kniehohe Brennnesseln aus dem Unterholz und peitschte damit auf Simons Rücken ein.

»Und du verkaufst mich wohl für blöd! Das ist meine letzte Warnung!«

»Bist du von Sinnen? Hör sofort auf damit!«, schrie Katharina und stürzte sich auf Wilhelm. Es entstand ein wildes Handgemenge. Gemeinsam überwältigten sie Hofmeister und warfen ihn in die Eger. Die Strömung trieb ihn rasch einige Meter flussabwärts.

»Das werdet ihr mir noch büßen!«, schrie der Kaufmannssohn und ruderte heftig mit den Armen. Simon und Katharina mussten unweigerlich lachen. Als sie sich etwas beruhigt hatten, strich sie ihm über den Rücken.

»Das sieht böse aus. Gib mir dein Hemd.« Sie tauchte es in den Fluss und legte Simon das tropfnasse Stück Stoff über die Schultern.

»Das tut gut, danke!«

»Ich muss wieder nach Hause. Wenn mein Stiefvater vor mir zurück ist, gibt es mächtigen Ärger.« Katharina drückte seine Hand und verschwand im Unterholz.

Kaum hatte sie die Türe zur Offizin hinter sich geschlossen, kam ihr Stiefvater nach Hause.

»Wo steckst du denn schon wieder, Katharina«, rief die Haushälterin. »Dachte ich’s mir doch. Kind, du sollst lernen, wie man einen Haushalt führt, anstatt dich für Kräuter und Salben zu interessieren!«

Katharinas Interesse lag mehr an den Heilmitteln und den Geheimnissen der Medizin als an Putzen und Kochen. In der Offizin ihres Stiefvaters herrschte akribische Ordnung, was nicht zuletzt auch Katharinas Verdienst war. In den Regalen aus gewachstem Nussbaumholz standen irdene Töpfe und Glasbehälter sorgfältig aufgereiht und mit deren Inhalt beschriftet. An der Decke hingen Sträuße von Kräutern und Heilpflanzen zum Trocknen, bis sie weiterverarbeitet werden konnten. Der massive Verkaufstresen, auf dem eine Waage und verschiedene Mörser bereitstanden, war noch von Benedikts Eltern, die das Geschäft aufbauten. Die Riesingers hatten in den letzten Jahrzehnten durch den Handel mit Barchent und anderen Tuchwaren einen stattlichen Reichtum erwirtschaftet. Benedikt schwenkte dann auf den Verkauf von Heilmitteln um, als die Pfingstmesse in Nördlingen immer mehr an Bedeutung verlor.

»Elfriede hat recht«, mischte sich jetzt auch ihr Stiefvater ein. »Du wirst schon bald heiraten und Kinder bekommen, da nützt dir das Apothekerwissen nichts. Dein Mann wird für euch sorgen.« Entsetzt blickte Katharina zwischen Elfriede und Benedikt hin und her.

»Herrgott, ich will aber nicht heiraten, vor allem wüste ich ja nicht mal, wen.«

»Hör auf zu fluchen! Und das lass mal meine Sorge sein. Ich finde schon den Richtigen für dich.«

»Ihr wollt mich verschachern wie ein Stück Vieh?«

»Katharina, es ist doch nur zu deinem Besten«, erklärte ihr Stiefvater. »Merkst du denn nicht, wie die Kerle, allen voran dieser Zimmermannssohn Mühlbichler, dir hinterherstellen wie brunftige Hirsche? Ich kann dich nicht ewig vor Übergriffen schützen.«

Ohne ein weiteres Wort rannte Katharina aus dem Apothekerhaus. Schnellen Schrittes marschierte sie in nordwestlicher Richtung durch die Stadt. Dicke Wolken schoben sich vor die Sonne. Der auffrischende Wind blies Katharina den Straßenstaub in die Augen. Beim Brot- und Tanzhaus kam ihr Mühlbichlers jüngerer Bruder entgegen.

»Michel, lauf schnell zu Simon und sag ihm, ich muss ihn dringend sprechen. Ich warte am schiefen Baum auf ihn«, bat Katharina den Dreikäsehoch und verließ die Stadt am Baldiger Tor.

»Ist der Teufel hinter dir her, Mädchen?«, lachte ein Wachmann und seine Kameraden pfiffen ihr hinterher. Vor der Brücke, unter der die Eger floss, bog sie links zum bewaldeten Flussufer ab. Einen Steinwurf entfernt, verdeckt durch Büsche und Sträucher, stand der schiefe Baum. Die Baumkrone der Weide ragte fast bis zur Mitte des Flusslaufs. Zusammengekauert saß sie in einer Ecke des Baumhauses und wickelte sich in eine löchrige Decke. Regen setzte ein. Dicke Tropfen klatschten auf das Laub der Bäume und in den Fluss.

»Was ist denn passiert?«, fragte Mühlbichler außer Atem. Katharina erzählte, was ihr Stiefvater vorhatte.

»Der Tag musste ja irgendwann mal kommen. Weißt du denn schon, wer der Glückliche sein wird?«

»Nein, aber allein die Tatsache, dass ich heiraten soll, ist schon schlimm genug. Somit platzt auch mein großer Traum, die erste studierte Ärztin von Nördlingen zu werden.«

»Du willst Medizinerin werden? Keine Universität dieser Welt lässt ein Weib studieren!«

»Da irrst du, mein Lieber. An der Medizinschule von Salerno sind auch Frauen zugelassen.«

»Ach, daher warst du erst beim Stadtmedicus. Zuerst dachte ich, du wärst krank.«

»Du spionierst mir nach?«

Simon wurde rot und senkte seinen Blick.

»Nun ja. Du bist kein Mädchen, das man als Junge einfach so anspricht. Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte, und bin dir gefolgt.«

»Hm. Ja, ich war dort. Aber auch das erste und letzte Mal.«

»Warum? Was ist denn passiert?«

»Ach, dieser aufgeblasene Neunmalklug. … ›Das Gehirn eines Weibes ist nicht in der Lage, die komplexen Abläufe im menschlichen Körper zu erfassen. Denn das weibliche Gehirn ist erwiesenermaßen kleiner als das des Mannes …‹ Eine Unverschämtheit war das.«

»Schließt die Tore! Wir werden angegriffen!«, rief ein Wachmann.

»Was zum Teufel ist da draußen los?«, fragte Simon, während er und Katharina durch den kleinen Fensterausschnitt auf das Baldiger Tor blickten. Regungslos beobachteten sie, wie berittene Soldaten mit Hellebarden6 und Schlachtschwertern die Egerbrücke überquerten.

»Warum verriegeln die das Tor nicht? Mein Gott, das sind ja Hunderte«, stellte Katharina fest. Die Wachen schafften es nicht mehr rechtzeitig, das Tor zu schließen. Die ersten Soldaten waren schon auf der anderen Seite der Stadtmauer.

Als die beiden ans Baldiger Tor schlichen, wunderten sie sich, dass es immer noch offen stand. Auch von kriegerischen Handlungen war nichts zu hören. Stattdessen waren Männer damit beschäftigt, einen Erdhügel aufzuschütten, um die Brücken vor den Toren zu blockieren.

»Was waren das für Soldaten?«, fragte Katharina den Wachmann am Tor.

»Schwedische Kämpfer, die uns helfen, die kaiserlichen Truppen zu vertreiben. Es wird nicht mehr lange dauern und die Katholischen werden uns belagern. Seht ihr die Häuser vor den Stadttoren? Die werden heute alle noch abgerissen, damit die kaiserlichen Truppen keine Deckung haben. Selbst die St. Emmeranskirche auf dem Totenhügel wird heute noch niedergebrannt. Macht lieber, dass ihr heimkommt.«

Entsetzt blickten Simon und Katharina sich an.

»Ich bringe dich nach Hause«, flüsterte Mühlbichler und legte seinen Arm um sie.

Bürger rannten besorgt durch die Straßen und verschwanden in ihren Häusern. Ein Bub zerrte ein quiekendes Schwein in den Stall. Manch einer vernagelte die Fenster oder verbarrikadierte die Haustüre.

Katharina und Simon schauten verwundert, als sie Soldaten vor der Apotheke sahen.

*

Kopfschüttelnd kontrollierte Riesinger währenddessen die langen Zahlenkolonnen in seinen Geschäftsbüchern.

»Da stimmt doch etwas nicht!« Die Haushälterin stürmte mit ihrem Wäschekorb ins Haus, dass die Türe, vom Wind angetrieben, ins Schloss knallte. Riesinger erschrak und zuckte zusammen.

»Herrgott, Elfriede! Jetzt kann ich von vorn anfangen!«

»Irgendetwas scheint in der Stadt los zu sein«, berichtete sie außer Atem.

»Was wird schon los sein? Anderen wird der Wind auch Türen und Fensterläden zuschlagen.« Im selben Augenblick stürmten Soldaten in die Offizin. Die Eingangstüre krachte gegen die Wand, dass ein Stück Putz herausbrach und auf den Dielenboden bröselte.

»Einquartierung!«, rief der Stadthauptmann Stracke.

»Wie bitte?«, erwiderte der Apotheker entgeistert.

»Wir haben 500 schwedische Soldaten zu versorgen. Diese sind unter der Führung von Oberstleutnant Deubitz in die Stadt eingezogen. Ich selbst habe das Kommando über 600 Nördlinger Bürger. Habt Ihr nicht gesehen, dass an allen Ecken und Enden Vorbereitungen auf einen Angriff der kaiserlichen Truppen laufen?«

»Ähm, nein.«

»Wie Ihr wisst, sind die schwedischen Besatzer Protestanten wie wir. In Regensburg konnten sie die kaiserlich-bayerischen Truppen nicht mehr aufhalten. Vor vier Tagen wurde die Stadt Regensburg übergeben und wir sollen das nächste Ziel sein. Um weiterhin evangelisch zu bleiben, mussten wir die Hilfe von unseren schwedischen Freunden, Feldmarschall Horn und Herzog Bernhard, annehmen. Erste Dörfer im Ries wurden von den Katholischen bereits geplündert.«

»Und warum erfahre ich das als Ratsmitglied erst jetzt? Wir sollen uns gegen Tausende Kaiserliche stellen?«, entgegnete Riesinger.

»Ich führe nur die Befehle aus! Unsere Stadt ist nahezu uneinnehmbar. Vergesst das nicht. Und in einigen Tagen erwarten wir 25.000 Mann zur Verstärkung. Das sollte wohl reichen, werter Herr Apotheker. Ihr werdet zwei Offiziere bei Euch aufnehmen!« Nachdem ihn der Apotheker nur anstarrte, fuhr er fort: »Ich kann bei Euch auch vier verlauste einfache Soldaten einquartieren, wenn Euch das lieber ist.«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Sie sollen hereinkommen. Meine Haushälterin wird ihnen ihre Unterkunft zeigen.«

Elfriede führte die Soldaten die Treppe hinauf, während Katharina und Simon die Offizin betraten.

»Ah, der junge Mühlbichler hat unsere Tochter ausgeführt«, spottete der Apotheker. Seine Augen formten sich zu schmalen Schlitzen und musterten den Burschen.

»Für dich ist es besser, du gehst jetzt. Und lass die Finger von Katharina!«

»Aber er hat doch niemandem was getan. Im Gegenteil, er hat mich beschützt.«

»Ich denke, wir haben uns verstanden.«

Die junge Frau ballte ihre Fäuste, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

6 Speerartige Stoß- und Hiebwaffe im späten Mittelalter, die aus einem langen Stiel mit axtförmiger Klinge und scharfer Spitze besteht.

Das Mündel des Apothekers

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